USA-China-Beziehungen - Der Angriff auf einen Ballon und sein ernster Hintergrund

Der Abschuss eines chinesischen Heißluftballons durch einen F22-Kampfjet vor der Küste von South Carolina ist eher eine Absurdität. Viel gravierender ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen China und den USA auf den derzeitigen Tiefpunkt hat absinken können.

Die Überreste des abgeschossenen Ballons torkeln in den Atlantik / dpa
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Autoreninfo

Henrik Bork hat 30 Jahre lang als Asienkorrespondent für deutsche Medien gearbeitet, zuletzt als Büroleiter der Süddeutschen Zeitung in Tokio und Peking. Seit 2012 schreibt er als freier Autor und berät internationale Konzerne bei ihrer Chinastrategie. 

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Es machte „puff“, und die ganze Welt rätselt jetzt, ob sie lachen oder weinen soll. Ein F22-Kampfjet der mächtigen US-Luftwaffe hat einen weißen, sich ganz unschuldig gebenden und unbewaffneten Ballon aus China mit dem gezielten Schuss einer „Sidewinder“-Rakete abgeschossen. Die Hülle des Ballons und die Elektronik, die an ihm befestigt war, sind vor der Küste von South Carolina ins Meer gestürzt. „Überreaktion“, ruft das chinesische Außenministerium, das von einem Wetterballon gesprochen hatte, der vom Winde verweht worden sei.

Endlich sei der „Spionage-Ballon“ der Kommunisten in Peking eliminiert worden, wenn auch „zu spät“, rufen dagegen die Republikaner in den USA. Schließlich sei das Ding zuerst über den Atomraketen-Silos in Montana gesichtet worden. Welch grandiose Gelegenheit, buchstäblich aus dem Nichts am Himmel erschienen, um den demokratischen Präsidenten kurz vor dem Auftakt des nächsten Wahlkampfs als „soft on China“ zu attackieren. Biden habe tagelang zugesehen, wie das Ding den Luftraum der USA verletzten durfte, so der republikanische Senator Marco Rubio aus Florida, und „wenn Biden nicht einmal einen Ballon abschießt, dann tut er einen Scheißdreck, falls China den Indern oder Japaner Territorium abnimmt oder eine Invasion Taiwans beginnt“.

Die absurde heiße Luft, die tagelang auf sämtlichen Cable-News-Kanälen Amerikas über den lächerlichen Zwischenfall erzeugt worden ist, erinnert verdächtig an absurde Episoden aus dem Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Zum Beispiel an die vom 26. September 1983, als sich das Sonnenlicht an einer Wolke über einer amerikanischen Luftwaffenbasis spiegelte. In Moskau lösten diese Reflexionen der Sonne einen Großalarm aus, weil irgendein Alarmsystem glaubte, da sei eine Zündung erfolgt und die Amis hätten eine Atomrakete gestartet. Der atomare Gegenschlag mit sowjetischen Interkontinentalraketen wurde vorbereitet. Nur der brave Oberstleutnant Stanislaw Petrow verhinderte das Schlimmste, weil er eher an einen Computer-Irrtum als an Armageddon glaubte und seine Vorgesetzten ihm glücklicherweise glaubten.

Wie gesagt, man weiß auch heute wieder nicht, ob man lachen oder weinen soll. Denn hinter der ganzen Absurdität eines F22-Angriffs auf einen Heißluftballon mit Anhängseln versteckt sich die Frage, wie die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nur so tief, bis auf ein so grottenschlechtes Niveau haben sinken können. Die kurze Antwort auf diese ernste Frage ist, dass beide Seiten nach Kräften dazu beigetragen haben. Beginnen wir mit den Chinesen. Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping zu Beginn der 80er-Jahre hatten sie sich an dessen Mahnung gehalten, außenpolitisch Kreide zu fressen und „abzuwarten“, bis man wirtschaftlich stark genug sei, um den bösen Kapitalisten auch außen- und geopolitisch Paroli bieten zu können.

Vom Wirtschaftspartner wurde China zum „systemischen Rivalen“

Der von seiner eigenen Größe ein wenig zu stark beseelte chinesische Diktator Xi Jinping hatte aber keine Lust mehr, abzuwarten und Tee zu trinken. Der jahrzehntelange, tatsächlich beeindruckende wirtschaftliche Aufstieg seiner Nation verleitete ihn zu der Hybris, Chinas System sei besser als das des kapitalistischen und demokratischen Westens. Das, so beschloss Xi, müsse jetzt mal endlich allen klar gemacht werden. Er rief den „Chinesischen Traum“ aus und erklärte schon 2017 in einer Rede, China biete anderen Nationen eine alternative „Option“ an. „Die chinesische Nation, mit einer komplett neuen Haltung, steht aufrecht und fest im Osten”, so Xi. Seither wird die Volksrepublik in Washington nicht mehr vorwiegend als Wirtschaftspartner, sondern als „systemischer Rivale“ wahrgenommen.

Sie ist zwar beides – wie schade eigentlich und kontraproduktiv, sich allein auf den Aspekt der Rivalität zu fokussieren –, aber solches Schwarz-Weiß-Denken ist Menschlich. Komplexe Sachverhalte sind anstrengend, Zwischentöne sind langweilig. Aus dem „Zukunftsland China“ ist nun über Nacht die „Bedrohung China“ geworden. Doch die neue Beurteilung Chinas hat auch viel mit selbstverschuldeten Versäumnissen in den USA zu tun. Die politischen Eliten in Washington hatten lange nicht so genau hingeschaut, als unzählige Menschen im Mittleren Westen ihre Arbeitsplätze verloren und aus dem Mittelstand in die Armut absackten, als amerikanische Konzerne ihre Produktion so gründlich in das neue Eldorado China verlagerten, das für die „folks at home“ nichts mehr übrig blieb. Die zogen in rostige Wohnwagen in „Trailer Parks” und durften höchstens noch für Amazon Pakete packen.

 

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Zuvor hatte man China im Jahr 2001 in die WTO aufgenommen. Die chinesischen Unterhändler hatten damals ganz genau nachgelesen, ob in dem Vertrag der Welthandelsorganisation echte Strafen angedroht werden, falls sie ihn hier und da missachten sollten, indem sie eigene Industrien mit massiven Subventionen und mit Preisdumping im Export aufpäppeln. Als sie keinerlei solcher Strafen fanden, unterschrieben sie ihn gerne. Photovoltaik? China begann, die Produktion von Solarzellen und -panelen massiv zu subventionieren, bis die Konkurrenz in den USA und Europa pleite war. Heute kommen mehr als 90% aller Panele auf dem Weltmarkt aus China. Pharmazeutische Vorprodukte? Dito. Windturbinen? Dito. Seltene Erden? Dito. Die Liste ist lang. Die USA und Europa waren lange willige Gehilfen beim Aufbau chinesischer Monopole. Der WTO-Vertrag mit China war nicht das Papier wert, auf dem er geschrieben stand.

Erst als im Zuge der Corona-Lockdowns weltweit die Lieferketten in Unordnung gerieten, als sogar Masken und Antibiotika fehlten, begann man allerorten plötzlich die „Abhängigkeit von China“ zu bejammern. In Wirklichkeit schaffen Handel und wirtschaftliche Kooperation immer Abhängigkeiten auf beiden Seiten. Die Auslagerung vieler Lieferketten nach China hatte lange beide Seiten bereichert, aber China war jetzt plötzlich wieder als Buhmann gefragt, als Sündenbock für die eigene industriepolitische Unfähigkeit in Washington, Berlin oder Brüssel. Der Schutz kritischer Infrastrukturen gehört zu den Aufgaben jeder Regierung, ein Versagen dabei kann nicht anderen angelastet werden, die es besser machen.

In einigen Feldern ist China schon global führend

Donald Trump aber erkannte den enormen Wert des „China Bashing“ schon in seinem ersten Wahlkampf, der ihn ins Weiße Haus katapultierte. Seither versuchen sich Demokraten und Republikaner gegenseitig darin zu überbieten, wer die härtere Tonart gegenüber China findet. Joe Biden hat die Boykotte von fortgeschrittenen Halbleitern gegenüber China nicht nur von Trump übernommen, sondern hat sie seither systematisch erweitert. Er führt einen regelrechten „Chip War“ gegenüber China. Diese Halbleiter-Boykotte sind eine sehr dumme Politik, die Chinas wirtschaftlichen Aufstieg vielleicht um einige Jahre zurückwerfen, ihn aber nicht langfristig werden ausbremsen können. Dahinter steht ein verstaubtes Chinabild einer Nation von „Copycats“, die man noch mit solchen protektionistischen Tricks maßregeln oder kleinhalten könnte.

In Wirklichkeit ist China schon viel weiter, seine Unternehmen sind sehr kreativ geworden. Amerikanische oder auch deutsche Konzerne haben selbst viel mehr zu verlieren, wenn sie sich aus den innovativen Ökosystemen in den Bereichen E-Mobilität, Internet-Plattformen, Künstliche Intelligenz, autonomes und vernetztes Fahren oder Biotechnologie ausschließen, die in der Volksrepublik entstanden sind, als die Chinesen. In einigen Feldern ist China schon global führend – oder steht kurz davor.

Das Gerede von einer vermeintlich einseitigen Abhängigkeit von China, in Washington entstanden, wird inzwischen erstaunlich oft und weitgehend unreflektiert auch in Berlin und Brüssel nachgeplappert. Nicht die bürokratische Überregulierung in Deutschland und der EU, nicht die mangelnden Investitionen in Forschung und Entwicklung oder in ein modernes Eisenbahn- und Autobahnnetzwerk in den USA, nicht das Verschlafen von technologischen Zukunftsthemen wie digitale Währungen, Künstliche Intelligenz, digitale Verwaltung oder Smart Cities sollen plötzlich in vielen Ländern für den relativen wirtschaftlichen Niedergang gegenüber China verantwortlich sein, sondern die bösen Chinesen, die uns angeblich in eine Abhängigkeit gelockt haben. Ach was waren wir naiv, wird uns eingeredet.

Was für ein Unsinn, diese von halb durchdachten Narrativen wie der „einseitigen Abhängigkeit von China“ unterfütterte Propaganda aus Washington, die in Europa begierig aufgegriffen wird! Aber so etwas verkauft sich gut beim verunsicherten Wählervolk, dem ganz langsam dämmert, dass uns wirtschaftlich gegenüber dem langfristig planenden, zielstrebig in die eigene Infrastruktur und Zukunft investierenden China allmählich die Felle davonschwimmen.

Die China-Reise von Antony Blinken wird wohl nachgeholt werden

Das Tragische an dem sich weltweit von China über die USA bis nach Brüssel gerade wieder ausbreitenden Nationalismus und Protektionismus ist aber, dass wir angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart – Klimawandel, Armut im globalen Süden und Epidemien kommen in den Sinn – noch viel mehr statt weniger globale Zusammenarbeit bräuchten. Jeder Halbleiter, der seinen Weg in chinesische Windturbinen oder Energiespeicher findet, hilft auch den Europäern beim Verlangsamen der Erderwärmung.

Mit dem Abschuss des chinesischen Ballons in den USA haben die Gegner von Joe Biden aber immerhin erreicht, auch den für den vergangenen Samstag geplanten Chinabesuch von US-Außenminister Antony Blinken abzuschießen. Fast hätte es eine Chance gegeben, die „Bali-Dynamik“ für eine Annäherung zu nutzen, also die zaghaften Versuche einer Annäherung zwischen Washington und Peking im Zuge des Treffens zwischen Xi Jinping und Joe Biden auf Bali im vergangenen November. Auch auf chinesischer Seite gibt es gerade ein großes Interesse, die Beziehungen zu Washington wieder zu reparieren.

Seit der chinesische „starke Mann“ einsehen musste, dass selbst er nicht stark genug ist, um seinen „Volkskrieg gegen das Virus“ zu gewinnen, seit er also vor dem seiner Null-Covid-Politik zu verdankenden Scherbenhaufen der chinesischen Wirtschaft stand und zu einer gewissen Rückkehr zum Pragmatismus gegenüber Washington gezwungen war, hatte sich vorübergehend ein „Window of Opportunity“ aufgetan, eine Möglichkeit für die Diplomatie, diese nach unten taumelnde Spirale aus gegenseitigem Misstrauen und öffentlichen Anfeindungen zwischen den USA und China anzuhalten.

Mit dem Abschuss des Ballons haben vorerst wieder die Kalten Krieger in den USA die Oberhand gewonnen. Biden blieb nichts anderes übrig, denn als zu nachgiebig gegenüber China dargestellt zu werden, wäre in Washington im derzeitigen politischen Klima politischer Selbstmord. Die diffuse Bedrohung durch China war durch den tagelang live im Fernsehen verfolgten „Spionage-Ballon“ am Himmel über der Heimat für viele Amerikaner plötzlich zum ersten Mal greifbar geworden.

Weder Biden noch Xi Jinping können indes ein Interesse daran haben, dass die Chinareise des US-Außenministers für länger als einige Wochen oder Monate verschoben werden muss. Sie wird wohl irgendwann nachgeholt werden. Aber das absurde Theater, dass wir bis zum Abschuss des Ballons vor der Küste von South Carolina mitverfolgen durften, erinnert an die schlimmsten und zugleich lächerlichsten Phasen des Kalten Krieges.

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