Ukrainekonflikt - Was Moskau wirklich will

Russland beteuert, kein Interesse an einem Einmarsch in die Ukraine zu haben. Das dürfte zumindest vorerst auch stimmen. Was will Moskau mit seinen Manövern also erreichen? Es spricht viel dafür, dass es den Russen in erster Linie darum ging, die Nato zu spalten. Das Kalkül ist bisher aber nicht aufgegangen.

Fahnen werden vor einem Treffen von US-Außenminister Blinken und dem russischen Außenminister Lawrow vorbereitet / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Betrachtet man das gesamte Verhalten Russlands im Zusammenhang mit der Ukraine, wird seine Strategie klar – oder zumindest so klar, wie es in der Geopolitik eben sein kann. Der Truppenaufmarsch begann vor Monaten. Mit der Zeit dämmerte es den USA und ihren Nato-Verbündeten, dass etwas passieren könnte. Vor einigen Wochen stellten die Russen dann ihre Forderungen vor und verlangten, dass die Nato der Ukraine die Mitgliedschaft im Bündnis verweigert und die Waffen aus Osteuropa abzieht. Anders ausgedrückt: Moskau wollte zu einem Status quo zurückkehren, den es vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion innehatte.

So ergab sich eine Erklärung für das russische Verhalten. Die Forderungen Moskaus erweckten den Anschein, als ob die Ukraine und Osteuropa eine einzigartige Bedrohung für Russland darstellen, die nachlassen würde, wenn die Nato den Schauplatz verlässt. Doch das stimmt einfach nicht, denn Raketen müssen nicht mehr in der Nähe eines Ziels stationiert sein, um eine Bedrohung darzustellen. Diese Forderung ist daher wenig sinnvoll, außer in dem von mir angeführten Fall: Russland braucht strategische Tiefe gegen einen Bodenangriff.

So unwahrscheinlich diese Bedrohung auch sein mag, sie ist urgewaltig und intuitiv. Diese Bedrohung würde etwas abnehmen, wenn sich die Nato nach Westen zurückzöge, aber sie wäre so gut wie beseitigt, wenn die russischen Truppen schließlich nach Westen verlegt würden.

Das Problem bei dieser Denkweise ist, dass Russland sehr wohl wusste, dass die USA und ihre Verbündeten seine Forderungen zurückweisen würden.
Eine andere Theorie besagt, dass Russland schon immer die Absicht hatte, in die Ukraine einzumarschieren. Moskau hätte demzufolge gewollt, dass die Vereinigten Staaten sein Angebot ablehnen, um einen Krieg zu rechtfertigen.

Das Problem mit Deutschland

Die Europäer wollen im Allgemeinen keinen Krieg, ebenso wenig wie viele in den Vereinigten Staaten. Die Russen mögen geglaubt haben, dass die Ablehnung ihrer Forderungen in Europa ernsthafte Besorgnis auslösen würde, aber nicht mehr als eine interessierte Zurkenntnisnahme in den Vereinigten Staaten. Wenn wir also den Schwerpunkt von der Ukraine weg verlagern, könnte es die Absicht Russlands gewesen sein, die Nato einfach so tief zu spalten, dass sie nie wieder repariert werden kann. Wenn man bedenkt, dass die Europäer nicht bereit sind, das Bündnis finanziell ausreichend zu stützen, dass die USA ihren Mitgliedern nicht zutrauen, alle Risiken zu teilen, und dass die allgemeinen wirtschaftlichen Kräfte Europa auseinander treiben, muss sich Russland nicht sonderlich anstrengen, um das Bündnis zu spalten.

In diesem Punkt ist Deutschland, das de facto die Führung in Europa innehat, von entscheidender Bedeutung. Seine Wirtschaft ist derzeit durch die Beschränkungen seines Exportmarktes und die internen Ungleichgewichte infolge der Corona-Pandemie geschwächt. Einer der stabilisierenden Faktoren für die deutsche Wirtschaft war die Zuverlässigkeit der russischen Erdgasexporte, die durch die Nord Stream 2-Pipeline noch erhöht werden sollte. Russland braucht die Einnahmen aus dem Verkauf an Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen.

Russlands Vorgehen in der Nähe der Ukraine hat daher zu einem Dilemma geführt. Deutschland – und eigentlich alle Nato-Mitglieder – brauchen Russlands Energie, trauen Russland aber nicht. Ein Krieg könnte Russland dazu zwingen, die Exporte nach Europa einzustellen, was Deutschland und andere vor die Wahl stellen würde, sich zwischen innerem Chaos und langfristiger Sicherheit vor Russland zu entscheiden. Russland hat keine offensichtlichen Schritte unternommen, weil die Vorstellung eines Angriffs stärker ist als ein tatsächlicher Angriff.

Kalkül bisher nicht aufgegangen

Dies würde erklären, warum die russischen Forderungen abgelehnt werden sollten, um eine Invasion hinauszuzögern, während die Angst vor einem Krieg wächst. Es würde deutsche Solidaritätsbekundungen mit der Nato auslösen, während gleichzeitig dringend nach einer Lösung gesucht wird, die Russland zum Aufgeben zwingt. Es würde die außerordentliche Geduld Moskaus mit der Reaktion der USA erklären, und es würde das Versprechen erklären, dass es trotz der geballten Kräfte keinen Krieg geben wird. Wenn die Nato im Wesentlichen zerbricht, wird Russland in der Lage sein, eine neutrale Militärzone und eine Wirtschaftszone zu schaffen, in der es integraler Bestandteil und Hauptenergielieferant ist.

Das einzige Gegenargument ist etwas, das wir in der Geopolitik normalerweise nicht beachten: die öffentliche Meinung. Die völlige Ablehnung des russischen Angebots hätte die USA spalten und eine allgemeine antiamerikanische Stimmung in Europa hervorrufen müssen. Bisher ist dies nicht geschehen, obwohl Russland im Allgemeinen recht gut darin ist, soziale und politische Spaltungen zu nutzen, um das Verhalten von Ländern zu seinem Vorteil zu beeinflussen.

Moskaus Aktionen und Angebote sollten die USA als unvernünftig darstellen. Dennoch ist in Europa noch keine starke Antikriegsbewegung entstanden, und die Spaltung in Washington bleibt bestehen. Um Europa in die von den Russen gewünschte Richtung zu lenken, bedarf es offenbar der Unterstützung der Öffentlichkeit. Das würde den Regierungen den Handlungsspielraum nehmen – und genau das ist es, was Russland braucht.

Dies ist eine komplexe Erklärung für eine sehr komplexe Reihe von Manövern. Wenn die Nato zerbricht, glauben die Russen, dass sie ohne Risiko die Kontrolle über die Ukraine übernehmen können. Zumindest aus deutscher Sicht sind die Vorteile der Nato nicht mit den Vorteilen des Zugangs zu Erdgas zu vergleichen. Deutschland kann die Nato nicht über das Gas stellen. Russland hat eine Strategie des indirekten Angriffs gewählt, indem es zunächst die Nato schwächt, vielleicht sogar tödlich, und dann erwartet, dass die Ukraine ihm in den Schoß fällt.

Das ist seine Erwartung, aber Russland hat sich, wie andere Nationen auch, häufig geirrt. Die Russen waren vollkommen ehrlich, als sie sagten, sie hätten nicht die Absicht, die Ukraine anzugreifen. Zuvor haben sie Wichtigeres zu tun.

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