Ukraine - Droht der NATO ein Krieg mit Russland?

Die Debatte um das Entsenden von westlichen Bodentruppen zeigt, dass wir uns auf einer schiefen Ebene hin zu einer Beteiligung am Ukraine-Krieg befinden. Dabei sollte Diplomatie und die Suche nach einem Frieden das Gebot der Stunde sein.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg / picture alliance
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Seit den letzten Tagen und Wochen gibt es eine fast schon hysterisch zu nennende öffentliche Debatte in Deutschland, in der der Eindruck entstehen kann, als sei der Westen bereits Kriegspartei. Sie ist wesentlich bedingt durch die gescheiterte Offensive der ukrainischen Streitkräfte im letzten Jahr und die Veränderung der Unterstützungslage für die Ukraine. In ihrem moralischen Furor wird sie beflügelt durch das Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien; der Krieg wird jetzt fast ausschließlich als Kampf des Guten gegen das Böse verstanden.

Differenzierende Auffassungen und Hinweise auf Mitverantwortung der NATO aufgrund der von ihr betriebenen, gegen russische Großmachtinteressen verstoßende Erweiterungspolitik werden als „Putinversteherei“ abgetan und verurteilt. Dass die Ukraine den Krieg mit einem vollständigen militärischen Sieg beenden sollte, wird unverändert zum anzustrebenden Ziel erklärt. Allerdings bestimmen jetzt aber auch düstere Vorahnungen, dass die Ukraine den Krieg verlieren könnte und als nächstes auch NATO-Staaten mit einem russischen Angriff rechnen müssen, die Debatte.

Wir befinden uns auf einer schiefen Ebene

Aber nicht nur die aktuelle Diskussion vor allem in den sozialen Medien stärkt den Eindruck, als bewegten sich die NATO und vor allem ihre europäischen Mitglieder auf einen bewaffneten Konflikt mit Russland zu. So spricht Präsident Macron – unterstützt von einigen Führern aus den neuen Mitgliedsländern der NATO – überraschend davon, dass auch die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nicht ausgeschlossen sei. Bei allen inzwischen dazu gemachten Kautelen könnte dies zwangsläufig zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland führen. Dies herunterzuspielen und die von Macron explizit genannte Möglichkeit als bloße strategische Ambiguität zu bezeichnen, überzeugt nicht. Die Glaubwürdigkeit gebietet, nur das als Möglichkeit im Rahmen einer strategischen Ambiguität zu nennen, wozu man auch tatsächlich bereit und in der Lage wäre. 

Aber davon abgesehen: Auch die Debatte um die Lieferung von weitreichenden Waffensystemen wie Taurus zeigt schon, dass wir uns auf einer schiefen Ebene hin zu einer Beteiligung an diesem Krieg befinden. Die selbst gezogene und von Bundeskanzler Scholz erneut bekräftigte „rote Linie“, dass keine NATO-Truppen in die Ukraine verlegt werden, kann letztlich nicht verschleiern, dass die Definition, was eine „Kriegspartei“ ausmacht, nicht völkerrechtlich feststeht, sondern letztlich in den Händen Russlands liegt.

Verbal abrüsten und diplomatisch aufrüsten

Was ist in dieser Situation zu tun? Verbal abrüsten und diplomatisch wie militärisch aufrüsten. Dazu ist es nützlich, sich der während des vergangenen Kalten Kriegs gemachten Lehren und der realpolitischen Erfahrungen zu erinnern und nicht in eine emotional gesteuerte irrationale Ausgrenzungsstrategie gegenüber Russland zu verfallen; gleichzeitig muss jedoch in Europa entschlossen und hoffentlich auch geschlossen das getan werden, was unsere Sicherheit erfordert. Dazu kann auch die Beherzigung des Rooseveltschen Grundsatzes „Speak softly but carry a big stick“ eine richtige Leitlinie sein.

War nicht die Kriegsverhinderung mit der Nuklearmacht Sowjetunion beziehungsweise Russland stets ein zentrales Anliegen der NATO – und zwar unabhängig davon, wie „appetitlich“ die Führung in Moskau war? Und zwar nicht aus Angst oder Beschwichtigung, sondern aufgrund eines sorgfältig und nüchtern abgewogenen realpolitischen Kalküls? Wurde nicht aufgrund dessen zumindest zu Zeiten des Kalten Kriegs sorgfältig darauf geachtet, dass es eine ausgewogene Kräftebalance gab und genügend Mittel zur Abschreckung gegen einen Angriff bereitstanden? Und wurden nicht gleichzeitig Dialog und Zusammenarbeit auf den verschiedensten Ebenen und auch Vereinbarungen angestrebt, damit Transparenz über bestehende militärische Potentiale und Aktivitäten hergestellt wurde, um vor dem Ausbruch eines militärischen Konflikts, der unbeabsichtigt oder aufgrund von Fehlkalkulationen entstehen könnte, zu schützen?

 

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Ein erster Schritt hin zur rhetorischen Abrüstung besteht in der Anerkennung, dass das Argument, die Ukraine verteidige in dem Krieg auch die Freiheit und Sicherheit des Westens, schlicht falsch ist. Es ist der Ausgangspunkt für all diejenigen, die allein auf die militärische Karte setzen. Es mag zwar aufgrund des menschenverachtenden militärischen Angriffs auf die Ukraine verständlich sein; dennoch: Die Ukraine verteidigt ihre eigene Souveränität und Freiheit und nicht die der NATO oder des Westens. Beim Ukraine-Krieg handelt es sich gerade nicht um einen Stellvertreterkrieg, in dem die westlichen Werte verteidigt werden. Wäre er es, so wäre es geradezu feige, wenn der Westen dies allein der Ukraine überließe und nicht mit eigenen Kräften eingriffe.

Dennoch, die fortgesetzte militärische Unterstützung der Ukraine ist notwendig, geht es doch um die Wahrung zentraler Prinzipien für die regelbasierte Weltordnung: dem Verbot von Angriffskriegen und der Gewährleistung territorialer Integrität. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, dem Angriffskrieg zu widerstehen und sich als eigenständiger und lebensfähiger Staat in gesicherten Grenzen zu behaupten. Dieses Anliegen – und nicht der Kampf zwischen Autokratien und Demokratien – sollte gerade auch den ungebundenen Staaten – unabhängig ob demokratisch verfasst oder nicht – vermittelbar sein. Es gilt, den fatalen Präzedenzfall einer Welt zu verhindern, in der das Recht des Stärkeren gilt und zu chaotischen Verhältnissen führt.

Russischer Angriff auf die NATO ist illusorisch

Inzwischen ist – wie der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnij schon vor einigen Monaten einräumte – in dem Krieg eine Pattsituation eingetreten. Der jetzt herrschende langwierige und sehr verlustreiche Abnutzungskrieg begünstigt letztlich den Staat mit den größeren materiellen wie personellen Ressourcen; und dies ist klar Russland. Dennoch: Es bedarf weiterer militärischer Unterstützung, um die Ukraine – u.a. durch die Lieferung von Artilleriemunition und Luftverteidigungssystemen – zur Verteidigung zu befähigen.

Allein von einem moralischen Impetus getriebene Forderungen, dass Russland zu verlieren lernen müsse, lassen Umsicht und Augenmaß vermissen; denn Folgen und Eskalationsrisiken bleiben unberücksichtigt. In dem von Putin als existentiell – und damit nicht mit dem russischen Engagement in Afghanistan vergleichbar – empfundenen Konflikt hat es im Oktober 2022 – einer Zeit, in der Russland sich stark in der Defensive befand und besetzte Gebiete wieder verlor –, offenbar Überlegungen auf Seiten des russischen Militärs zum Einsatz von Nuklearwaffen gegeben, was zu hektischer Diplomatie auf US-Seite geführt hat. Allein dies sollte Mahnung genug sein, die bestehenden Risiken einer nuklearen Eskalation nicht aus dem Blick zu lassen.  

Allerdings ist es unredlich, eine unmittelbare Bedrohung der NATO zu beschwören, um allein eine verstärkte militärische Unterstützung der Ukraine zu erreichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn den entsprechenden Forderungen keine durchdachte und schlüssige Strategie zugrunde liegt. Durch den Ukraine-Krieg sind die russischen Streitkräfte nachhaltig geschwächt, ein Angriff auf die NATO würde zum jetzigen Zeitpunkt keinen Erfolg versprechen und wäre deshalb illusorisch. Daher sollte sich der Westen durch in den Medien kolportierte unmittelbar bevorstehende düstere Szenarien und die Behauptung, ein dritter Weltkrieg stehe bevor, nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Europa muss militärisch unabhängiger werden

Allerdings stellt sich jetzt schon die Frage, ob insbesondere europäische Staaten genug tun, um künftigen Bedrohungen vorzubeugen und von einem Krieg abzuschrecken. Die bevorstehende Nominierung Donald Trumps als US-Präsidentschaftskandidat ist ein Weckruf. Er hat nicht nur den Schutz der „beitragssäumigen“ NATO-Partner abgelehnt; auch ein Ausscheren der USA aus der NATO nach einem Regierungswechsel in Washington Ende dieses Jahres scheint nicht ausgeschlossen – selbst, wenn dies nicht im wohlverstandenen Interesse der USA läge. In jedem Fall muss sich Europa darauf einrichten, dass die USA – unabhängig von der künftigen Regierung – auf erheblich mehr Engagement für die Verteidigung Europas dringen werden. 

Aber auch die jetzt erfolgte Freigabe der für die Unterstützung der Ukraine durch die EU vorgesehenen 50 Milliarden Euro darf nicht den Blick für die verteidigungspolitische Schwäche der EU verstellen, die sich beispielsweise auch an der Nichterfüllung der an die Ukraine gegebenen Lieferzusagen für Artilleriemunition ablesen lässt. Es ist allerhöchste Zeit, dass sich Europa darauf einrichtet, in einer neuen, stärker konfrontativ aufgestellten Weltordnung auch militärisch mehr für seine Selbstbehauptung zu tun. Die bisher auf EU-Ebene unternommenen Anstrengungen sind unzureichend. Dies betrifft sowohl die Umstellung der Rüstungsindustrie auf eine Art „Kriegsproduktion“, die erforderliche Stärkung der Verteidigungsbereitschaft wie auch das Zusammenrücken der EU-Staaten auch militärisch im Sinne der Schaffung einer „strategischen Autonomie“, wie sie der französische Präsident Macron fordert.

Auch national sind die Weichen für eine nachhaltige Befähigung und personelle wie materielle Ausstattung der Bundeswehr nicht gestellt. Selbst wenn in diesem Jahr der Anteil des deutschen Verteidigungshaushaltes am Bruttoinlandsprodukt die NATO-Forderung von 2 Prozent leicht überschreitet, so ergibt sich doch nach der Nutzung des Sondervermögens von 100 Milliarden eine eklatante Finanzierungslücke für den Verteidigungshaushalt. Zudem ist auch die Frage nach der Revitalisierung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht noch offen. Bei alldem sollte sich die Bundesregierung bewusst sein, dass die klare und effektive Regelung zu diesen Fragen auch entscheidenden Einfluss auf den von ihr reklamierten Führungsanspruch in der EU hat.

Kein Augenmaß für nüchterne Realitäten

Die aktuellen Forderungen nach drastischer militärischer Aufrüstung dürfen jedoch nicht über einen weiteren zentralen Grund für das zunehmende Gefühl einer russischen Bedrohung des westlichen Europas hinwegtäuschen: neben der Politik der Ausgrenzung auch die fehlende Auslotung der diplomatischen Möglichkeiten zu einer Beendigung des Kriegs oder der Erreichung eines abgesicherten Waffenstillstands. Spätestens seit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush 2001 verfolgt die NATO mit ihrer konsequenten Osterweiterung wie auch der Aufkündigung zentraler Rüstungskontrollübereinkünfte eine den Großmachtinteressen Russlands widersprechende Sicherheitspolitik.

Der politische Gesprächsfaden ist ebenso wie das Verständnis für friedensbewahrende Kompromisse verloren gegangen. Auf Friedenswahrung „geeichte“ Politiker wie Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher fehlen. Kaum jemand scheint sich den Sinn für Augenmaß und Erkenntnis nüchterner Realitäten bewahrt zu haben. Äußerungen von Politikern wie die des immer noch in der Bevölkerung aufgrund seiner interessengeleiteten Konsequenz verehrten Helmut Schmidt sind heute kaum noch vorstellbar: Er zeigte 2014 gar Verständnis für Russland und war der Meinung, dass die Annexion der Krim nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Er verwarf damals Sanktionen gegen Russland als „dummes Zeug“, warnte vor der Möglichkeit eines Weltkrieges und erinnerte daran, dass eine Lösung der Kuba-Krise 1961 nur gelang, weil beide Seiten im Bewusstsein ihrer Verantwortung nachgegeben haben.

Ein Denken in diesen Kategorien ist vorbei; heute scheinen Motive der Bestrafung und des Siegs über Putin im Vordergrund zu stehen; selbstkritische Überlegungen zur eigenen Verantwortung und das Bemühen um ein besseres Verständnis der Motive der russischen Seite bleiben auf der Strecke. Schlimm wird es dann, wenn man sich wiederholt in provozierender Symbolpolitik ergeht, die mit großem Aplomb gemachten Zusagen zur Lieferung von militärischem Gerät und vor allem Munition jedoch nicht zu erfüllen vermag.

Kompromissfrieden gilt als diskreditiert

Statt Einfluss auf die USA, China und andere zentrale Staaten mit dem Ziel eines diplomatischen Einwirkens auf Russland zu nehmen, werden heute Mahnungen zu einer raschen Kriegsbeendigung auch durch Kompromisse als inakzeptable Beschwichtigung und Verrat gegeißelt. Aktuell wird gerade in Deutschland wieder das Münchener Abkommen von 1938 als Beispielsfall für die Beschwichtigung eines von seinen Zielen nicht ablassenden Diktators angeführt. Dabei wird nicht nur ein in vielerlei Hinsicht unzutreffender Vergleich zwischen Hitler und Putin herangezogen; auch Churchill wird gern als Kronzeuge gegen eine Beschwichtigungspolitik herangezogen. 

Dabei war doch seine Haltung zu Appeasement viel differenzierter als in der Öffentlichkeit angenommen; so hat er formuliert: „Appeasement für sich ist weder gut noch schlecht, es kommt ganz auf die Umstände an. Appeasement aus Schwäche oder Furcht ist zu gleichen Teilen vergeblich und tödlich. Appeasement aus Stärke dagegen ist großherzig und nobel, und kann möglicherweise der sicherste und vielleicht einzige Pfad zum Weltfrieden sein.“ Und warum sollten die USA im Zusammenwirken mit China, anderen zentralen Staaten des globalen Südens wie auch Europas nicht auf eine Auslotung der Möglichkeiten harter Diplomatie setzen, um ein Ende des Kriegs zu erreichen; ein gemeinsames Interesse gäbe es hierzu jedenfalls.

Stattdessen scheint Europa auf militärische Durchhalteparolen zu setzen. Diplomatie und ein weitere Opfer vermeidender Kompromissfrieden gelten offenbar als diskreditiert. Wo bleibt angesichts der prekären Lage der Ukraine die Moral, die doch immer so sehr von den auf einen Sieg der Ukraine und eine Niederlage Russlands setzenden Politiker und Experten bemüht wird? Wo die sorgfältige und realistische Einschätzung der Folgen – insbesondere der Eskalationsrisiken – der eigenen Politik?

Doppelstrategie der NATO aufleben lassen

Aber zurück zur Ausgangsfrage: Eine akute Kriegsgefahr, die auch aufgrund der jetzt anlaufenden NATO-Übung „Steadfast Defender“ in einigen westlichen Medien fälschlicherweise konstruiert wurde, besteht nicht. Allerdings erhöhen die Aufbauschung von Fakten und eine allenthalben festzustellende „Kriegsrhetorik“ westlicher Politiker die Konfrontation mit Russland und das Bedrohungsgefühl im Europa. Es ist richtig, dass wir uns in einem neuen, aufgrund des Fehlens von Rüstungskontrollübereinkünften gefährlichen Kalten Krieg 2.0 befinden. 

Eine nüchterne Analyse ergibt, dass wir national wie im Rahmen der EU nur sehr unzureichend auf die neuen Herausforderungen zur Friedenssicherung reagieren. Und dies gilt für beide zentrale Aufgaben der seit 1967 geltenden Doppelstrategie der NATO – gesicherte Verteidigungsfähigkeit wie Bereitschaft zu Dialog, Zusammenarbeit und Entspannung. Die europäischen NATO-Partner werden damit weder dem Anspruch „si vis pacem para bellum“ noch dem Anspruch „si vis pacem para pacem“ gerecht.

 

E. von Studnitz und R. Lüdeking im Gespräch mit A. Marguier:
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