Russlands Invasion in der Ukraine - Moskaus militärische Fehlschläge

Es sollte ein kurzer und massiver Militäreinsatz werden, um den Widerstand der Ukrainer möglichst schnell zu brechen. Doch genau das ist Russland nicht gelungen. Dafür gibt es Gründe. Russlands zweitwichtigstes Ziel, erstklassige Streitkräfte zu präsentieren, um seine Nachbarn zu beeindrucken, wird so jedenfalls kaum erreicht werden.

Ein zerstörter militärischer Mannschaftstransportwagen auf dem zentralen Platz der Stadt Makariw, 60 Kilometer westlich von Kiew, nach einem schweren nächtlichen Gefecht Anfang März / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Die russische Invasion in der Ukraine verfolgt zwei Ziele. Das erste ist die Übernahme der Kontrolle über die Ukraine, um die in Belarus begonnene Aufgabe zu vollenden – und zwar, Russlands strategische Puffer wieder aufzubauen und es so vor Angriffen von außen zu schützen. Das zweite Ziel besteht darin, die Fähigkeiten und die Professionalität des russischen Militärs zu demonstrieren, um hypothetische Angriffe abzuschrecken und den regionalen Einfluss Russlands zu stärken.

Diese beiden Ziele waren miteinander verknüpft. Die Besetzung der Ukraine wurde bisher nicht erreicht, aber sie ist nicht abgeschrieben. Die Wahrnehmung der Stärke des russischen Militärs hat jedoch schwer gelitten. Es steht außer Frage, dass die russischen Militärplaner den Krieg, den Russland führt, so nicht führen wollten. Statt eine rasche und entscheidende Niederlage der Ukraine herbeigeführt zu haben, steht Russland nun wohl in einem langsamen, zermürbenden Krieg, der die Welt kaum davon überzeugen wird, dass die Russen in die erste Reihe der Militärmächte zurückgekehrt sind. Zum jetzigen Zeitpunkt wird selbst die Erfüllung des ersten Ziels das zweite nicht mehr retten können.

Insofern ist es wichtig, die russischen Schwächen zu erkennen.

Das erste Problem war der vertane Überraschungseffekt. Carl von Clausewitz hat das Überraschungsmoment bei der Kriegsführung an erste Stelle gestellt. Die Überraschung verkürzt die Zeit, die ein Feind hat, um sich auf den Krieg vorzubereiten. Außerdem führt sie zu einem psychologischen Schock, der erst nach einiger Zeit überwunden werden kann und die Umsetzung bestehender Pläne erschwert. Und sie erhöht die wahrgenommene Macht des Feindes. In der Ukraine jedoch verschaffte die erweiterte Diplomatie Kiew genug Zeit, um sich psychologisch auf die Möglichkeit eines Krieges einzustellen.

Den Feind nicht verstanden

Moskau hat seinen Feind nicht verstanden. Russland hat eindeutig damit gerechnet, dass der ukrainische Widerstand angesichts der massiven Panzertruppen, die es zusammengezogen hatte, schnell zusammenbrechen würde. Es rechnete nicht damit, dass sich die ukrainische Bevölkerung in einem Ausmaß wehren würde, das die Beendigung des Krieges zumindest verzögert. Das Ziel eines Krieges ist es, die militärischen Fähigkeiten des Gegners zu brechen. Das ukrainische Militär hatte einen diffusen Schwerpunkt und befand sich auf Distanz zu den russischen Panzerkampfverbänden. Darüber hinaus wehrt sich die Bevölkerung, was die Zeit bis zur möglichen Beendigung des Widerstands verlängert.

Die russischen Kriegspläne konzentrierten sich auf drei Panzergruppen, die im Osten, Süden und Norden der Ukraine stationiert waren. Die Panzer sind durch die Panzerabwehrwaffen der Infanterie verwundbar geworden. Anstatt die Infanterie beiseite zu schieben, muss Russland nun die Infanterie einsetzen, um tödliche Bedrohungen für seine Panzer aus dem Weg zu räumen.

Der Einsatz von Panzern als entscheidende Kraft auf dem Schlachtfeld und damit als Hauptkraft hat sich weiterentwickelt. Dies scheint von den russischen Planern nicht akzeptiert worden zu sein. Der gepanzerte Krieg erreichte seinen Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Einsatz von Panzern ist nach wie vor ein Mittel der Kriegsführung, aber seit dem arabisch-israelischen Krieg von 1973 und allenfalls in gewissem Maße seit der Operation Wüstensturm während des Zweiten Golfkriegs haben wir keine Panzergefechte mehr erlebt. Das ist mindestens eine Generation her. Der Krieg hat sich aber weiterentwickelt.

Die drei russischen Panzerkampfgruppen waren weit voneinander entfernt – und sie unterstützten einander nicht gegenseitig. Anstelle eines einzigen koordinierten Krieges entschied sich der Kreml für mindestens drei getrennte Kriege, was einen einzigen entscheidenden Schlag unmöglich machte. Ein einziges integriertes Kommando, das für die Kriegsführung unerlässlich ist, schien nicht vorhanden zu sein. Der Einsatz von Panzern erhöhte den Druck auf die russische Logistik beträchtlich. Anstatt den Nachschub auf einen einzigen Vorstoß zu konzentrieren, musste sie sich auf drei und weitere Operationen konzentrieren. Die Logistik für die großen Panzertruppen schien zusammengebrochen zu sein, was eine Beendigung des Krieges unmöglich machte und den Krieg weiter verlängerte.

Kampf in den Städten

In den vergangenen Tagen hat Russland sich angepasst und auf die Einnahme von Städten verlegt. Dies führt zu einer wirksamen Gegenwehr von Kämpfern, die die Straßen und örtlichen Gegebenheiten kennen und sie nutzen, um Russlands Vormarsch zu verzögern. Kämpfe in Städten gehören zu den kostspieligsten und zeitaufwändigsten Aktionen im Krieg. Die Einnahme von Städten erfordert Ressourcen und ist nicht der Schlüssel zum Sieg. Städte gewinnen erst dann an Bedeutung, wenn die feindlichen Streitkräfte besiegt sind und die Demoralisierung der Nation von entscheidender Bedeutung ist. Die Stadt ist der Preis des Krieges, nicht das militärische Ziel. Russland verwandelte den Konflikt von einem Krieg gegen das Militär in einen Krieg gegen die Bevölkerung, was den Widerstand verstärkte, indem es in den Städten Verzweiflung säte.

Dahinter steht die Tatsache, dass Russland es einfach versäumt hat, den Schwerpunkt der Ukraine zu erkennen. Es konzentrierte sich auf seine Panzer und suchte nach einer ähnlich konzentrierten Kraft, die es besiegen konnte. Stattdessen war das Gravitationszentrum im Wesentlichen eine informelle Guerillatruppe, die sich ständig zerstreute und neu formierte und die Russen nicht mit einer Niederlage bedrohte, sondern sie aus dem Gleichgewicht brachte. Dadurch wurde Russland weiter zu einer Strategie der Bevölkerungsabwehr gedrängt, was die Wirksamkeit seiner Panzertruppen verringerte, da sie zum einen langsamer vorankamen und zum anderen gegen kleine Gruppen antraten, für deren Bekämpfung sie nicht ausgelegt sind.

Russland ist es zudem nicht gelungen, die ukrainische Kommunikation innerhalb der Ukraine und mit dem Rest der Welt auszuschalten. Anstatt den Feind intern und extern zu isolieren, wurde es Kiew von den Russen ermöglicht, an allen Fronten psychologische Kriegsführung gegen den russischen Angriff zu betreiben – womit das psychologische Ziel der Russen unterminiert wurde, als überwältigende Kraft wahrgenommen zu werden.

Schockwirkung zunichte gemacht

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Russen erwarteten, dass die überwältigende Verfügbarkeit von Panzern eine schnelle Kapitulation bewirken würde. Die Ukraine ist aber ein großes Land, und wenn es von Panzern besetzt werden soll, müssen sich die Panzer schnell bewegen. Offensichtlich erwarteten sie, dass Schock und Furcht den Widerstandswillen der Ukraine brechen würden. Der Schock wurde durch den Verlust des Überraschungsmoments zunichte gemacht. Der Schrecken wurde begrenzt durch Russlands Unfähigkeit, strategische Kräfte zu konzentrieren – und letztlich durch die Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung als Widerstandskraft.

Die Russen brauchten einen schnellen Krieg, um ihre Ziele zu erreichen. Die Art und Weise, wie sie den Krieg zunächst führten, stand nicht im Widerspruch zu einem Endsieg, wohl aber zu einem schnellen Sieg. Dass Russland die Ukraine womöglich im Laufe von Wochen oder Monaten besiegen kann, ist angesichts seiner relativen Macht nicht besonders beeindruckend. Und Russlands Ziel, ein erstklassiges Militär zu präsentieren, um seinen Nachbarn gegenüber ehrfurchtgebietend zu erscheinen, wird nicht erreicht werden.

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