Ukraine-Krieg - Kritik an Melnyk-Äußerungen: Wer war Stepan Bandera?

In einem Interview mit dem Journalisten Tilo Jung hat der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk den einstigen Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in Schutz genommen. Melnyks Äußerungen stießen in Polen, aber auch in Teilen der deutschen Öffentlichkeit auf heftige Kritik. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich gar von den Aussagen seines Botschafters. Denn auch in der Ukraine ist der Nationalist Bandera umstritten.

Viel diskutierter Nationalheld der Ukraine: Stepan Bandera / dpa
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Autoreninfo

Franziska Davies ist Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München

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Stepan Bandera war ein Anführer der 1929 in Wien gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), deren Ziel die Errichtung eines unabhängigen ukrainischen Staates war. Vorherige Versuche der Errichtung eines solchen Staates, einerseits im Zuge des Zusammenbruches des russischen Zarenreichs (1917) und andererseits dem des Habsburger Reichs (1918), waren gescheitert (in der Westukraine an der polnischen Armee; in der Zentral- und Ostukraine an der Roten Armee).

Danach radikalisierte sich der ukrainische Nationalismus erheblich. Die Ideologie der OUN war geprägt von Antisemitismus und extremer Feindschaft gegenüber Polen und Russen. Sie war Teil jener faschistischen Strömungen, die in den 1920er und 1930er Jahren in ganz Europa einflussreich wurden. Wichtige Stichwortgeber dieses „integralen Nationalismus“ saßen in Lwiw (auch Lwów oder Lemberg genannt). Ideologisch zeichnete sich die OUN durch eine sakrale Überhöhung der Nation aus, sowie durch die Gewaltbereitschaft im Kampf für die Errichtung dieser Nation. Im Polen der Zwischenkriegszeit wurden Ukrainerinnen und Ukrainer massiv diskriminiert. Das war unter anderem der Nährboden für die Ideologie der OUN, die besonders junge Männer anzog.

Insgesamt verschlechterte sich in den 1920er und 1930er Jahren das ukrainisch-polnische Verhältnis. Ukrainische Terroristen bekämpften den polnischen Staat, der darauf mit Gewalt – auch gegen Unbeteiligte – reagierte. Zwischen die Fronten gerieten dabei, wie so oft, die Juden. Ukrainische Nationalisten suchten Kontakt zu NS-Deutschland in der Hoffnung, Unterstützung für einen unabhängigen ukrainischen Staat zu finden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 und seiner Aufteilung Ostmitteleuropas wurden sie zunächst enttäuscht. Die heutige Westukraine (damals Ostpolen) fiel an die Sowjetunion und im September 1939 marschierte die Rote Armee ein. Das damalige Ostpolen wurde gewaltsam in die ukrainische Sowjetrepublik integriert. Das bedeutete einerseits eine Ukrainisierung, andererseits wurden aber ukrainische Nationalisten verfolgt.

Deportationen und Erschießungen

Der sowjetische Terror – Deportationen und Erschießungen – richtete sich aber in besonderem Maß gegen Polinnen und Polen, die als Repräsentanten des bürgerlichen Staates galten. Aber auch Juden, Ukrainerinnen und Ukrainer sowie Belarussen und Belarussinnen zählten massenhaft zu den Opfern. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zog sich die Rote Armee aus der Westukraine zurück. In vielen Städten (z.B. in Lwiw) ermordete der NKWD davor Gefängnisinsassen.

Angefacht von der NS-Propaganda wurden für diese Morde „jüdische Bolschewisten“ verantwortlich gemacht, obwohl neben Ukrainerinnen und Ukrainern sowie Polinnen und Polen auch jüdische Zionisten unter den Opfern waren. In der gesamten Westukraine kam es zu grausamen anti-jüdischen Pogromen, bei denen ukrainische Nationalisten und Milizen eine Schlüsselrolle spielten. Diese Pogrome gab es in vielen Regionen in Ostmitteleuropa, wo sich dieser deutsch-sowjetische Herrschaftswechsel im Sommer 1941 vollzog.

Die Hoffnungen der OUN auf einen unabhängigen Staat unter deutscher Ägide zerschlugen sich schnell. Führende Mitglieder wie Stepan Bandera wurden verhaftet. Viele OUN-Mitglieder wurden von den Deutschen in KZs interniert oder erschossen. Im weiteren Verlauf des Kriegs beteiligten sich OUN-Mitglieder als Teil von lokalen Polizeieinheiten an der Ermordung des ukrainischen Judentums. Federführend war der militärische Arm der OUN, die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), bei der Ermordung der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien und in Teilen Ostgaliziens 1943/44.

 

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Die UPA kämpfte zu diesem Zeitpunkt sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen Deutschland und beanspruchte Wolhynien als Teil eines zukünftigen ethnisch homogenen ukrainischen Staates. Zwischen 70.000 und 100.000 Polen wurden ermordet. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer warnten ihre polnischen Freunde, Nachbarn und Familienmitglieder – obwohl sie wussten, dass sie deswegen ebenfalls von der UPA ermordet werden konnten. Einheiten der polnischen Heimatarmee verübten grausame Racheakte an der ukrainischen Zivilbevölkerung, 10.000 Menschen starben.

Damit wurde auch viel Gemeinsames zerstört, denn es gab viele polnisch-ukrainische Familien und Freundschaften. Der Kampf der UPA gegen die Sowjetunion ging bis in die 1950er Jahre weiter. Das spielt für ihre Überhöhung eine wichtige Rolle. Neben (Mit-)Tätern und deren stummen Zeugen gab es Ukrainerinnen und Ukrainer, die Jüdinnen und Juden retteten. Aber wie in allen von NS-Deutschland besetzten Regionen konnten diese sich nicht auf Hilfe verlassen.

Zu sagen: „Bandera war kein Massenmörder“, wie der ukrainische Botschafer Andrij Melnyk es tut, ist spitzfindig. Bandera ist persönlich keine Beteiligung an den Massenmorden nachzuweisen. Er wurde kurz nach Kriegsbeginn von den Deutschen inhaftiert. Aber er war eine zentrale Figur der OUN. Wie viele Nazis haben nicht persönlich gemordet? Massenmörder sind sie trotzdem. Wie gehen wir mit diesen Leugnungen um? Ziel ist ein Europa, in dem nirgendwo Menschen verehrt werden, die sich an den Massenverbrechen des Zweiten Weltkriegs beteiligt haben. Wie erreichen wir das? Durch Aufklärung und durch Diskussionen. In Bezug auf die Ukraine ist in dem Zusammenhang aber wichtig, dass Bandera auch dort eine umstrittene Figur ist – und erst seit den 1990er Jahren kann über diese Themen öffentlich gesprochen werden.

Bandera-Verehrung in der Westukraine

Erst in der unabhängigen Ukraine wurde das besondere Leid der Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs vom Staat offiziell als solches anerkannt. Es waren gerade ukrainische Historikerinnen und Historiker, die oft in sehr prekären Arbeitsverhältnissen Grundlagenforschung zum Holocaust in der Ukraine geleistet haben. Besonders nach den Aufständen auf dem Maidan 2013/14 haben die Diskussionen etwa an den Unis neuen Aufschwung erhalten. Gerade viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer sind Melnyk in dieser Hinsicht weit voraus. Sie leugnen nicht, sondern sie diskutieren. Außerdem entstehen neue Erinnerungslandschaften an jüdische Gemeinden in der Ukraine – einige in der Nähe von Denkmälern für OUN-Führer.

In der Westukraine, wo die Bandera-Verehrung verbreitet ist, gilt er in der populären Erinnerungskultur als anti-sowjetischer Freiheitskämpfer. Die Verbrechen der OUN werden geleugnet, relativiert, teilweise sind sie tatsächlich unbekannt. Besonders für jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer ist das ein Schlag ins Gesicht, auch wenn nur eine Minderheit in der Ukraine in der direkten Tradition des „integralen Nationalismus“ steht. Melnyk muss wissen, dass die Beteiligung der OUN und der UPA an Verbrechen erwiesen ist. Da muss man widersprechen. Aufgrund seiner Position darauf zu schließen, dass die Ukraine ein Land von Nazi-Verehrern ist, ist aber falsch. Wüste Beschimpfungen von Melnyk bringen uns dem Ziel nicht näher. Stattdessen muss sich die Debatte erweitern. Die Ukraine ist ein pluralistisches Land, und Melnyk ist nicht die Ukraine. Mein Vorschlag für künftige Gäste bei Tijo Jung: Andrii Portnov, Denis Trubetskoy, Oleksandra Bienert und Anastasia Magazova.

Gestus moralischer Überlegenheit

Ein bisschen Demut wäre für Deutsche außerdem angemessen, ein Gestus der moralischen Überlegenheit ist kontraproduktiv. Wie berechtigt ist unser Selbstbild als „Meister der Erinnerung“? Die Aufarbeitung begann in Westdeutschland (obwohl Deutschland zweifelsfrei Täter war, die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer überwältigenden Mehrheit Opfer) gegen große Widerstände in den 1960er Jahren in einer wohlhabenden Demokratie. Die Grenzen waren durch ein Militärbündnis gesichert, zu dem der Ukraine auch auf Druck Deutschlands der Zugang verwehrt wurde. Erst in den 1990er Jahren wurde die Verantwortung für den Holocaust endgültig zur Staatsräson. Heute wird der erinnerungspolitische Konsens nicht nur von der AfD angegriffen.

Außerdem sind viele Aspekte des Zweiten Weltkriegs bis heute nicht Teil des gesellschaftlichen Wissens, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verbrechen in der Sowjetukraine („Holocaust by bullets“, Zwangsarbeit, Hungerpolitik, „Feuerdörfer“ wie Korjukiwka). Meine polnische Bekannte Agnieszka, deren Mutter als kleines Kind vor der UPA fliehen musste, hat mir Folgendes gesagt: „Die Verehrung von Bandera werde ich niemals akzeptieren. Über all das werden wir diskutieren – sobald die Ukraine gewonnen hat. Wir kritisieren seit Jahren eure Bandera-Verehrung, aber jetzt stehen wir an eurer Seite.“ Unter anderem dadurch ist die polnische und moralische Autorität in der Ukraine viel höher als die deutsche. Sie hat bereits Wirkung gezeigt, ich habe hier darüber geschrieben:


Man muss Agnieszkas Haltung nicht teilen und sagen: „Ich widerspreche immer, wenn Verbrechen geleugnet werden.“ Wichtig ist die Art und Weise und die Berücksichtigung des Kontexts. Beschimpfungen und der berüchtigte moralische Zeigefinger der Deutschen bringen uns nicht weiter. Der Kampf der Ukraine ist ein Kampf um ihre Freiheit und Demokratie. Nur in einer Demokratie werden die kontroversen Debatten zu Bandera weitergehen können. Das bedeutet: Wer will, dass es irgendwann eine Ukraine ohne Bandera-Statuen gibt, sollte sie in ihrem Existenzkampf unterstützen. Die Verehrung von Bandera zu kritisieren und gleichzeitig solidarisch mit der Ukraine zu sein, gehört zusammen. Die EU kann hier eine wichtige Rolle spielen. Das ukrainische Außenministerium hat sich bereits von Melnyk distanziert.

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