Ukraine-Krieg - Der Westen hat keinen Exit-Plan

Die Ukraine gerät militärisch zunehmend unter Druck. Zugleich ist der Westen weder in der Lage noch willens, die notwendige Unterstützung zu leisten. Es droht das schlimmste aller Szenarien: Ein siegreicher Putin und ein gespaltener, geschwächter Westen.

US-Präsident Joe Biden / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Vor genau zwei Jahren und einer Woche begann der Überfall Russlands auf die Ukraine. Und nie war die Lage bedrückender und ernster. Der Westen steht vor den Trümmern einer von vornherein aussichtslosen politischen Strategie – falls er überhaupt je eine Strategie hatte.

Damit droht ein Worst-Case-Szenario: eine erschöpfte Ukraine, die kaum noch in der Lage ist, dem russischen Druck standzuhalten. Und ein Westen, der weder finanziell noch rüstungsökonomisch in der Lage ist, der Ukraine im militärisch notwendigen Umfang zu helfen. Dabei fehlt es der Ukraine derzeit an allem: an Panzern, an Kettenfahrzeugen, an Artillerie und an Munition. Eine Million Granaten versprach die EU der Ukraine im März. Geliefert wurden 300.000.

Es bestätigt sich das, was schon in den ersten Kriegsmonaten absehbar war. Die Ukraine bekommt zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen hapert es im Westen schlicht an Kapazitäten. Rheinmetall etwa produziert derzeit 450.000 Granaten im Jahr. Klingt viel, ist aber angesichts der Realitäten in der Ukraine wenig.

Hinzu kommt eine fehlende Strategie. „All in“ zu gehen verbot, selbst bei vorhandenen Ressourcen, das unkalkulierbare Eskalationspotential. Also entschied man sich, insbesondere von amerikanischer Seite, immer nur so viel Rüstungsgüter zu liefern, dass die Ukraine den russischen Aggressoren zwar standhalten, diese zugleich aber nicht in einer Weise schlagen konnte, die möglicherweise unberechenbare Reaktionen Moskaus heraufbeschworen hätte.

Das durchaus einmal offene Fenster für Verhandlungen hat sich schon lange geschlossen

Man kann das so machen, auch wenn es mit Blick auf den Blutzoll der dabei zu entrichten ist, eine zynische Strategie ist. Was man dann aber unbedingt braucht, ist ein Exit-Plan. Denn einen Abnutzungskrieg wird langfristig Russland gewinnen, nicht die Ukraine. Ein Blick auf die Landkarte, die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftsdaten genügt für diese Einsicht.

Doch genau diesen Exit-Plan hatte man nicht, im Gegenteil. Nicht wenige Protagonisten – interessanterweise vor allem in Deutschland – verrannten sich in die einfältige Formel, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, ohne zu definieren, was das eigentlich genau heißen soll.

Nun allerdings sind wir an einen Punkt gekommen, an dem die Ukraine den Krieg so lange gewinnen musste, dass sie ihn zu verlieren droht. Dass das bei nüchterner Betrachtung der Dinge schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn klar war und auch so artikuliert wurde, macht die Sache nicht besser.

 

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Jetzt ist guter Rat teuer. Das durchaus einmal offene Fenster für Verhandlungen hat sich schon lange geschlossen. Verhandeln aber muss man, da Putin vermutlich auch morgen noch im Amt ist. Also gilt es, die Ukraine militärisch überhaupt in eine Lage zu versetzen, die Russland klar macht, dass ein militärischer Sieg unmöglich ist. Doch dafür mangelt es zurzeit an allem.

Zugleich rücken die amerikanischen Präsidentenwahlen immer näher. Auch die kommen nicht überraschend. Und dass ein Donald Trump gute Chancen auf eine zweite Amtszeit hat, pfiffen auch schon 2022 die Spatzen von den politischen Dächern.

Macrons Vorstoß von Anfang dieser Woche, westliche Bodentruppen in die Ukraine zu senden – wohl nicht für den Fronteinsatz im Osten, aber zur Entlastung in anderen Bereichen –, spiegelt die ganze Hilflosigkeit des Westens. Und er verdeutlicht, woran es auch mangelt: Koordination, Absprache, Formulierung gemeinsamer Ziele.

Der Westen agiert inkohärent

Doch der Westen handelt nicht nur unkoordiniert. Er agiert auch noch inkohärent. Denn während man Israel zu einem Waffenstillstand in einer militärisch lösbaren Aufgabe zwingen möchte, bestärkt man die Ukraine in einem Krieg ohne realistisches Ziel.

Und so schlittert man in das gefährlichste aller Szenarien hinein: eine siegreiche russische Armee, ein enthemmter Putin, ein geschwächter, uneiniger Westen und keine tragfähigen diplomatischen Brücken mehr. Denn die hat man im moralischen Übereifer des Jahres 2022 in die Luft gejagt, als gäbe es kein Morgen.

Doch die Fehler der Vergangenheit zu beklagen, bringt keinen weiter. Allerdings darf das Versagen von gestern nicht zum Versagen von morgen führen. Es ist Zeit, realistisch Ziele zu formulieren (den Erhalt der Ukraine als überlebensfähigen Staat), die dafür notwendigen militärischen Mittel bereitzustellen und endlich wieder politisch aktiv zu werden.

Außenpolitische Pragmatiker wie der jüngst verstorbene Henry Kissinger wussten immer, dass man um der höheren Interessen willen auch mit Massenmördern, Schlächtern und Völkerrechtsbrechern in die Kameras lächelt, Hände schüttelt und verhandelt. Man sollte sich mal wieder dieser alten diplomatischen Tugenden erinnern.

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