Ursula von der Leyens Rede zur „Lage der Union“ - Am Thema vorbei

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht in ihrer einstündigen „State of the Union“-Rede zwar auf viele wichtige Punkte ein, klammert aber überragende Themen wie Inflation und europaweite Uneinigkeit und Unzufriedenheit praktisch komplett aus. Dafür kündigt sie einen Gesetzesvorschlag gegen hohe Energiepreise an und will den Zugriff der Europäer auf High-Tech-Rohstoffe sichern.

Ursula von der Leyen an diesem Mittwoch bei ihrer Rede / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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„State of the Union“, zur Lage der Union: Das ist ein ehrfurchtgebietender Titel für die jährliche Ansprache der Kommissionspräsidentin über den aktuellen Zustand der Europäischen Union. Dass es diesmal vor allem um den Ukrainekrieg – immerhin in einem Nachbarland der EU – gehen würde, war zu erwarten und wurde schon durch das Outfit Ursula von der Leyens deutlich, die im Europaparlament an diesem Mittwoch mit einem gelben Blazer und einem blauen Oberteil in den ukrainischen Nationalfarben auftrat – übrigens auch vor der anwesenden Präsidentengattin Olena Selenska. Die Choreographie war jedenfalls passend und der „Lage der Union“ auch über deren Grenzen hinaus angemessen.

Weniger angemessen waren von der Leyens Inhalte, denn jener große Elefant im europäischen Raum, der die EU-Bürger von Lissabon bis Tallinn derzeit verängstigt und teilweise auf die Straßen treibt, fand in der Ansprache der Kommissionspräsidentin keine Beachtung: Das Wort „Inflation“ fiel in ihrer einstündigen Rede exakt ein einziges Mal, und das auch nur bei einer Randbemerkung.

Wer ihr zuhörte, musste eigentlich den Eindruck bekommen, dass trotz (oder gerade wegen) der brutalen Energie- und geopolitischen Krise alles auf gutem Weg ist in einem Europa, das sich geradezu weltmeisterlich in Solidarität übt. Auch von den sehr unterschiedlichen Auffassungen innerhalb Europas, etwa mit Blick auf Sanktionen gegenüber Russland (man denke hier nur an die einstigen Visegrad-Verbündeten Ungarn und Polen) oder Waffenlieferungen an die Ukraine, war nichts zu hören. Und wer damit gerechnet hatte, von der Leyen würde vielleicht die deutsche Bundesregierung in Sachen Kernkraft ein bisschen zur Raison rufen (Stichwort: Solidarität), sah sich ebenfalls getäuscht.

„Initiative zu psychischer Gesundheit“

Die gesamte, etwas pathetisch-einstudiert wirkende Séance der Kommissionspräsidentin war denn auch mehr eine Aufzählung von Projekten, mit denen die EU künftig in eine Rolle als weltpolitisch und vor allem globalökonomisch ernstzunehmender Akteur (zurück-)finden solle – wobei auch Randthemen wie eine „Initiative zu psychischer Gesundheit“ oder ein äußerst diffuser Vertrag zur „Solidarität zwischen den Generationen“ nicht zu kurz kamen. Also insgesamt ein Tour d’Horizon – geschuldet natürlich auch der Vielzahl der Interessen von 27 EU-Ländern, denen von der Leyen in ihrem Amt gerecht werden muss. Historisches Format hatte ihre Rede allerdings nicht, dazu wurden zu viele Spiegelstriche schlicht abgearbeitet.
 

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Den Auftakt machte sie erwartungsgemäß mit der Bekundung des Entsetzens über den russischen Angriffskrieg, auf den die EU geeint und mit großer Solidarität reagiert habe. Europa habe seine „innere Stärke“ gezeigt, gehe aber auch schwierigen Zeiten entgegen: „Wir werden geprüft werden.“ Die Wirtschaftssanktionen würden Russland hart treffen; dessen Wirtschaft sei derart geschwächt, dass dort bereits Mikrochips aus Kühlschränken herausgenommen würden, um sie für militärisches Gerät zu nutzen. Beklagt wurde die Naivität mancher Mitgliedstaaten gegenüber dem Kreml (gemeint dürfte vor allem Deutschland gewesen sein), die zu einer einseitigen Energieabhängigkeit geführt habe, welche jetzt unbedingt durchbrochen werden müsse.

Ein zentraler Punkt für Ursula von der Leyen war ihre Ankündigung eines „Energiedeckels“ zur Eindämmung der enormen Kostensteigerungen in diesem Sektor. Es geht hier um das sogenannte Merit-Order-Prinzip, wonach der Preis für elektrische Energie durch das jeweils teuerste Kraftwerk bestimmt wird, das noch benötigt wird, um die Stromnachfrage zu decken. Davon profitieren die Erzeuger von günstiger Energie, deren „Übergewinne“ künftig also abgeschöpft und an die Bürger zurückgegeben werden sollen.

Das klingt erst einmal ganz gut, senkt aber gleichzeitig die Investitionsanreize für „Renewables“, deren Ausbau von der Leyen ja ganz besonders am Herzen liegen, wie sie deutlich machte. Klar ist also: Der „Energiedeckel“ ist eine kurzfristige Notlösung, und die Frage ist ohnehin, wie weit die einzelnen Mitgliedstaaten sich hier von Brüssel werden hineinreden lassen.

„Europäische Bank für Wasserstoff“

Im Rahmen ihrer europäischen Energie-Agenda kündigte die Kommissionspräsidentin auch die Einrichtung einer „Europäischen Bank für Wasserstoff“ an, die mit drei Milliarden Euro ausgestattet werden solle, um einen künftigen Wasserstoffmarkt aufzubauen. Das alles klang insgesamt so sehr nach Staatswirtschaft, dass von der Leyen sich offenbar bemüßigt fühlte, an anderer Stelle die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft hochzuhalten, ohne die eine „digitale und soziale Transformation“ nicht zu bewerkstelligen sei, und von den EU-Ländern mehr Eigeninitiative einzufordern.

Konkret wurde sie bei zwei wichtigen Punkten, die in der Tat mitentscheidend sind für den künftigen Wohlstand in der Europäischen Union: Arbeitskräfte und Rohstoffe. Der Arbeitskräftemangel müsse sowohl durch gezielte Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland behoben werden, aber auch durch konsequente Aus- und Weiterbildung. Letzteres werde einen Schwerpunkt für ihre Kommission im Jahr 2023 bilden.

Beim Zugang zu Rohstoffen für den Hightech-Bereich (insbesondere Lithium und seltene Erden) gelte es, eine sichere Versorgung zu gewährleisten und – ähnlich wie bei der Energie – einseitige Abhängigkeiten von bestimmten Ländern zu reduzieren. Von der Leyen erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich China mit seiner Vormachtstellung bei der Verarbeitung seltener Erden und kündigte in diesem Zusammenhang einen „European Critical Raw Materials Act“ an.

„Ausländische Autokraten“

Am Schluss warnte die Kommissionspräsidentin noch vor „ausländischen Autokraten“, die mit allen möglichen Mitteln versuchen würden, das europäische Gesellschaftsmodell zu unterwandern und zu diskreditieren: „Wir müssen uns besser schützen vor solcher Einflussnahme“, so von der Leyen, die auch hier einen entsprechenden Gesetzespakt ankündigte. Das Ganze wurde flankiert von Wortes des Ruhmes über die europäische Demokratie – auch das genauso richtig wie erwartbar.

Der Schönheitsfehler nur: Ursula von der Leyen war vor ihrer Ernennung zur Kommissionspräsidentin selbst überhaupt keine „Spitzenkandidatin“ der EU-Parteienfamilien, sondern sie wurde dem gesamteuropäischen Wahlvolk (und dem Parlament) schlicht vor die Nase gesetzt. So entspricht es zwar durchaus den EU-Verträgen, jedoch hatte man vor der Europawahl im Jahr 2019 mit der Nominierung von „Spitzenkandidaten“ eben ein völlig anderer Eindruck erweckt. Insofern sollte gerade Ursula von der Leyen in diesem Zusammenhang den Mund besser nicht allzu voll nehmen.

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