Russlands Angriff auf die Ukraine - Neun Lehren aus sechs Monaten Krieg

Seit genau sechs Monaten hält die Ukraine dem russischen Angriffskrieg stand. In vielen Punkten hat er uns zum Umdenken gezwungen. Diese neun Lehren lassen sich daraus ziehen.

Soldaten der Ehrengarde bereiten sich auf das Hissen der ukrainischen Nationalflagge vor / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Putin hat sich verrechnet

Als Wladimir Putin in den frühen Morgenstunden des 24. Februar seine Kriegserklärung an die Ukraine verlas – kaschiert als Beginn einer „Spezialoperation“ zum Schutz der Volksrepubliken Donezk und Lugansk, rechnete er mit einem schnellen Sieg, im besten Fall mit einer panikartigen Flucht der ukrainischen Regierung aus Kiew. Stattdessen blieb Wolodymyr Selenskij in Kiew und wurde über Nacht von einem vielbelächelten Ex-Komiker zu einem Kriegspräsidenten, den die Ukrainer respektieren. Die Ukrainer setzten sich mit allem, was sie hatten, gegen eine scheinbar übermächtige Militärmacht zur Wehr. Das tun sie bis heute so erfolgreich, dass sich Putins Truppen nicht nur aus dem Norden des Landes zurückziehen mussten, sondern dass auch nach sechs Monaten zwar das Gebiet Luhansk komplett erobert ist, das Gebiet Donezk aber erst zu 60 Prozent. Jeder minimale Geländegewinn dort ist für die Russen von großen Verlusten begleitet – hohe Verluste verzeichnen in diesen Grabenkämpfen aber auch die Ukrainer, insbesondere die Infanterie. 

Ein Teil des Westens hat sich verrechnet

Der Kriegsbeginn traf die westeuropäischen Staaten weitgehend unvorbereitet. In einer Rekonstruktion der Washington Post lässt sich nachlesen, wie die US-Amerikaner Länder wie Frankreich und Deutschland vor dem Ernstfall warnten, diese aber mit Verweis auf ihre eigene Russland-Expertise abwinkten. Einzig Großbritannien und die Mittelosteuropäer waren sich mit den Amerikanern einig, dass ein Angriff kurz bevorsteht

Der größte Irrtum der Westeuropäer bestand in der Annahme, Putin würde niemals den größten Trumpf opfern, der ihm seit zwei Jahrzehnten seine Macht sichert: die wirtschaftliche Stabilität. Das hat Putin aber getan, und trotz triumphaler Propagandameldungen aus Moskau über hohe Staatseinnahmen aus dem Handel mit Öl und Gas ist der Abwärtstrend der russischen Wirtschaft unverkennbar: Wahrscheinlich ist ein Rückgang um vier bis sechs Prozent 2022, mit einer starken Abwärtsdynamik gegen Ende des Jahres.

Verrechnet hat sich Deutschland mit zwei Annahmen, die insbesondere unter Sozialdemokraten populär waren: Sicherheit ist in Europa nur mit Russland möglich. Der russische Präsident Wladimir Putin hat mit seinem Angriffsbefehl vom 24. Februar das Schachbrett umgeworfen und auch die Deutschen zum Umdenken gebracht: Sicherheit in Europa muss gegen Russland erkämpft werden.

Die zweite über Jahrzehnte gültige Annahme, die sich als falsch erwiesen hat: Egal, welche Konflikte es zwischen dem Westen und Russland gibt - Moskau liefert zuverlässig Gas. Die Reduzierungen der Gaslieferungen von russischer Seite aufgrund von „Wartungen“ der Pipeline lassen nur einen Schluss zu: Moskau nutzt die Gaslieferungen als Waffe

Es ist nicht Putins Krieg

Das ist Putins Krieg. Bundeskanzler Olaf Scholz wiederholt diesen Satz wie ein Mantra – aber das macht ihn nicht richtiger. Die russische Propagandamaschinerie hat über die letzten 20 Jahre viele Russen, insbesondere die ältere Generation, die das russische Staatsfernsehen konsumiert, zu willfährigen Ja-Sagern gemacht. Der russische Soziologe Grigori Judin hat die psychologische Disposition der meisten Russen zuletzt so formuliert: „Der politische Führer hat eine Entscheidung getroffen, er wird es schon besser wissen, wir unterstützen ihn also.“ 

Das bedeutet: Hätte Putin am 24. Februar verkündet, der Ukraine Donezk und Luhansk zurückgegeben, hätten die meisten das auch gutgeheißen. Natürlich existieren im Land auch ideologisch überzeugte Großrussen, die am liebsten auch noch Kasachstan, Moldawien, Georgien und das Baltikum erobern würden, sie sind aber nicht in der Mehrheit. Dennoch bleibt Scholz’ Satz falsch: Die passive Unterstützung, die der Großteil der Russen ihrem Präsidenten gibt, ermöglicht ihm die Fortführung des brutalen Eroberungskriegs, den er nun schon seit einem halben Jahr führt. 

Nicht jede Idee aus der Ukraine ist gut

Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij fliegen von Seiten westlicher Medien – und vieler Bürger – die Herzen zu. Es ist die alte Geschichte David gegen Goliath, es ist aber auch der Unterschied zwischen dem Politikertypus Selenskij und dem Typus Putin, der sofort ins Auge fällt: Hier der junge Selenskij, der gerade seine Bewährungsprobe besteht, der nicht flieht, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, der menschliche Regungen zeigt, und dort der zynische, kalte Ex-Geheimdienstler, der seine Macht über zwei Jahrzehnte immer mehr ausgebaut und Gegner aus dem Weg geräumt hat, der Reichtümer angehäuft und zum Ende seiner politischen Karriere einen großen Krieg mitten in Europa angezettelt hat. Ungeachtet dessen müssen wir nicht jede Idee, die Selenskij äußert, beklatschen. Dazu gehört etwa die Forderung nach einem Touristenvisa-Verbot für Russen. Die Forderung ist verständlich, hilft aber weder der Ukraine, diesen Krieg zu gewinnen – und befördert auch nicht den Sturz Putins.  

Wir brauchen einen langen Atem

Natürlich wünscht sich jeder – allen voran die Ukrainer – dass dieser Krieg so bald wie möglich endet. Dieser Krieg darf aber nicht zu beliebigen Bedingungen beendet werden: Würden die Ukrainer den Russen für ein Ende der Kämpfe nun Donezk, Luhansk, Cherson, die Krim und einen Teil des Gebiets Saporischja überlassen, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass Russland die nächsten Monate oder Jahre nutzen würde, um sich militärisch wieder zu formieren und dann einen neuen Angriff zu starten. Putin nimmt sich so viel, wie er kriegen kann, daran besteht kein Zweifel. An einer florierenden Ukraine, egal in welchen Grenzen, hat er kein Interesse. Wir sollten es deshalb den Ukrainern überlassen, den Punkt zu definieren, an dem sie mit den Russen verhandeln.

Wir haben ein Interesse daran, dass Russland militärisch geschlagen oder zumindest geschwächt wird, denn das wird die Situation in Europa und darüber hinaus stabilisieren: Russland muss aus dieser missglückten „Spezialoperation“ die Lehre ziehen, dass es eben nicht einfach mit Panzern, Haubitzen und brutaler Gewalt Grenzen in Europa verändern kann. Von uns ist deshalb langer Atem gefragt. Das betrifft zum einen die Frage der Waffenlieferungen: Drei führende Politiker der Ampelkoalition haben gerade konkrete Vorschläge gemacht, wie ein langfristiger Plan aussehen könnte, der gleichzeitig unsere eigene Verteidigungsfähigkeit nicht schwächt.

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Bei den Energielieferungen sind die Weichen gestellt: Deutschland muss unabhängig von russischer Energie werden - je früher desto besser. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass manche Länder in Europa – darunter Bulgarien und die Slowakei – noch viel stärker von russischem Gas abhängig sind als wir. Dieser Winter wird dabei sicherlich kritisch – nicht, weil die Wohnungen kalt bleiben werden, sondern weil viele Menschen horrende Energierechnungen bekommen werden. Der Staat darf die Menschen, die sich das nicht leisten können, nicht alleine lassen. Alle anderen sollten sich ein amerikanisches Sprichwort verinnerlichen: Freedom is not free, sinngemäß übersetzt: Freiheit gibt es nicht umsonst.

Unser Einsatz für ein freies Europa, in dem Aggressoren, die andere Länder überfallen, bestraft werden, wird jeden von uns etwas kosten. Wir sollten uns aber auch nicht kleiner machen als wir sind: Unsere Volkswirtschaft wird auch an einer kurzzeitigen Rezession nicht zugrunde gehen. „Ich glaube fest an die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft“, hat der Milliardär und Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne gerade im Interview mit der FAZ noch einmal betont. 

Die Ukrainer sind für Überraschungen gut

Auf militärischem Gebiet haben die Ukrainer viele im Westen von Anfang an überrascht: Trotz der klaren Unterlegenheit an Waffen und Soldaten hat Kiew dem russischen Großangriff aus drei Himmelsrichtungen standgehalten. Zu Anfang waren die aus der Türkei gelieferten Bayraktar-Drohnen bei den Russen gefürchtet: Mit ihnen griffen die Ukrainer immer wieder russische Militärkolonnen an. Sehr erfolgreich setzen die Ukrainer in den vergangenen zwei Monaten die HIMARS-Mehrfachraketenwerfer ein, um russische Waffendepots und Kommandopunkte weit im Hinterland zu treffen. Aus heiterem Himmel versenkten die Ukrainer Mitte April mit Neptun-Raketen das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte. Und in den letzten Wochen greifen sie – offenbar mit Drohnen – immer wieder militärische Ziele auf der von Russland annektierten Krim an.

Wie genau die Ukrainer das tun, ist ihr Kriegsgeheimnis. Die erfolgreichen Angriffe beweisen aber, dass die Lobeshymnen der Russen auf die eigenen unüberwindbaren Luftabwehrsysteme in den letzten Jahren vor allem eins sind: heiße Luft. Der ein oder andere mag sich auch noch an Matthias Rust erinnern, der das mit seiner Landung auf dem Roten Platz schon vor 35 Jahren unter Beweis stellte.

Der Westen lebt

Der französische Präsident Emmanuel Macron machte 2019 mit der Äußerung Schlagzeilen, die Nato sei hirntot. Der vielbeschworene Westen wankte damals tatsächlich: Donald Trump irrlichterte als US-Präsident durch die Weltpolitik, Boris Johnson hatte sein Land aus der EU geführt. Doch der russische Angriff auf die Ukraine war ein Moment der Wahrheit: Anders als von Putin erwartet, halten die Länder dieser Erde, in denen Demokratie und Freiheit oben auf der Werteskala stehen, zusammen. Natürlich sind in diesem Westen Spannungen und Brüche erkennbar: In der EU hadert man in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit Polen und Ungarn, in der Nato mit der Türkei, die im Irak und in Syrien mit eigenen „Spezialoperationen“ gegen die Kurden vorgeht. Aber gegen Russland, das die Grundlagen des internationalen Systems in Frage stellt, hält die Gemeinschaft zusammen.

Die jetzt erneut zugesagten Waffenlieferungen an die Ukraine und die verschärften Sanktionen gegen Russland sind ein gutes Zeichen. Aber werden die westlichen Staaten alle einen ähnlich langen Atem haben? Besonders der drohende Wiederaufstieg Donald Trumps in den USA bereitet da Sorge. Und nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass ein großer Teil der Welt eben nicht aus dem Westen besteht: Viele Länder in Afrika oder Asien, allen voran Indien und China, pflegen ganz eigene Beziehungen zu Russland. In Mali ist Russland gerade dabei, in Absprache mit dem korrupten Regime des Landes die Europäer zu verdrängen. Auch Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro hält zu Wladimir Putin – zumindest stellt er sich nicht gegen ihn. Allerdings, so alle Umfragen, wird Bolsonaro wohl demnächst Geschichte sein. 

Keine Angst vor roten Linien

Besonders in Deutschland hörte man in den ersten Monaten die warnenden Stimmen aus allen politischen Lagern: Wenn wir die Waffe X an die Ukraine liefern, eskaliert der Krieg, wirft Putin die Atombombe, werden wir in einen Weltkrieg hineingezogen. Nichts davon ist eingetreten, inzwischen setzen ukrainische Soldaten die Panzerhaubitze 2000 erfolgreich gegen russische Waffendepots ein, demnächst sogar mit hochmoderner Vulcano-Munition.

Wer es bis zum 24. Februar noch nicht verstanden hat, sollte es spätestens jetzt realisieren: Wer gegen Putin bestehen will, darf nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen. Ist es zielführend, wenn wir uns selbst ausgedachte rote Linien setzen? Nein, ist es nicht. Denn Putin selbst hat mit seinem Angriff alle denkbaren roten Linien überschritten. Die Frage nach der Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart sollten wir sechs Monate nach Beginn des Kriegs deshalb selbstbewusst von der Kategorie „ob“ in die Kategorie „wann“ verschieben: Mit Artillerie und Raketenwerfern kann die Ukraine den Vormarsch der Russen bremsen, aber so lassen sich keine Gegenoffensiven führen. Dafür braucht die Ukraine gepanzerte Fahrzeuge, und weil wir nunmal keine Panzer sowjetischer Bauart mehr in den Lagern haben und diese hierzulande auch nicht produziert werden, müssen das eben Dingos, Marder und Leopard-Panzer sein. 

Auf Linke und AfD ist international kein Verlass

Auch innenpolitisch war der 24. Februar ein Moment der Wahrheit: Die Ampel-Parteien und die Union bekannten sich im Moment des Angriffs klar und deutlich gegen den russischen Aggressor. Dazu rangen sich zwar auch AfD und die Linke durch, aber in den Parteien tobt seitdem ein heftiger Streit um den Kurs gegenüber Russland. Insbesondere in den Ostverbänden der AfD ist die Russland/Putin-Affinität groß – 2016 gab es gar ein Kooperationsabkommen zwischen den Jugendorganisationen der AfD und der Putin-Partei Einiges Russland.

Die AfD polemisiert deshalb gegen die Sanktionen, die vor allem Deutschland schaden würden, Parteichef Tino Chrupalla wird nicht müde, die Öffnung der Pipeline Nord Stream 2 zu fordern.

Bei der Linken ist die Distanzierung von Russland klarer – auch die Sanktionen werden zum Großteil unterstützt. Der Wagenknecht-Flügel, der in Amerika das größere Übel als in Russland sieht, ist vorübergehend eingedämmt. Aber die Partei sieht sich als Friedenspartei – und positioniert sich deshalb gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr. Kurzum: Es ist ein Glücksfall für das Land, dass diese beiden Parteien in diesem Schlüsselmoment der Geschichte an keiner Bundesregierung beteiligt sind. 

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