Sevim Dagdelen über den UN-Migrationspakt - „Die Bundesregierung hat den Boden für eine Angstkampagne bereitet“

Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen hat als einzige deutsche Parlamentarierin an den Anhörungen zum UN-Migrationspakt teilgenommen. Mit dem Ergebnis ist sie unzufrieden. Verantwortlich dafür macht sie die Bundesregierung, die den Pakt federführend ausgehandelt hat

„Das größte Opfer sind die Migranten selber“: Sevim Dagdelen stellt dem UN-Migrationspakt schlechte Noten aus / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Frau Dagdelen, kaum ein Abkommen ist so umstritten wie der UN-Migrationspakt. Die AfD behauptet, seine  Unterzeichnerstaaten liefen Gefahr, Siedlungsgebiet für Menschen anderer Völker, Religionen und Kulturen zu werden. Eine berechtigte Befürchtung?
Nein, das ist eine schäbige Angstkampagne  der AfD und anderer Rechter. Dabei finde ich aber auch, dass es genügend Kritikpunkte an diesem Pakt gibt. Keine der Forderungen, die wir als Linke im Verhandlungsprozess angemahnt hatten, wurde aufgenommen.  

Sie sind die einzige deutsche Bundestagsabgeordnete, die im Vorfeld in New York an den Anhörungen zu dem  Pakt teilgenommen hat. Was haben Sie jetzt an dem Abkommen auszusetzen?
Der Pakt benennt in keiner Weise die Ursachen der Migration. Ich finde es falsch, dass die Migration im Text als „Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung“  dargestellt wird – und dass diese Auswirkungen angeblich durch eine besser gesteuerte Migrationspolitik optimiert werden können. Das Gegenteil ist der Fall 

Nämlich?
Migration ist Ausdruck von globaler Ungleichheit, eine Folge von unterschiedlichen Entwicklungen und der Kluft zwischen Arm und Reich. Das war auch die Kritik der afrikanischen Länder, die vehement eingefordert haben, dass die Ursachen der Migration bekämpft werden müssen. Ihre Forderung nach umfangreichen Investitionen zur wirtschaftlichen Entwicklung in den Herkunftsländern st angesichts der sozialen Verwerfungen als eine der Ursachen für Migration absolut richtig. Vertreter der afrikanischen Staaten haben in New York erklärt, was auch ich bei diesen Konferenzen immer betont habe: Man muss auch ein Recht auf Nicht-Migration haben. 

Meint das der Pakt, wenn er sagt, eines seiner Ziele sei „die Minimierung nachteiliger Triebkräfte, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen“? 
Leider werden auch in diesem Punkt die Ursachen für Migration nicht benannt. Millionen Menschen werden ihrer Lebensgrundlagen beraubt durch Kriege, Landraub, Klimawandel oder unfaire Freihandelsverträge. Insofern ist die Debatte um den Pakt unehrlich. 

Aber wenn das genau Ihre Forderungen waren, warum konnten Sie sich damit nicht durchsetzen? 
Ich habe in New York immer wieder angemahnt, dass es eine Umkehr in der Außenpolitik geben muss. Es muss zum Beispiel endlich Schluss sein mit den zerstörerischen Freihandelsabkommen mit den Ländern des Südens. Menschen verlassen ihre Heimat ja in der Regel nicht freiwillig. Diese Forderungen haben aber keinen Eingang gefunden in den Pakt selbst. Im Gegenteil: Der reiche Norden hat sich gegen den armen Süden durchgesetzt. 

Welche Länder meinen Sie?
Zum Beispiel Deutschland. Die Bundesrepublik hat seit Anfang 2017 und bis Ende diesen Jahres zusammen mit Marokko den Vorsitz des Global Forum on Migration and Development, das dem Migrationsabkommen zugearbeitet hat. Federführend dabei war das Auswärtige Amt. Dort hat man aber offenbar wenig bis gar kein Interesse, die Ursachen für Migration zu bekämpfen. Der Bundesregierung ging es um den Fachkräftemangel, die zirkuläre Migration – sprich: um eine Neuauflage der gescheiterten Gastarbeiterpolitik, um erleichterte Abschiebungen und um Migrationspartnerschaften, wie sie die Bundeskanzlerin mit einigen afrikanischen Staaten abgeschlossen hat. 

Heißt das, die Anhörungen der Parlamentarier waren eine Alibi-Veranstaltung?
Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der nationalen Parlamente ist richtig. Die Verhandlungen bestimmt haben allerdings andere.  

Der Pakt wurde hinter den Kulissen maßgeblich von der Bundesregierung festgezurrt? 
Es gab zwei Ebenen. Einmal haben die Regierungen unter Federführung der Bundesregierung darüber verhandelt, und dann gab es noch Anhörungen für Arbeitgeber, NGOs, Kirchenvertreter  und Parlamentarier. Im Februar 2018 war ein erster Entwurf erstellt. Ich habe übrigens gegen den Widerstand der AfD daran teilgenommen.  

Inwiefern hat Ihnen die AfD Steine in den Weg gelegt? 
Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses wurden wir vom Präsidenten der UN-Generalversammlung eingeladen, mitzudiskutieren. Meinen Antrag auf Dienstreise hatte die AfD blockiert, so dass ich der Einladung auf Kosten meiner Fraktion nachgekommen bin. 

Warum?
Ziel der AfD ist offenbar ein Auswärtiger Ausschuss, der sich an wichtigen Diskussionen im Rahmen der Vereinten Nationen nicht mehr beteiligt. Ich sehe es als einen Versuch, die Arbeit des Ausschusses und die internationale Zusammenarbeit von Abgeordneten unter dem Dach der UNO zu sabotieren. 

Sevim Dagdelen / picture alliance 

Wenn die AfD von Anfang an gegen den  UN-Pakt war, warum hat sie denn erst jetzt dagegen mobil gemacht?
Das ist ja das Unehrliche und Verlogene. Wo war denn die AfD, als der Pakt verhandelt wurde? Weit weg und mucksmäuschenstill. Den Boden für ihre völkische Angstkampagne haben aber haben das Auswärtige Amt und die Bundesregierung bereitet. Sie haben es versäumt, in Deutschland eine Debatte über den Migrationspakt zu führen.

Haben das Auswärtige Amt und die Bundesregierung den Ball bewusst flach gehalten, weil sie sich nach den Erfahrungen mit der Flüchtlingswelle 2015 ausrechnen konnten, wie groß das Empörungspotenzial sein würde, das dieses Thema hierzulande birgt?
Wenn das so gewesen sein sollte, dann haben sie eine falsche Strategie verfolgt. Desinformation, Fake News und Angstkampagnen sind nur dann möglich, wenn keine Aufklärung stattfindet. Wo Licht ist, kann die Dunkelheit nicht siegen. 

Sind daran nicht aber auch die anderen Fraktionen Schuld, weil sie das Thema ignoriert haben? 
Gute Frage. Die Einladungen nach New York sind an jede Fraktion im Bundestag gegangen. Ich habe mich selbst darüber gewundert, warum ich die einzige war, die ihr nachgekommen ist. 

Haben Sie Kollegen aus anderen Fraktionen mal gefragt, warum von denen keiner gekommen ist?
Ich hab das im Auswärtigen Ausschuss angesprochen. Da kam aber nichts. Einhellige Reaktion war großes Desinteresse. 

Wie repräsentativ können Sie denn für die Linke sein? Ihre Fraktionschefin Sahra Wagenknecht ist ja für die Begrenzung von Zuwanderung. 
Wir haben in der Linksfraktion bisher keinen Beschluss zum UN-Migrationspakt. Sahra Wagenknecht verweist auf die negativen Folgen des Brain-Drain, des Abzugs von Fachkräften aus Ländern des Südens. Sie hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es in Herkunfts- wie Zielländern soziale Verwerfungen durch Migration gibt, und diese Einschätzung teile ich. Aus meiner jahrelangen Arbeit und als Kind von Gastarbeitern aus der Türkei weiß ich, dass Migration soziale und kulturelle Auswirkungen sowohl auf Herkunftsländer als auch auf Zielländer hat. Das erste Opfer sind die Migranten selber. 

Warum Opfer? Vielen geht es doch im Zielland besser als zu Hause. 
Menschen verlassen in der Regel nicht freiwillig das Land, in dem sie heimisch sind, in dem sie Freunde und Familie haben, sondern weil sie dort keine positive Zukunftsperspektive haben. In der Regel gehen junge, gut ausgebildete  Menschen. Ihren Heimatländern hat ihre Ausbildung hohe Kosten verursacht. Diese Länder werden also in mehrfacher Hinsicht enteignet. 

Inzwischen rührt sich auch in der CDU Widerstand gegen den Pakt. Der Landesverband Sachsen-Anhalt lehnt den  Pakt ab. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will den nächsten CDU-Parteitag darüber abstimmen lassen
Jens Spahn und andere wollen offenbar als Trittbrettfahrer auf die Angstkampagne der AfD aufspringen. Dabei sind sie es selber, die mit ihrer Politik von Freihandelsabkommen  und Rüstungsexporten und einer militarisierten Außenpolitik immer neue Fluchtursachen befördern. Das Engagment von Jens Spahn ist offensichtlich eher innerparteilich motiviert. 

Sie haben kritisiert, dass der Pakt nur die Rechte der Migranten regelt wie ihren Zugang zu den Sozialsystemen, aber kaum etwas über ihre Pflichten sagt. Können Sie denn verstehen, dass dieses Ungleichgewicht viele Bürger verunsichert oder wütend macht? 
Ich halte das für ein großes Versäumnis der Bundesregierung, die maßgeblichen Einfluss auf die Verhandlungen und lange genug Zeit hatte, Aufklärung zu betreiben. Es ist natürlich problematisch, wenn Migration in dem Pakt als eine „Quelle des Wohlstands“ verklärt wird. Es gab Forderungen von afrikanischen Ländern in Bezug auf die Darstellung von Migration in den Medien. Sie wollten, dass  Medien, die negativ darüber berichten, die staatliche Förderung entzogen wird. 

Das wäre ein Eingriff in die Pressefreiheit. Woher nehmen diese Länder das Recht, sich einzumischen? 
Diese Problematik habe ich auch gesehen, auch wenn es richtig ist, fremdenfeindliche Berichterstattung zu kritisieren. Die Forderung wurde aber letztlich zurückgewiesen.  

Tatsächlich? Im Vertrag steht: Medien, „die systematisch Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus fördern“, sollen keine staatlichen Subventionen mehr bekommen. 
Die UN wollten damit einen fakten-orientierten Journalismus fördern. 

Wie kriegt die Bundesregierung die Kuh jetzt noch vom Eis? Müsste nicht das Parlament über den UN-Migrationspakt abstimmen, damit ihn die Bundesregierung im Dezember unterzeichnen kann? 
Es braucht keine Abstimmung im Parlament, weil der Migrationspakt kein rechtlich bindender Vertrag ist. 

Einige Völkerrechtler sehen das anders. 
Zur Wahrheit gehört, dass der Pakt politisch verpflichtende Grundlagen für die Umsetzung enthält. Insofern wird er sich natürlich auf die Politik auswirken. Die UN werden zum Beispiel im Zwei-Jahres-Rythmus überprüfen, ob die Länder den Vertrag einhalten. Alle fünf bis zehn Jahre soll es eine Überprüfungskonferenz geben. Darüber ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen. China und Russland fordern, die Überprüfung müsse freiwillig stattfinden. 

Aber wäre es unter diesen Bedingungen nicht erst recht sinnvoll, das Parlament abstimmen zu lassen?
Ich wünsche mir, dass diese Debatte nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öffentlichkeit geführt wird. 

Neben den USA haben auch schon Australien, Österreich, Polen, Israel und Dänemark angekündigt, aus dem Pakt auszusteigen. Wenn sein Ziel ist, die Migrationsströme weltweit besser zu verteilen, macht er unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch Sinn?
Es ist auch ein Versäumnis der Verhandlungsländer, dass immer mehr Staaten ausscheren. Das größte Versäumnis ist und bleibt allerdings, nicht kritisch zu hinterfragen, wer und was Menschen zu Migranten macht und gegen die Zerstörung ganzer Staaten im Süden dieser Welt Vorkehrungen zu treffen. 

Wird die Bundesregierung den Pakt im Dezember trotzdem annehmen wird?
Ja, davon gehe ich aus. 

Welche Folgen hätte das für die deutsche Politik?
Von der Angstkampagne der AfD könnte das Rechtsaußen-Spektrum profitieren. Langfristig würde die Bundesregierung eine Migrations- und Flüchtlingspolitik machen, die auf ein „Weiter so!“ setzt, statt die Ursachen von Migration und Flucht endlich wirksam zu bekämpfen. Die globale Kluft zwischen Arm und Reich wird konserviert und in Teilen sogar noch vergrößert statt verkleinert.  

Sevim Dagdelen sitzt seit 2005 für die Partei Die Linke im Bundestag. Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. 

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