Ukraine-Krieg - Russland will Weltmacht werden

Wer, wie der Politologe John Mearsheimer, dem Westen die Schuld am Ukraine-Krieg gibt, betrachtet Russlands Aggression als Reaktion auf eine Bedrohungslage. Doch Russland war durch die Nato nie bedroht. Eine Verhandlungslösung ist schon deshalb nicht möglich, weil sich Russland nicht mit einer neutralen und souveränen Ukraine zufriedengeben würde.

Schon seit Jahren über die Kriegsziele einig? Wladimir Putin und Dimitri Medwedew im Jahr 2017 / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Wie sich Regierungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine verhalten, hängt auch davon ab, wie sie die Frage beantworten, was Präsident Putin, der diese Aggression befahl, in und mit dem Krieg erreichen möchte. Von Beginn der Interpretation der komplexen Kriegs- und Krisenlage an hat sich – insbesondere in die deutsche Diskussion – eine Unschärfe eingeschlichen, die zu in sich widersprüchlichen Positionen führte.

So argumentierte Herfried Münkler in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung Mitte Mai, dass die Ukraine in einem Raum überlappender Interessensphären Russlands und der EU liege, was nach einem neutralen Status des Landes verlange, den die Staaten im Normandie-Format hätten aushandeln müssen. Zu Recht weist er darauf hin, wie viel Leid und welch hohe wirtschaftliche Kosten dies vielen Menschen erspart hätte. Auf die selbstgestellte Frage, warum sich Putin darauf nicht einließ, lautet die Antwort wörtlich: „Er sah wohl machtopportunistisch die Möglichkeit, nachdem Weißrussland und Kasachstan in seine Abhängigkeit geraten waren, die Ukraine ganz in seinen Einflussbereich zu bringen. Zudem hatte er Angst vor einer demokratischen Ukraine vor der Haustür und denkt wohl auch, nur ein Russland mit einverleibter Ukraine habe imperialen Charakter. Und um die Erneuerung des Imperiums geht es ihm ja offensichtlich.“

Abgesehen davon, dass die Lage für Kasachstan anders beurteilt werden kann, ist diese Antwort völlig korrekt. Sie passt nur nicht zur Idee, eine Verhandlungslösung über eine neutrale, aber souveräne Ukraine wäre möglich gewesen. Russland strebt eine „denazifizierte und demilitarisierte“ Ukraine nicht als souveränen neutralen Staat an, sondern als Raum, in dem alleine die russischen Interessen die politische, ökonomische und soziale Entwicklung dominieren. Also als Einflusszone, die eng an Russland gebunden ist. Russland will die Ukraine als souveränen Staat beenden, weil es diesen Staat und sein Staatsvolk aus eigenem Recht überhaupt nicht gebe – das sagt jedenfalls Präsident Putin, dessen „Geschichtsphilosophie“ die Richtschnur für das Handeln Russlands ist, während das Völkerrecht dahinter zurücktritt.

Das Ziel, die Ukraine ganz einzunehmen, bleibt bestehen

Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland die Ukraine in dem Krieg niederwerfen, ihren Willen brechen und sie einnehmen will. Dieser Zweck steckt hinter den Kriegszielen der „Denazifizierung und Demilitarisierung“, er hat den frühen Angriff auf Kiew begründet und trägt deshalb die Einsicht, dass sich Russland auf die Besetzung der vier östlichen und südöstlichen ukrainischen Verwaltungsbezirke möglicherweise für eine gewisse Zeit beschränken könnte, weil ihm die militärische Kampfkraft fehlt, mehr zu erreichen. Aber das Ziel, die Ukraine ganz einzunehmen, bleibt bestehen, solange Putin oder Gleichgesinnte in Russland herrschen. Es sei denn, man nimmt das Reden der russischen Führung nicht ernst – um zu sagen, man wisse nicht, was sie will.

Mit dem Krieg soll aber mehr erreicht werden. Auch diese Ziele lassen sich durch Aussagen des politischen Führungspersonals, insbesondere des Präsidenten, sowie durch Vertragsentwürfe an die USA und Nato erkennen. Russland strebt an, die EU sowie die Nato zu demontieren. Denn ohne diese beiden Organisationen würde der russische Einfluss auf die einzelnen europäischen Staaten dominant werden. Soweit es die EU betrifft, hat dies Interimspräsident Dimitri Medwedew veranschaulicht, als er die Erteilung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine mit dem Satz kommentierte, der Beitritt werde so lange brauchen, bis es die EU nicht mehr gebe. Und hinsichtlich der Nato hat die russische Propaganda ja das Argument, sie hätte gemeinsam mit dem Warschauer Pakt aufgelöst werden müssen, auch in die deutsche Diskussion gepflanzt. Gerhard Schröder hat zusammen mit Gregor Schöllgen ein ganzes Buch dazu geschrieben: „Letzte Chance“. Ob beide ahnten, dass die Auflösung der Nato die „letzte Chance“ war, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu vermeiden?

Russland hat diese beiden Ziele in zwei Verträgen ausgearbeitet, die das russische Außenministerium als Vorschläge an die USA und Nato im Dezember 2021 veröffentlichte. Das war ein ungewöhnlicher diplomatischer Vorgang, der immerhin dazu führte, dass die USA Russland Gespräche über Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen angeboten hatten. Russland lehnte dies ab, denn das waren nicht die Ziele, die es erreichen wollte. Erreichen wollte es erstens die Preisgabe der Ukraine an Russland, zweitens die militärische Neutralisierung Osteuropas und drittens die Abkehr der USA von Europa. Deshalb wurde in den Vertragsentwürfen vorgeschlagen, dass der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft verwehrt wird und in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes keine ausländischen Truppen stationiert werden dürfen. Auf diese Weise wäre das militärische Drohpotential Russlands zum politisch ausschlaggebenden Faktor in dieser Region geworden.

Die Absicht, Europa zu dominieren, hat Putin nie aufgegeben

Aus den europäischen Staaten sollten zudem die amerikanischen Nuklearwaffen abgezogen werden (wofür sich in Deutschland schon die SPD, FDP und Grüne ausgesprochen hatten), um die amerikanische von der europäischen Sicherheit zu entkoppeln, weil die nukleare Abschreckung damit für die westeuropäischen Staaten hinfällig wäre. Weder die EU noch die Nato hätten Zonen ungleicher Sicherheit in ihren Organisationen auch nur eine ernsthafte Krise lang ausgehalten. Es hätte also in der Hand der russischen Führung gelegen, diese Krise zu provozieren, um beide Organisationen zu liquidieren.

Bekanntlich kam es ja anders. Die EU-Staaten entwickelten eine gleichgerichtete Analyse der Bedrohung durch Russland und unterstützen die Ukraine, erklärten sie sogar zu einem Beitrittskandidaten. Die USA engagierten sich noch weit stärker und intensivierten ihre Verpflichtungen in Europa. So könnte man zu der Einschätzung gelangen, dass sich die russischen Zwecke im Kriegsverlauf geändert haben. Und richtig ist, dass die Kriegsziele Russlands nach der misslungenen Einnahme Kiews angepasst wurden. Die Absicht, Europa zu dominieren, hat die russische Regierung allerdings nicht erst seit kurzem, sondern seit Präsident Putin an der Macht ist – also über zwei Jahrzehnte.

Die USA aus Europa treiben, den osteuropäischen Raum wieder eng an Russland binden und damit die westeuropäischen Staaten schutzlos russischem Einfluss aussetzen: Diese Ziele verfolgt Putin von Beginn an. Deswegen fokussiert sich sein Handeln in und um Europa darauf, die europäischen Staaten von russischen Energielieferungen abhängig zu machen; im Nahen Osten und Nordafrika, dem europäischen Umfeld, einflussreicher zu sein als die EU-Staaten; Migration und Desinformation als Mittel hybrider Kriegsführung einsetzen zu können. Dies alles sind Mittel zum Zweck. Derart lange verfolgte Ziele gibt Russland nicht wegen einer verlorenen Schlacht auf.

Russland will neben den USA und China Weltmacht sein

Bisher gingen die Annahmen Putins, dass sich die USA von Europa abwenden, dass die EU politisch an sich selbst scheitert und die Unterstützung der Ukraine ausbleibt, nicht in Erfüllung. Deshalb ist der russische Präsident damit gescheitert, seine drei Ziele zu erreichen: die Einnahme der Ukraine, wehrlose Staaten in Osteuropa, Abkehr der USA von Europa. Das heißt aber nicht, dass diese Absichten aufgegeben wurden; Russland arbeitet daran, sie alle drei umzusetzen. Der militärische Krieg in der Ukraine, die energiepolitische Krise in Europa, Hunger und Migration sind unterschiedliche Facetten einer Politik, die Russland wieder zur Weltmacht erheben soll. Denn das ist der eigentliche Zweck von Russlands imperialistischem Ausgriff: neben den USA und China Weltmacht zu sein.

Weltmacht ist Russland derzeit nur bei Nuklearwaffen. Demographisch und ökonomisch entspricht Russland einem Zehntel von China, und ohne europäische Einflusszone kommt es ohnehin nicht auf Augenhöhe. Die anderen Staaten Europas mit imperialistischer Vergangenheit haben diesen Anspruch aufgegeben und sich in der EU zusammengeschlossen, um gemeinsam weltpolitischen Einfluss nehmen zu können. Russlands Anspruch ist der politische Gegenentwurf zur EU, um Europa eine internationale Stimme zu geben. Dieser ordnungspolitische Konflikt zwischen Russland und der EU wird die nächsten Jahre prägen, falls nicht eine Seite zuvor ihren Anspruch aufgibt.

Das Argument, dass man die Betrachtung nicht erst mit dem Kriegsbeginn 2022 oder der Annexion der Krim 2014 beginnen lassen dürfe, sondern die „Vorgeschichte“ berücksichtigen müsse, wird mit der Absicht vorgetragen, den Angriffskrieg Russlands als defensives Wehren darzustellen. Russlands Sicherheit sei durch die „Expansion der Nato“ bedroht, weshalb der eigentliche Aggressor die Nato sei. Das ist falsch, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn Russland und die Nato-Staaten hatten sich auf ein Ordnungsmodell für das Zusammenleben in Europa geeinigt (und das 1997 mit der Nato-Russland-Grundakte auch schriftlich vereinbart). Souveränität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, also das Ordnungsmodell der EU, wurden hier festgeschrieben. Sogar von „neuen Nato-Staaten“ ist darin die Rede, denn die ersten Beitritte standen bevor. Russland hat diese Grundlage verlassen, nicht die Nato-Staaten, die erst in Reaktion auf die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass überhaupt fremde Truppen in den osteuropäischen Nato-Staaten stationierten – und das in sehr geringer Zahl.

Die Sicherheit Russlands war durch die Nato nie gefährdet

Von der Nato ging keine Gefahr für Russland aus, aber osteuropäische Staaten fürchteten den militärischen Revanchismus aus Moskau – und traten deshalb dem Bündnis bei. Auch dass die Truppenstärke in Osteuropa jetzt erhöht wurde, war eine Reaktion auf den Angriffskrieg, keine Politik aus eigenem Antrieb.

Denn die Sicherheit Russlands war durch die Nato nie gefährdet. Wohl aber war das Machtstreben Russlands durch den Beitritt osteuropäischer Staaten eingeschränkt. Wer Russlands Aggression also als Reaktion ansieht, muss – wie der Politikwissenschaftler John Mearsheimer – von der Prämisse ausgehen, dass Staaten immer nach einem Maximum an Macht streben. Wer – wie andere Vertreter des Realismus – davon ausgeht, dass Staaten nach Sicherheit streben (was etwas völlig anderes ist, als immer mehr Macht anhäufen zu wollen), kommt zu anderen Schlüssen.

Wissenschaftliche Prämissen werden in der derzeitigen Diskussion ja von manchen als politisches Statement gewertet (und wenn das Wissenschaftler tun, weiß man, dass es keine sind). Tatsache ist, dass Russlands Sicherheit durch die Spannbreite nuklearer Abschreckung umfassend gewährleistet ist. Kein Staat wird Russland angreifen, außer er nimmt seine nukleare Zerstörung in Kauf. Auch hierfür ist der Krieg in der Ukraine Beleg und könnte es noch intensiver werden. Wer also behauptet, Russlands Sicherheit sei durch die Beitritte zur Nato gefährdet, führt einen falschen Grund an, denn dies stimmt nicht. Oder es werden die nuklearen Abschreckungspotentiale nicht in Rechnung gestellt. Dann ist es schlicht ein kenntnisfreies Reden.

Richtig ist, dass Russlands Machtstreben durch die Beitritte zur Nato eingedämmt wurde, denn auch das westliche Militärbündnis verfügt über nukleares Abschreckungspotential. Dann führt dieses Argument zum imperialistischen Motiv für Russlands Vorgehen zurück.

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