Sturm auf das Kapitol - Moralistische Doppelstandards schwächen den Geist der Demokratie

Der Sturm auf das Kapitol war ein Angriff auf eine demokratische Institution der USA. Dass Präsident Trump beim Versuch einen Mythos zu schaffen, Todesopfer in Kauf nimmt, zeigt beispiellose Verantwortungslosigkeit. Wer aber aufgeregt von einem versuchten Staatsstreich spricht, irrt.

Im Kapitol in Washington: Aufräumen nach dem Ausnahmezustand / dpa
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Es dürfte wohl jeden demokratisch denkenden Menschen verstört haben, was sich rund um die Finalisierung der Präsidentenwahl im Kapitol der Vereinigten Staaten von Amerika abspielte. Präsident Trump arbeitet seit Jahren an seinem Bild in den Geschichtsbüchern – und seien es Bücher über – nun ja – alternative Geschichte. Diesem narzisstischen Ziel hat er vier Jahre lang vieles untergeordnet, oft auch das Wohl des Landes. Seine Rede vor dem Beginn der Auszählung der Wahlmännerstimmen im nahegelegenen Kapitol kann insofern als Teil seines Versuchs gewertet werden, um jeden Preis einen Mythos zu schaffen.

Er hätte wissen können, dass aufgeheizte Wutbürger anschließend nicht nur vor dem Kapitol demonstrieren, sondern auch Gewalt ausüben könnten. Das hätten auch die Polizeibehörden des District of Columbia wissen können und ebenso die Polizeibehörde des Kapitols. Beispielsweise wurde einer der Anführer der rechtsradikalen Gruppe „Proud Boys“ am vergangenen Montag in Washington, D.C. verhaftet. Er war aus Florida gekommen, um an jener Demonstration teilzunehmen, die schließlich vor und letztlich in das Kapitol führte. Dabei wurde sogar Munition bei ihm gefunden.

Diese, wie auch andere Milizbewegungen in den USA lehnen staatliche Institutionen generell ab. Trump war diesbezüglich mehr Brandbeschleuniger, als Ursache dieser Haltung der Milizen: Er inszenierte sich als Kämpfer des kleinen Mannes gegen „die Eliten“ in den staatlichen Institutionen in Washington, D.C. Dennoch wurde er von vielen rechtsradikalen Milizen eher als Maskottchen ihrer Bewegungen als deren maskulin-charismatischer Anführer wahrgenommen.

Es muss gründlich aufgearbeitet werden

Es liegen offenbar noch weitere Anhaltspunkte dafür vor, dass gewaltbereite Rechtsradikale aus dem ganzen Land zu der weithin angekündigten Demonstration anreisten. Es ist allgemein bekannt, dass die meisten Rechtsradikalen in den USA den zweiten Verfassungszusatz fanatisch verteidigen, also das Recht, Waffen zu tragen, bis hin zu Sturmgewehren. Zudem ist bekannt, dass die Sicherheitsbehörden einschließlich Geheimdienste der USA zu den effektivsten der Welt gehören. Wenn aber nun im Wissen, dass unzählige, potenziell Bewaffnete aus dem ganzen Land in die Hauptstadt reisten, um gegen die Auszählung der Wahlmännerstimmen im Kapitol vorzugehen, die dortigen Sicherheitsbehörden gleichsam überrannt wurden, bedarf dies der gründlichen Aufarbeitung der Hintergründe.

Gewiss darf man Menschen nicht nach Äußerlichkeiten beurteilen. Jedoch fällt es schwer, sich beim Betrachten der zahlreichen Foto- und Filmaufnahmen der Szenen vor und im Kapitol nicht an Menschen aus TV-Dokumentationen über bildungsferne Schichten erinnert zu fühlen. Bemerkenswert sind die Bilder, wie Demonstranten, die erfolgreich das Symbol des Demos der USA gestürmt haben, brav zwischen den Absperrungskordeln durch die Hallen laufen, alles mit ihrem Smartphone filmend. Für einen sehr kurzen Augenblick war man an eine der zahlreichen Reisegruppen von Hinterwäldlern erinnert, die während einer Führung das Kapitol auch mal von innen bestaunen dürfen.

Unklare Ziele und Beweggründe

Noch ist unklar, was diese gewaltbereiten Demonstranten antrieb, das Kapitol zu stürmen, wer Anführer, wer Mitläufer und wer Mitgerissener war. Klar ist aber, dass sich unter den gewaltsam Eingedrungenen gefährliche und mutmaßlich bewaffnete Rechtsradikale befanden, die die Institutionen der Demokratie aus tiefstem Herzen hassen und ablehnen.

Ein Staatsstreich aber ist laut Duden ein „gewaltsamer Umsturz durch etablierte Träger hoher staatlicher Funktionen.“ Wenig wahrscheinlich, dass auch nur irgendeiner der gewaltbereiten Demonstranten ein etablierter Träger hoher staatlicher Ämter der USA war. Ebenso dürfte auszuschließen sein, dass das Ziel der Demonstranten oder unter ihnen befindlichen Terroristen war, die Macht im Staat zu übernehmen, also an den Spitzen der Sicherheitsbehörden, der Streitkräfte und Ministerien eigenes Personal zu installieren und sämtliche Minister, Spitzenbeamte und -militärs, sowie Parlamentarier zu – nun ja, was eigentlich? Verhaften? Für immer? Guantanamo? Todeszelle? Man weiß es nicht.

Wer aber unterstellt, dass Donald Trump einen Staatsstreich geplant habe, kann nur zu einem Schluss kommen: Wenn er die demokratischen Institutionen effektiv und dauerhaft ausschalten wollte und zur Machtübernahme im ganzen Land nicht mehr aufbietet als einen wilden Haufen aus Wutbürgern und gewaltbereiten Rechtsradikalen, bestätigte das viele Vermutungen über seinen Geisteszustand.

Altbekannter deutscher Moralismus

Der Sturm auf das Kapitol war ein Aufruhr, ja in Teilen ein terroristischer Angriff auf die wichtigste demokratische Institution der USA, angetrieben von demokratiefeindlichen Hassparolen von Präsident Trump. Ein versuchter Staatsstreich war es per definitionem nicht. Ebenso wenig ein ernstzunehmender Revolutionsversuch. Es steht außer Zweifel, dass das Handeln von Trump nicht ohne Konsequenzen bleiben darf. Es steht außer Zweifel, dass dessen Versuch, einen Mythos zu schaffen, dekonstruiert werden muss. Es steht aber auch außer Zweifel, dass das Versagen der Sicherheitskräfte in der von der Partei der Demokraten regierten Hauptstadt nicht durch Aufbauschen eines angeblich versuchten Staatsstreichs unter den Teppich gekehrt werden darf.

Herbeifabulierter Staatsstreich

Es ist noch keine vier Monate her, dass auch im Berliner Tiergarten eine bunte Mischung aus eher links und grün orientierten Bürgern mit Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern und Rechtsradikalen demonstrierten. Einige rechte Kräfte lösten sich aus der Demonstration zum „Sturm auf den Reichstag“. Einige filmten sich dabei, wie normale Parlamentsbesucher. Aufgehalten wurden sie von einer Handvoll Polizisten. Es ist noch keine sechs Wochen her, da wurde zum „Sturm auf den Reichstag“ aufgerufen, um zu verhindern, dass ein angebliches „Ermächtigungsgesetz“ – also eine Neuauflage dessen, was Adolf Hitler die absolute Macht übertrug – verabschiedet werde.  Vor dem Reichstag marschierten neben friedlichen Bürgern Rechtsradikale gegen Wasserwerfer an. Im Reichstag bedrohten von AfD-Vertretern orchestrierte Demonstranten zahlreiche Abgeordnete. Das umsichtige Handeln der Sicherheitskräfte verhinderte größere Schäden.

Auch in Berlin versuchten gewaltbereite Rechtsextreme und Wutbürger in das Parlament einzudringen. Auch in Berlin wurden Abgeordnete von solchen Kräften innerhalb des Symbols der deutschen Demokratie bedroht. Hätte damals jemand unterstellt, dass dies der Versuch eines „gewaltsamen Umsturzes durch etablierte Träger hoher staatlicher Funktionen“ oder auch nur eine Revolution zwecks Machtübernahme in der Bundesrepublik gewesen sei, wäre er ausgelacht worden. Wer heute einen angeblichen Staatsstreichversuch in den USA herbeifabuliert, gibt einen beredten Einblick in seine Fähigkeiten zu maßvoller Beurteilung.

In beiden Fällen haben die Gegner der Demokratie durch den Angriff auf deren Symbole offenbart, wie gespalten demokratische Gesellschaften sind. Und die große Mehrheit der Menschen hat gezeigt, dass die Demokratie wehrhaft und alternativlos ist. Dies muss nicht verwässert werden. Weder durch Doppelstandards noch durch Klageempfehlungen vormaliger Außenminister.

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