Terry Reintke im Porträt - Mit Zuversicht in den Sturm

Die Grünen ziehen mit Spitzenkandidatin Terry Reintke in den Europawahlkampf. Sie gilt als ziemlich links und will dem zu erwartenden Rechtsruck kämpferisch begegnen.

Terry Reintke / Foto: Cornelis Gollhardt
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Im Europaparlament wird geredet, nicht gesungen. Jahrelang hielten sich die Abgeordneten an diese Regel, nicht einmal die sangesfreudigen Briten haben sie gebrochen. Doch dann kamen der Brexit – und Terry Reintke. Bei der letzten Abstimmung zum britischen EU-Austritt im Januar 2020 schlug die deutsche Grünen-Politikerin vor, gemeinsam das Abschiedslied „Auld Lang Syne“ zu schmettern. „Wir wollen unseren britischen Freunden zeigen, dass wir ein Licht für sie anlassen“, erklärte die junge Frau aus Gelsenkirchen, die in Edinburgh und Berlin Politik studiert hat. Um ganz sicherzugehen, dass auch wirklich alle mitsingen, verteilte sie den Songtext. Und siehe da, es klappte: Das Parlament setzte sich über seine eigenen Regeln hinweg – und sang das von Haydn vertonte schottische Volkslied.

Reintke war mit einem Schlag berühmt, jedenfalls im United Kingdom. Dass ausgerechnet eine Deutsche so emotional auf den Brexit reagieren würde, hätte dort wohl niemand gedacht. In Deutschland hingegen sollte es noch etwas dauern, bis Reintke aus dem Schatten prominenter Parteifreunde treten würde. Erst 2022 war es so weit: Ska Keller, 2019 noch Spitzenkandidatin bei der Europawahl, gab den Fraktionsvorsitz im Europaparlament überraschend an Reintke ab. Wie es dazu kam, ist bis heute umstritten. „Es war kein Frust, und einen Putsch hat es auch nicht gegeben“, erklärte Keller. Doch schon damals war zu spüren, dass ihre Nachfolgerin nicht nur leidenschaftlich, sondern auch machtbewusst ist.

Eine Parteikarriere aus dem Bilderbuch

Bei den Verhandlungen zur Ampelkoalition saß sie in der Arbeitsgruppe „Europa“. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gehörte sie zum grünen Sondierungsteam. Beim Kongress der europäischen Grünen in Lyon wurde Terry Reintke nun auch zur Spitzenkandidatin für die Europawahl im Juni nominiert, gemeinsam mit dem Niederländer Bas Eickhout. Eine Parteikarriere aus dem Bilderbuch. 
 

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Erwartbar war das nicht, im Gegenteil. Die 36-Jährige, die in einer lesbischen Beziehung mit der französischen Senatorin Mélanie Vogel in Brüssel lebt, galt lange Zeit als zu schrill und zu links. „Wenn Sie mal eine richtig linke Abgeordnete kennenlernen wollen, dann treffen Sie sich mit Reintke“, hieß es sogar bei den Grünen. Ihre Themen waren Feminismus, LGBTQ und Sozialpolitik. Reintke war es, die die Metoo-Bewegung ins EU-Parlament holte und eigene Erfahrungen mit sexueller Gewalt thematisierte. Das Time-Magazin erklärte sie deshalb 2017 gemeinsam mit der amerikanischen Schauspielerin Ash­ley Judd und der Sängerin Taylor Swift zur „Person of the year“. „Die Auszeichnung zeigt, dass die patriarchalen Strukturen aufgebrochen werden“, sagte sie.

Reintke lässt sich davon nicht entmutigen

Heute werden das Parlament und die Europäische Kommission von Frauen geführt. Feminismus und LGBTQ sind im Mainstream angekommen, die EU hat ein Gesetz gegen sexuelle Gewalt auf den Weg gebracht. Zuvor war sie der Istanbul-­Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beigetreten – für Reintke ein Höhepunkt ihrer Karriere. Doch während woke Themen vorankommen, sind die Grünen bei ihren Kernanliegen in die Defensive geraten. Brüssel will die Kernkraft fördern, beim Klimaschutz rudert die EU zurück. Nun geben wütende Bauern, besorgte Firmenchefs und konservative Politiker den Ton an. Sogar die deutschen Grünen stehen auf der Bremse; beim Parteikongress in Lyon wollten sie weniger ehrgeizige Klimaziele.

Ist Reintke für den aufziehenden Sturm gerüstet? In Lyon gab sie sich kämpferisch: Sie rief ihre Partei dazu auf, „die Komfortzone zu verlassen“ und für den „European Green Deal“ einzustehen. Noch könne man das Ruder herumreißen und den Rechtsruck verhindern. Nur wie? In den Niederlanden will ­Geert Wilders die Regierung übernehmen, in Frankreich liegt Marine Le Pen in den Umfragen vorn, in Italien sind „Postfaschisten“ an der Macht. Auch in Deutschland sieht es für die Grünen nicht gut aus: Demoskopen sagen ihnen bei der Europawahl nur 13 Prozent der Stimmen voraus – nach 20,5 Prozent vor fünf Jahren.

Reintke lässt sich davon nicht entmutigen. Als „Kind des Ruhrgebiets“, das betont sie immer wieder, habe sie erlebt, wie die grüne Transformation gelingen kann. Außerdem gebe es jetzt eine große Bewegung gegen rechts. Sogar das abtrünnige Großbritannien stimmt sie zuversichtlich: Dort sind die Tories, die ihr Land aus der EU herausgeführt haben, in Umfragen abgestürzt. Labour liegt weit vorn, die Green Party immerhin bei 7 Prozent. Bei einer Befragung im Juni sprachen sich zudem 60 Prozent für eine Rückkehr in die EU aus. „Pretty impressive number“, kommentierte Reintke auf X. Sie hat die Hoffnung längst noch nicht aufgegeben.

 

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