Sturz von Repräsentantenhaus-Sprecher Kevin McCarthy - Auftakt zu einem gnadenlosen Wahlkampf

Der Sturz von Kevin McCarthy, dem Sprecher des Repräsentantenhauses, wird zu Recht als historisches Ereignis gewertet, das in der amerikanischen Parlamentsgeschichte keinen Vergleich hat. Für die Funktionalität dieser Kammer des Kongresses verheißt das Ereignis nichts Gutes.

Abgewählter Sprecher des Repräsentantenhauses: Kevin McCarthy / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ronald D. Gerste ist Historiker, Publizist und Augenarzt. Er lebt in der Nähe von Washington, D.C.

So erreichen Sie Ronald D. Gerste:

Anzeige

Der Begriff „Speaker“ scheint ein Understatement zu sein, wie man es im einstigen Mutterland der USA, in England, so liebt: Der Sprecher des Repräsentantenhauses in Washington – es waren bislang 117 Sprecher und mit der Demokratin Nancy Pelosi nur eine Sprecherin – muss eigentlich selbst keineswegs verbal sehr aktiv sein und kann das Sprechen und Reden getrost anderen überlassen.

Rein theoretisch ließe sich die Mehrheitsfraktion in dieser Kammer auch überwiegend schweigsam führen; umso mehr, da er auch keineswegs die Debatten dort im Sinne eines Parlamentspräsidenten leiten muss, sondern deren Vorsitz in aller Regel bestimmt. Der Sprecher muss nicht einmal selbst ein Abgeordneter sein, was in der derzeitigen Situation bei liberalen Medien die Schreckensvision auslöste, Donald Trump könne sich um den Posten bewerben.  

Doch die Bedeutung dieses legislativen Amtes liegt auch in der Nähe zur exekutiven Macht: Der Speaker steht in der Nachfolge des Präsidenten, sollte diesem etwas zustoßen, an zweiter Stelle – hinter dem Vizepräsidenten. Bei einem Ereignis, das Präsident und Vizepräsident amtsunfähig machen würde, rückt der Sprecher automatisch nach – eine Abfolge, die es in dieser Dramatik noch nicht in der Realität, sondern eher in Thrillern wie „White House Down“ gegeben hat. 

Im Parlament herrscht eine tiefe Unversöhnlichkeit

Mit dem Republikaner Kevin McCarthy ist vergangene Woche erstmals ein „Mister Speaker“ gestürzt worden. In Washington und im Gefüge der amerikanischen Verfassung ist dies als eine seismische Erschütterung wahrgenommen worden. Bei kaum einem der durchweg machtbewussten Persönlichkeiten im Amt, vom ersten Speaker, dem deutschstämmigen Frederick Muhlenberg (Speaker vom 1. April 1789 bis 4. März 1791), bis zum Rekordhalter, dem von 1940 bis 1961 mit Unterbrechungen mehr als 17 Jahre amtierenden Demokraten Sam Rayburn, wäre eine Rebellion wie jene der acht republikanischen Hardliner denkbar gewesen.

Die Abwahl McCarthys, die fast wie eine folgerichtige Schlusssequenz seines weithin als peinlich bis demütigend empfundenen Aufstiegs auf den Stuhl des Sprechers wirkt, für den er nicht weniger als 15 Wahlgänge benötigte, zeigt zum einen auf, welche Möglichkeiten des Ausbremsens bei knappen Mehrheitsverhältnissen die (noch) relativ kleine Gruppe der massiv auf der Seite von Ex-Präsident Donald Trump stehenden „Abweichler“ über die republikanische Fraktion hat.  

Zum anderen aber legt der Sturz McCarthys auch Zeugnis über die im Parlament herrschende Unversöhnlichkeit ab: Kein einziger Demokrat rührte einen Finger, um McCarthy zu helfen; sie alle stimmten dem Antrag von Matt Gaetz, dem Wortführer der firebrands, zu. 

 

Mehr US-Themen: 

 

Mehrheiten von wenigen Sitzen und die starren Fronten haben eine parlamentarische Regel, die bislang kaum Beachtung gefunden hatte, zu einem Menetekel gemacht. Die motion to vacate, abgekürzt MTV, kann von einem einzigen Abgeordneten eingebracht werden – in diesem Fall von Gaetz.

Diese Option hat seit den Gründertagen der USA unbeachtet in den Regularien des Hauses geschlummert und wurde nur einmal aktiviert, als 1910 ein solcher Antrag gegen den republikanischen Speaker Joseph Cannon eingebracht wurde und dieser die Abstimmung schadlos überstand. Niemand, so hat es die New York Times bissig formuliert, wäre in der Vergangenheit dämlich genug gewesen, es sich mit seinem Speaker zu verscherzen, der über immense Macht und genügend Möglichkeiten der Vergeltung verfügt hätte.  

McCarthy war kein Sprecher des traditionellen Kalibers und schaufelte seiner Amtsausübung eigenhändig das Grab: Unter der demokratischen Mehrheit mit Sprecherin Pelosi wurde die MTV 2018 dahingehend geändert, dass nun in einer Fraktion eine Mehrheit für einen solchen Antrag existieren musste. Doch McCarthy erkaufte sich seine Wahl mit der 15. Stimmabgabe auch durch die von den Parteirechten geforderte Rückkehr zu einer single-member motion – er besiegelte damit sein eigenes parlamentarisches Schicksal. 

Wasser auf die Mühlen der Politikverdrossenheit

Die Wahl des nächsten, des 119. Speakers, ist nur eines der Dramen, die sich aus McCarthys Sturz ergeben. Angesichts der Tatsache, dass Trump den seinen Wahlkreis in Ohio vertretenden Jim Jordan bei dessen Kandidatur unterstützt, erscheint es fraglich, ob die übrigen 221 Republikaner in der Kammer sich trauen, dem Idol ihrer Wählerschaft zu widersprechen. Tief sitzt die Furcht vor der Trump-treuen Basis.

Die Legislaturperiode im Repräsentantenhaus beträgt nur zwei Jahre, so dass die Abgeordneten eigentlich ständig ihren nächsten Wahlkampf im Kopf haben müssen – was Ex-Präsident und Senatsführer Lyndon B. Johnson zu der eingängigen Definition brachte, der Unterschied zwischen dem Senat mit seiner sechsjährigen Amtszeit und dem Repräsentantenhaus sei wie der Vergleich von „chicken salad and chicken shit“. 

Der Politikverdrossenheit in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung wird das Washingtoner Theater weiter Vorschub leisten, das Ansehen des Kongresses wird weiter sinken. Der Mehrheitsführer im Senat, der Demokrat Charles E. Schumer, hat am Tag nach McCarthys Sturz orakelt: „Meine Sorge ist, dass das Chaos von gestern erst der Anfang ist.“ Man muss für diese Prognose nicht Nostradamus sein: Die USA stehen vor einem erbarmungslosen Wahlkampf. 

Anzeige