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Sunniten gegen Schiiten - Der 35-jährige Krieg

Was der 30-jährige Krieg für das Christentum war, ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten für den Islam. Es ist dieser brutale Religionskonflikt, der auch den Vormarsch der Terrorgruppe Isis im Irak erklärt. Eine Analyse

Autoreninfo

Stefan Buchen ist Fernsehautor beim ARD-Magazin Panorama. 2011 wurde er mit dem Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien ausgezeichnet.

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Wer dieser Tage in den Nachrichten etwas über die Kämpfe im Irak hört, muss zweifellos ins Grübeln kommen. Erst zeigt das Fernsehen bewaffnete Terroristen der „Isis“. Und dann meldet sich ein Ayatollah mit schwarzem Turban und langem weißen Bart und ruft zum bewaffneten Widerstand gegen die „Islamisten“ auf. Hier ein Terrorist, dort ein Mullah – wie passt das zusammen?

Politiker und Medien tun sich nicht leicht mit der Aufgabe, das Geschehen im Irak angemessen widerzugeben. Der US-Außenminister und der iranische Präsident „schließen nicht aus“, gegen die Terroristen im Irak zusammenzuarbeiten. Von „einer goldenen Gelegenheit der Entspannung“ zwischen den Erzfeinden USA und Iran schreiben Zeitungen und Think Tanks.

Wir zählen 200.000 Tote, 10 Millionen syrische und irakische Flüchtlinge. Ganze Städte liegen in Trümmern, die Kampfhandlungen weiten sich aus. Das soll eine „seltene”, „goldene” oder sonst eine „Gelegenheit” sein? Die Urteile scheinen sich in der weiten diesigen Steppe irgendwo zwischen Zynismus und Dummheit verrannt zu haben.

Urkonflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran


Das Gespenst einer von Sieg zu Sieg marschierenden Terroristenarmee, die bald womöglich Attentäter nach Europa entsenden wird, hat die Sinne getrübt. Die gängigen Deutungsmuster greifen zu kurz. „Die religiöse Gewalt im Irak” drohe wieder „aufzuflammen”, sagt ein Korrespondent und erinnert an das Jahr 2006, als ein schiitisches Heiligtum nördlich von Bagdad gesprengt wurde. Das Attentat leitete die blutigsten Monate der acht Jahre währenden US-amerikanischen Besatzung des Irak ein.

Historiker, die am Ende unseres Jahrhunderts die Geschichte aufschreiben werden, werden  für die Ereignisse vermutlich ganz andere Worte finden. Sie werden das gegenwärtige Geschehen in Syrien und im Irak wohl in einen viel größeren Spannungsbogen fassen. Sie werden von einem innerislamischen Religionskrieg sprechen, den Sunniten und Schiiten über Jahrzehnte mit wechselnder Intensität gegeneinander ausgefochten haben.

Den Beginn des Krieges werden sie vermutlich in das Jahr 1979 legen, das Gründungsjahr der Islamischen Republik Iran. Ayatollah Khomeini legte die Fundamente seines revolutionären schiitischen Staates, dem er eine universelle Mission zuschrieb. Damit erhob er den Führungsanspruch in der islamischen Welt und forderte das sunnitische Königreich Saudi-Arabien heraus.  Der saudische König reagierte, indem er sich den Titel „Hüter der beiden Heiligen Stätten” (Mekka und Medina) verlieh. Er leitete überall da, wohin sein Arm reichte, eine Gegenbewegung ein. Er förderte in den Kerngebieten der islamischen Welt, aber auch in Afrika südlich der Sahara, in Asien und in der westlichen Diaspora den eigentümlich-strengen Islam sunnitisch-saudischer Prägung.

Iran und Saudi-Arabien waren dank ihrer Ölvorkommen die wirtschaftlich stärksten Staaten des Mittleren Ostens. Mitten in der Moderne nutzten sie ihre Ressourcen, um sich in eine sektiererische Feindschaft zu verstricken, die einer anderen Zeit zu entstammen schien.

Stellvertreterkriege in der ganzen Region


In den 35 Jahren seit 1979 haben Saudi-Arabien und Iran nicht direkt Krieg gegeneinander geführt. Das lässt die Konturen des  epochemachenden Spannungsbogens in den Augen der Zeitgenossen verschwimmen. Im Ersten Golfkrieg unterstützte Saudi-Arabien während der achtziger Jahre den irakischen (sunnitischen) Diktator Saddam Hussein gegen Ayatollah Khomeinis Iran. Der wiederum fand im syrischen (schiitischen) Diktator Hafiz al-Assad seinen wichtigsten Verbündeten. Im Libanon gründete Khomeini die schiitische Hisbollah-Miliz. Gegen diese brachte Saudi-Arabien den schwerreichen sunnitischen Geschäftsmann Rafiq al-Hariri in Stellung.

In Syrien führen Iran und Saudi-Arabien einen grausamen Stellvertreterkrieg. Die Logik dieses Stellvertreterkrieges hat die urspüngliche Logik des Volksaufstandes gegen eine Diktatur längst verdrängt. Weil der sektiererische Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten an Wirkmächtigkeit alles andere dominiert, überschreitet der Konflikt staatliche Grenzen und hat nun auf den Irak übergegriffen. Iran steht den schiitischen Regimes in Damaskus und Bagdad zur Seite. Saudi-Arabien führt „war by revolution”.

Keineswegs darf man sich die Situation so vorstellen, dass Riad und Teheran alles nach ihrem Belieben und auf Knopfdruck steuern. Im Jahre 35 des Großen Religionskrieges ist dies auch gar nicht mehr notwendig. Die sektiererischen Identitäten haben sich verfestigt und als Antriebskräfte der verfeindeten Glaubensgemeinschaften verselbstständigt. Die Sunniten im Irak brauchen heute keinen Befehl von außen, um die schiitische Zentralregierung zu bekämpfen. „Der Islamische Staat im Irak und Großsyrien” (Isis) ist Ausdruck dieser Entwicklung.

Zu groben Missverständnissen führt die Darstellung von Isis als einer bloßen Terrorarmee, die mordend eine Ortschaft nach der anderen verwüstet. Im Großen Religionskrieg vertritt Isis derzeit in Syrien und im Irak die sunnitische Seite. Das heißt, dass sie in weiten Teilen der sunnitischen Bevölkerung verankert ist. Nur so ist es zu erklären, dass die ideologisch säkulare, aber von Sunniten dominierte irakische Baath-Partei sich mit Isis verbündet hat.

An Hilflosigkeit nicht zu überbieten sind die Appelle des Weißen Hauses und des UNO-Generalsekretärs an den irakischen Ministerpräsidenten al-Maliki, er müsse die Sunniten und andere Minderheiten stärker in Staat und Gesellschaft einbinden. In diesen Appellen wird deutlich, dass die hohen Instanzen der Weltpolitik die Tatsache des erbitterten innerislamischen, staatliche Grenzen überschreitenden Religionskrieges nicht zur Kenntnis nehmen wollen.  Al-Maliki will die Sunniten nicht einbinden. Er will Krieg gegen sie führen.

Natürlich wird der Spannungsbogen des Großen Religionskrieges von anderen historischen Linien zeitweise überlagert und verdeckt: Kalter Krieg, israelisch-palästinensisch-islamischer Konflikt, 09/11, Krieg gegen den Terror, Einmarsch der US-Armee im Irak, Arabischer Frühling, Iran gegen den Großen Satan USA und umgekehrt. Hinzukommen die kleinen Kompliziertheiten: Inwieweit hat etwa das Assad-Regime die Entstehung von Isis geduldet und vielleicht sogar gefördert, um andere Rebellengruppen in Syrien zu schwächen? Wo genau stehen die Türkei und die Kurden? In vielerlei Hinsicht ist die Situation heute verworrener als der französische Politologe Olivier Roy sie in seinem 2007 erschienenen Buch „Le croissant et le chaos” (Der Halbmond und das Chaos) beschrieben hat.  Inmitten des Chaos ist das eine Ordnungsprinzip jedoch  unübersehbar: Der sunnitisch-schiitische Gegensatz bestimmt die Wirklichkeit des Mittleren Ostens mehr als alles andere.

So erschöpfend wie der 30-jährige Krieg in Europa


Das ist im Grunde eine traurige Entwicklung. Ende des 19. Jahrhunderts war der islamische Reformer Djamal ad-Din al-Afghani für die Überwindung des Schismas eingetreten, aus einem quasi ökumenischen Geist religiöser Erneuerung heraus, aber auch aus politischen Gründen. Al-Afghani war der Auffassung, dass das sunnitisch-schiitische Schisma dem antikolonialen Kampf um Selbstbestimmung der islamisch geprägten, von den europäischen Mächten unterdrückten Völker im Wege stand. Al-Afghanis Stimme scheint heute ganz weit weg. Zu modern für ein verbohrtes, brutales Sektierertum, das eine gesamte Region zerfleischt.

In welchem Jahr der Große Religionskrieg enden wird, ob es ein 40-jähriger oder 50-jähriger Krieg wird, wissen wir nicht. Wieviele Höhepunkte er noch haben, wieviele terroristische Unterorganisationen er noch hervorbringen, ob er die nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Staatsgrenzen verändern wird,  werden die Geschichtsschreiber verzeichnen müssen. Sie werden ermessen müssen, wieviel von der Zivilisation des Mittleren Ostens danach noch übrig sein wird. Vielleicht werden sie, mit gebührendem Abstand, feststellen, dass dieser Krieg die Religion des Islam erschöpft haben wird, so wie der 30-jährige Krieg das Christentum in Europa.  

Eines lässt sich jetzt schon sagen: der sunnitisch-schiitische Krieg wird umso eher zu Ende gehen, je rascher die Menschen aufhören, für sektiererische Propaganda und Mobilisierung empfänglich zu sein.

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