Unruhe in Ungarn - Viktor Orbán in Bedrängnis

Zehntausende von Demonstranten versammelten sich am Wochenende in Budapest, um den Sturz des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu fordern. Seine Herrschaft wird immer lauter in Frage gestellt – doch Orbán ist noch lange nicht am Ende.

Viktor Orbán / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Viktor Orbán regierte Ungarn von 1998 bis 2002 und tut es seit 2010 bis heute. In dieser Zeit hat er die ungarische Politik und weitgehend auch das ungarische Leben dominiert. Doch Ende voriger Woche wurde seine Herrschaft in Frage gestellt, als sich Zehntausende von Demonstranten in Budapest versammelten und seinen Sturz forderten. Die Demonstrationen dauerten bis zum Wochenende an. 

Seit Orbán vor mehr als einem Jahrzehnt das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hat, ist die ungarische Opposition zersplittert und im Allgemeinen ineffektiv. Dass sich nach so langer Zeit so viele Menschen gegen seine Herrschaft versammeln, ist daher ein erstaunliches Ereignis, unabhängig davon, ob es zu seiner Absetzung führt.

Orbáns Anti-Wokeness-Haltung findet europaweit Nachahmer

Als ungarischer Regierungschef hat Orbán eine Ideologie geschaffen, die andere Länder beeinflusst hat. Sie hat zwei entscheidende Dimensionen. Die erste ist der Widerstand gegen die Migration nach Ungarn. Vor einem Jahrzehnt suchten Millionen von Menschen aus dem Nahen Osten Zuflucht in Europa, wo viele Regierungen ihnen die Einreise gestatteten, selbst wenn sie im eigenen Land auf Widerstand stießen. Orbáns Position stand im Widerspruch zum europäischen Liberalismus. 

Er argumentierte, dass Ungarn nicht nur ein Ort, sondern auch ein Kulturraum sei und dass die Einwanderungswellen diese Kultur und Geschichte bedrohten. Seine Position fand Unterstützung in Mitteleuropa, wo sich eine Anti-Migrations-Koalition bildete, die sich gegen die vorherrschende Meinung in Brüssel stellte. Im Laufe der Jahre hat Orbáns Ansicht in ganz Europa immer mehr Anhänger gefunden.

 

Mehr zum Thema Ungarn:

 

Zweitens stand Orbán dem feindlich gegenüber, was manche heute als „Woke“-Kultur bezeichnen, insbesondere deren Einstellung zur Homosexualität. Seine Kritik basierte teilweise auf einem konservativen Verständnis des Christentums, aber noch mehr auf der Überzeugung, dass Homosexualität die ungarische Gesellschaft korrumpieren würde. 

Auch hier bezog er Stellung gegen den europäischen Liberalismus, und auch hier setzte sich seine Ansicht mit der Zeit in anderen Ländern durch. Bei den jüngsten Wahlen in den Niederlanden zum Beispiel hat die Partei von Geert Wilders, einem offenen und energischen Verbündeten Orbáns, die liberale Partei, deren früherer Vorsitzender einer der schärfsten Kritiker Orbáns war, verdrängt.

Seine Ideologie hat auch die USA erreicht

Der Einfluss von Orbáns Ideologie hat auch die Vereinigten Staaten erreicht. Während einer Reise in die USA im März hatte Orbán ein intensives Treffen mit Donald Trump. Ob er Trumps Meinung geändert hat, ist ungewiss, aber sie haben sich offenbar geeinigt, und beide Männer haben in ihren Reden auf das Treffen Bezug genommen.

Nach der Rückkehr von dieser Reise schien Orbán in Ungarn politisch abgesichert zu sein. Allerdings lauerte eine mächtige Anti-Orbán-Kraft, die sich auf den Glauben stützte, dass das Orbán-Regime korrupt sei und dass sich verschiedene Mitglieder auf Kosten des Volkes bereicherten. In gewissem Sinne findet nun ein Kampf der moralischen Werte zwischen den Wissenden und den angeblich Korrupten statt – ein Kampf, der möglicherweise auch in anderen Ländern ausgetragen wird. Doch dieses Mal hat es Orbán getroffen. Es ist nicht klar, was der Aufstand erreichen wird. Die Empörung über die angebliche Korruption ist weit verbreitet, aber auch das Gefühl, dass Orbán den tiefen Sinn Ungarns repräsentiert.

Orbán ist noch nicht am Ende

Eine weitere Dimension des Orbán-Dramas betrifft den Ukraine-Krieg. Vor dem Einmarsch der Russen, als die Nato versuchte, ihre Strategie festzulegen, reiste Orbán nach Moskau, wo er sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem aufwendig inszenierten Treffen traf. Bei diesem Treffen deutete Orbán an, dass die Forderungen Russlands vernünftig seien, und erklärte, Sanktionen gegen den Kreml würden nicht funktionieren. Damit brach er mit Ungarns Verbündeten in der Nato. 

Kurz nach Beginn des Krieges weigerte sich Orbán, ungarische Streitkräfte einzusetzen oder auch nur der Nato zu gestatten, Waffen auf ungarischem Gebiet zu stationieren oder durch ungarisches Gebiet zu transportieren – ein bemerkenswerter Rückschlag für die Kampagnen der Nato und der EU zur Unterstützung der Ukraine, die eine gemeinsame Grenze mit Ungarn hat. Was Russland angeht, so scheinen Orbáns Positionen eher mit Putin als mit Europa übereinzustimmen.

Orbáns Entscheidungen in Bezug auf die Ukraine schienen ein Versuch zu sein, der ungarischen Öffentlichkeit zu folgen, die sich generell nicht am Krieg beteiligen wollte, so wie sie auch keine Einwanderer wollte. Orbán ist seit langem ein erfolgreicher Politiker. Das macht die Ereignisse der vergangenen Woche noch verwirrender. Orbán scheint sein Gespür verloren zu haben, und wenn es in Budapest zu einem politischen Umschwung kommt, ist es möglich, dass sich auch die ungarische Position zur Nato, zu Russland und anderen Themen ändert.

Aber Orbán ist noch nicht am Ende. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, ist nicht klar, ob seine Gegner eine Vision haben, die weit genug über ihre Verachtung für Korruption hinausgeht, um einen breiteren Wandel in Ungarn zu bewirken.

In Kooperation mit

Anzeige