Russland und der Ukraine-Krieg - Kiew war das Ziel 

Es ging Putin mit seinem Einmarsch in die Ukraine nie allein um die Unabhängigkeit des Donbass, sondern um einen Sturz der Regierung in Kiew. Der Sieg wird ihm weder mit militärischen Mitteln noch mit Sanktionen zu nehmen sein. Alles, was der Westen tun kann, ist, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und die russische Regierung international zu ächten.

Bewohner von Kiew stehen Schlange vor Supermärkten, um sich mit Notvorräten einzudecken / dpa
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Dirk Notheis ist Mitherausgeber von Cicero und Gründer des Mittelstands­finanzierers Rantum Capital.

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Es ging um Kiew und nur um Kiew, allen donbasschen Nebelkerzen aus russischer Progagandaproduktion zum Trotz. Wladimir Putin ist kein Mann, der auf Platz, sondern ausschließlich auf Sieg setzt und dieser ist ihm, zumindest militärisch, in dieser Causa wohl nicht zu nehmen. Die Ukraine hat den schnell auf Kiew vordringenden russischen Truppen nichts außer blutigen Verlusten entgegenzusetzen, und alle Abwehrbemühungen im falsch verstandenen nationalen Pathos sind zum Scheitern verurteilt. Wenn Wolodymyr Selenskyj zur Generalmobilmachung von Veteranen und Zivilbevölkerung aufruft, dann erinnert dies an düstere Tage des vergangenen Jahrhunderts und wird zu nichts führen als zu tausenden, ja zehntausenden Toten mit allem Schmerz und Leid ebenso vieler Familien und Angehöriger.  

Nein, gegen die zahlenmäßig fünftgrößte und mit modernster Technologie ausgestattete Streitmacht der Welt ist für die Ukraine kein Krieg zu gewinnen. Wir befinden uns nicht auf der Schauspielbühne, sondern im Auge der nackten Realität des Todes. Wenn Selenskyj als Held in die Geschichtsbücher eingehen will, dann muss er jetzt im Dienst der Humanitas seine Armee und Bevölkerung, und sei es unter Tränen, zu Ruhe und Deeskalation aufrufen. Er sollte stattdessen den russischen Panzern mit seiner Abdankungsurkunde in der Hand vor dem Präsidentenpalast in Kiew entgegentreten und so seinem Volk einen letzten Dienst erweisen. So gnadenlos und brutal dies auch ist, seine Verantwortung für die Zivilbevölkerung und viele unschuldige Tote gebieten es, und wer es auf Seiten der europäischen Staatengemeinschaft gut mit dem ukrainischen Volk meint, sendet nicht weiter wertlose Solidaradressen, sondern versucht die ukrainische Regierung von diesem Schritt zu überzeugen und gewährt ihr im Gegenzug Generalasyl.  

Ein Konzept für die neue Völkerwanderung

Die Realität ist, dass die Landkarte im Osten Europas in diesen Stunden neu geschrieben wird und wir Europäer paralysiert zuschauen. Schockstarre hilft jedoch nicht, sondern Realitätssinn und die Verantwortung gebieten einen holistischen Blick auf die Folgen. So werden wir uns auf eine neue Flüchtlingswelle von bislang nie dagewesener Größe einstellen dürfen. Die Ukraine stellt mit ihren über 44 Millionen Menschen im Vergleich zu den 17 Millionen Bewohnern Syriens eine völlig andere Dimension in Größe sowie räumlicher und christlich-kultureller Nähe dar. An den Grenzen zu Slowenien, Polen und Rumänien werden ab sofort zehntausende Menschen täglich um Schutz und Freiheit ersuchen, und die europäische Politik muss sich jetzt und heute und nicht wie in der Vergangenheit zu spät Gedanken darüber machen, wie wir mit einer Sprache und mit einem gemeinsamen, solidarischen Konzept dieser neuen Völkerwanderung begegnen.  

Stattdessen ergeht sich Europa in einem aktionistischen Wettlauf mit den USA um immer neue wirtschaftliche Sanktionsideen, die weder an den sich militärisch vollziehenden Fakten irgendetwas ändern, noch die Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sowie unsere eigene Wirtschaft abwägend berücksichtigen. Für die USA sind die Folgen von wirtschaftlichen Sanktionen aufgrund der Tatsache, dass sie heute Netto-Exporteur von Energie sind und die Leistungsbilanz mit Russland traditionell überschaubar ist, wenn überhaupt weit geringer als für die Europäer und im speziellen die Exportnation Deutschland mit ihrer zusätzlich durch die Energiewende katalysierten Abhängigkeit von Öl- und insbesondere Gasimporten.  

Putins ausländische Finanzdepots einfrieren

Die eine Sanktion, die Wladimir Putin und seine ihn tragende Entourage verstehen sollten, ist die Ächtung. Mit dem Vormarsch auf Kiew kann und wird mit ihm als Person weder Staat noch ein internationales Abkommen mehr zu machen sein. Es bedarf vielmehr vonseiten der internationalen Staatengemeinschaft der Überlegung, den russischen Präsidenten, wie jeden schwarzafrikanische Potentaten auch, der mutwillig einen Krieg vom Zaun bricht, seines diplomatischen Status zu entheben und ihn als Kriegsverbrecher vor dem internationalen Gerichtshof anzuklagen. Es kann und darf hier keinen Großmachtsrabatt geben. Die Sprache eines international vollstreckbaren Haftbefehls statt rotem Teppich, Ghostings statt Staatsbankett und internationale Ächtung statt Gruppenbild sollten die Verantwortlichen im Kreml als Zeche für die Annexion der Ukraine durchaus verstehen. Bei all den Fehlern, die auch der Westen in der Causa Ukraine in der Vergangenheit gemacht hat, muss, um der Glaubwürdigkeit unserer freiheitlichen Wertegemeinschaft willen, hier ein Exempel statuiert und nicht wie so oft nach geraumer Zeit eine Kultur des Vergessens gelebt werden. Zu oft hat die westliche Gemeinschaft diesen Fehler begangen und damit die Hemmschwelle für Fehlverhalten Zug um Zug reduziert. Die Krim und Georgien lassen grüßen.  

Das einzige weitere Sanktionsziel mit Wirkungspotential dürften die direkt oder indirekt im Ausland deponierten Finanzmassen Putins und seines Führungszirkels darstellen. Allein die Mittel, die in London, Zypern und vor allem der Schweiz von seinem Umfeld geparkt sind, belaufen sich nach Schätzungen gut informierter Kreise auf dreistellige Milliarden-Euro-Beträge. Möglichst rasch Rechtsgrundlagen für eine Konfiszierung dieser Gelder zu schaffen und mit den beherbergenden Ländern in leise, aber umso unmissverständlichere Gespräche darüber einzutreten, sollte daher das Gebot der Stunde sein und auch empfindliche Wirkung entfalten. Die Schweiz steht hier ganz besonders im Fadenkreuz, und es kommt einem Lackmustest für die Glaubwürdigkeit der internationalen Wertegemeinschaft gleich, an der Quelle dort anzusetzen. Die USA sollten als internationaler Standardgeber des Kapitalmarkts die Führungsrolle im Dialog mit der Schweiz übernehmen und damit unter Beweis stellen, dass sie es neben guten Worten auch wirklich ernst meinen mit wirkungsvollen Gegenmaßnahmen. Nur sie allein verfügen über hinreichende Macht und Einfluss auf die Schweiz, um 100% Quellensteuer auf kremleigenes Auslandskapital einzuführen. Damit könnte die Rechnung für den Herrn im Kreml doch noch ungeahnt teuer werden. Das hilft sicher den Ukrainern nicht mehr, aber vielleicht den Balten.  

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