Ukraine-Krieg - Russischer Ex-Generalstabsoffizier warnt: „Wir müssen da raus“

Eine Sensation im russischen Staatsfernsehen: In einer Talkshow unterzieht der Ex-Generalstabsoffizier Mikhail Chodarjonok das Wunschdenken der kriegsbegeisterten russischen Öffentlichkeit einem rücksichtslosen Realitätscheck. Bemerkenswert: Der Militärexperte warnte bereits Anfang Februar vor den fatalen Folgen eines Angriffs auf die Ukraine – und wurde offenbar nicht gehört.

Russische Soldaten gehen durch einen zerstörten Bereich des Iljitsch Eisen- und Stahlwerks Mariupol / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Ein Ausschnitt aus der Sendung des russischen Fernsehkanals Rossiya-1 geht aktuell auf Twitter viral. Der Militärexperte und erfahrene Oberst Mikhail Chodarjonok analysiert darin die Faktoren, die einen russischen Sieg in der Ukraine unmöglich machen. Das tue er, wie er betont, nicht aus einer moralischen Position, sondern aus einer „allgemein-strategischen Perspektive“. Sein Motto: „Ich kann nur wiederholen, dass wir sowohl politisch als auch militärisch Realisten bleiben müssen. Wer die Grenzen des Realismus verlässt, an dem wird sich die Geschichte früher oder später bitter rächen.“

Chodarjonok erwähnt zuallererst die „Informations-Betäubungsmittel“, die die russische Öffentlichkeit darüber hinwegtäuschen sollen, dass der Einsatz in der Ukraine überhaupt nicht so läuft wie geplant. Darunter etwa die Legende, dass die Kampfmoral der Ukrainer am Boden sei. Oder der russische Irrglaube, dass die russische Vertragssoldaten-Armee komplett aus Profis bestünde, gegen die die wehrpflichtigen Ukrainer keine Chance hätten. Als er das Gesamtbild an der Front anspricht, wird die Moderatorin nervös und unterbricht ihn.

Aber er macht unbeirrt weiter: Die ukrainischen Streitkräfte könnten eine Million Menschen mobilisieren. Sie würden mithilfe der europäischen Unterstützung und des amerikanischen Lend-Lease-Programms mehr als genug Hilfe erhalten: „Das Professionalitätslevel jeder Armee wird nicht dadurch bestimmt, dass sie aus Vertragssoldaten rekrutiert wird. Sondern es kommt darauf an, wie gut sie ausgebildet ist und wie es um ihre Kampfmoral bestellt ist. Wie sehr ist sie dazu bereit, Blut für ihre Heimat zu vergießen? Das determiniert das Niveau der Professionalität. Auch eine Wehrpflichtigen-Armee kann hochprofessionell agieren. Die Art, wie eine Armee rekrutiert wird, sagt noch gar nichts über das Niveau ihrer Professionalität aus.“

Was überlegene Kampfmoral bewirken kann

Weiter stellt Chodarjonok die russische und die ukrainische Armee einander gegenüber: „Viele denken, dass ein Vertragssoldat zwangsläufig ein Profi ist. Aber das ist keineswegs der Fall. Der Wunsch allerdings, die eigene Heimat zu verteidigen – so wie die Ukrainer das auffassen –, ist dort sehr stark vorhanden. Sie sind dazu bereit, bis zum Letzten zu kämpfen.“ Und weiter: „Todesverachtung allein macht noch keine Professionalität aus, aber sie ist ein wichtiger Faktor, der die Kampffähigkeit einer Armee determiniert. Und zwar einer der wichtigsten Faktoren. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus sagten – und darin hatten sie recht –, dass letzten Endes der Sieg auf dem Schlachtfeld durch die überlegene Kampfmoral der Truppe entschieden wird. Sie muss dazu bereit sein, für die Ideen, die sie verficht, ihr eigenes Blut zu vergießen.“

Dass Chodarjonok an dieser Stelle die „Klassiker des Marxismus-Leninismus“ erwähnt, mag sich für westliche Zuhörer nach altem Eisen anhören. Für Absolventen des sowjetischen Offizierslehrgangs wie Chodarjonok gehörte das aber zur Ausbildung dazu. Sie wurden dort unter anderem mit dem Clausewitz-Verständnis Wladimir Iljitsch Lenins vertraut gemacht. Die westliche Clausewitz-Interpretation deutete dessen berühmte Maxime, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, auf ihre eigene Weise: Bis heute meinen viele Europäer, darin die Betonung auf ein „mäßigendes Wesen der Politik“ erkennen zu können. Der sowjetische Revolutionsführer sah das freilich anders: „Politik“ war für Lenin immer gleichbedeutend mit „Kampf“. Ob im konkreten Fall die Gewalt das gebotene Mittel des politischen Kampfes ist – oder ob jeweils zivile Mittel zielführender sind –, das war für ihn bloß eine taktische, keine prinzipielle Frage.
 

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„Lenins unproblematischem Übergang vom Politischen bzw. Zivilen zum Militärischen lag eine Auffassung vom Politischen zugrunde, die auf dem Kampfbegriff beruhte und daher Politisches bzw. Ziviles und Militärisches mühelos auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen vermochte. Das Militärische war für ihn ein Anwendungsfall des Politischen, keine Abweichung von ihm“, so der Sozialhistoriker Panajotis Kondylis in seiner inzwischen vergriffenen „Theorie des Krieges“.

Eines ist daran immer noch aktuell: Lenins Lehre von der Einheit des Militärischen und des Zivilen wurde zur Grundlage der sowjetischen Militärdoktrin, die noch heute (in verschiedenem Ausmaß) auch das Handeln der russischen und der ukrainischen Streitkräfte prägt. Und der menschliche Faktor blieb für die Militärdoktrin der Sowjets stets zentral: Wie der sowjetische Militärtheoretiker Savkin in seinem Klassiker „Grundprinzipien der operativen Kunst und Taktik“ 1972 schrieb, sollte selbst im Atomkrieg die psychologische Motivation bzw. Mobilisierung des gesamten Volkes ausschlaggebend sein.

Die Bedeutung des qualitativen Faktors

Savkin zufolge tauge die allein quantitative Gegenüberstellung der Anzahl an Soldaten oder Raketen beider Armeen nicht dazu, den genauen Verlauf oder den Ausgang eines Krieges vorherzusagen. Hier ruft er dem Leser zwei qualitative Faktoren in Erinnerung, die man nicht vernachlässigen dürfe. Erstens: „Der Verlauf und der Ausgang des Krieges sind von seinem politischen Inhalt abhängig.“ Und zweitens: Verlauf und Ausgang hingen in entscheidendem Maße davon ab, „wie sich die moralisch-politischen und psychologischen Kapazitäten der Krieg führenden Armeen und Völker zueinander verhalten“.

Natürlich musste Savkin seine These mit einem passenden Lenin-Zitat untermauern. In einer Ansprache an versammelte Rotarmisten aus dem Jahr 1920 sagte dieser: „Die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des Krieges, das Bewusstsein der Notwendigkeit, das eigene Leben für das Wohl seiner Kameraden zu opfern – das hebt den Kampfgeist der Soldaten und lässt sie unglaubliche Belastungen ertragen.“

Dass Chodarjonok sich im russischen Fernsehen auf das Erbe der „Klassiker des Marxismus-Leninismus“ beruft, ruft daher in Russland alles andere als Verwunderung hervor. Die unanfechtbare Autorität der „Klassiker“ flößt der Moderatorin eher Respekt ein, der sie in eine Art Schockstarre versetzt. Die dahinterliegende Botschaft Chodarjonoks kann für russische Ohren kaum provokanter klingen: Die Ukraine schlägt Russland nach dem Lehrbuch der sowjetischen Militärdoktrin.

Eine Koalition von 42 Staaten

Aber auch im globalen Maßstab steht Russland weitgehend allein da. Bezüglich der geopolitischen Situation Russlands stellt Chodarjonok daher fest: „Es ist einigermaßen komisch, wenn wir Finnland mit ein paar Raketen drohen. Wir befinden uns doch in einer vollständigen geopolitischen Isolation. Sie stimmen mir sicher darin zu, dass die Situation nicht normal ist. Und was Indien und China angeht, müssen wir feststellen, dass sie unser Land eben nicht bedingungslos unterstützen. … Gegen uns hat sich eine Koalition von 42 Staaten formiert. Unsere militärpolitischen und -technologischen Kapazitäten dagegen sind sehr beschränkt. Diese Situation ist nicht normal. Wir müssen da raus.“

Meint Chodarjonok damit einen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine? Oder gar eine russische Kapitulation? Zumindest für die Moderatorin hört sich das so an. Daher antwortet sie verbissen: „Kaum jemand hält die aktuelle Situation für normal. Ich wiederhole, wir sind [zu diesem Krieg] gezwungen worden. Es geht um unser aller Existenz. Aufgeben ist keine Option. Man wird nicht mit jemandem auf einen Nenner kommen können, der unsere Vernichtung will.“

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Darüber gibt ein Artikel desselben Mikhail Chodarjonok Aufschluss, den er noch am 3. Februar in der Online-Militärzeitschrift Nezavisimoje voennoje obozrenie (zu deutsch: Unabhängige Militär-Rundschau) publiziert hatte. Das war einundzwanzig Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – und doch sah er in seinem Text „Die Prognosen der blutrünstigen Politologen“ alle Probleme präzise voraus, mit denen die russische Armee heute zu kämpfen hat. Was schrieb Chodarjonok am 3. Februar? Es geht im Großen und Ganzen um sechs Themenkomplexe:

  1. um den psychologischen Faktor (niemand wird die Russen mit Blumen empfangen);
  2. um die Unmöglichkeit, die Ukraine mit „einem mächtigen Feuerschlag“ zu enthaupten (erstens ist sie dafür schlicht zu groß, zweitens taugt eine solche propagandistische Phrase militärisch nichts);
  3. darum, dass eine totale russische Luftüberlegenheit in der Ukraine nie erreicht werden könne (angesichts moderner ukrainischer Luftabwehrwaffen sei das unmöglich);
  4. um die Modernisierung der ukrainischen Armee seit 2014 (sie ist kein Sowjetrelikt mehr, sondern eine moderne Armee auf Nato-Standard);
  5. um die massive westliche Unterstützung für die Ukraine, die in einer Neuauflage des amerikanischen Lend-Lease-Programms und der Lieferung gebrauchter Flugzeuge sowjetischen Bautyps münden könnte (was tatsächlich auch so eingetreten ist);
  6. um die schrecklichen Perspektiven des Partisanenkriegs im Falle einer konventionellen Niederlage der Ukraine, der für Russland überaus blutig verlaufen würde (der ukrainische Widerstand gegen Stalins Schergen hielt ab 1945 mehr als zehn Jahre an).

1. Hass gegen Moskau wird unterschätzt

Zum psychologischen Faktor schreibt Chodarjonok:

„Zu sagen, dass niemand in der Ukraine das Regime verteidigen wird, bedeutet in der Praxis eine völlige Unkenntnis der militärischen und politischen Lage und der Stimmung der Volksmassen im Nachbarstaat. Außerdem wird das Ausmaß des Hasses (der bekanntlich der wirksamste Treibstoff für den bewaffneten Kampf ist) in der Nachbarrepublik gegenüber Moskau offen gesagt unterschätzt. Niemand wird in der Ukraine die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen empfangen.“

Weiter schreibt er über die Lehren, die man aus dem Donbass-Krieg 2014 hätte ziehen müssen:

Aus den Ereignissen im Südosten der Ukraine im Jahr 2014 hat man offenbar nichts gelernt. Damals rechneten sie auch damit, dass sich die Ukraine östlich des Dnjepr in Sekundenschnelle in ‚Noworossija‘ verwandeln würde. Sie zeichneten bereits Landkarten, schätzten den Personalbestand der künftigen Stadt- und Regionalverwaltungen ein und entwarfen Staatsflaggen. Aber selbst die russischsprachige Bevölkerung in diesem Teil der Ukraine (einschließlich Städten wie Charkiw, Saporoshje, Dnipropetrowsk und Mariupol) unterstützte solche Pläne in ihrer großen Mehrheit nicht. Das Projekt ‚Noworossija‘ hat sich irgendwie unmerklich entleert und ist still und leise gestorben.“

2.  Die russischen Blitzkriegs-Fantasien entbehren jeglicher Grundlage

Zu den Perspektiven einer ‚blitzkriegartigen‘ Zerschlagung der Ukraine schreibt er:

„Zu erwarten, dass ein einziger solcher Schlag die Streitkräfte einer ganzen Nation vernichten kann, bedeutet, dass man bei der Planung und Durchführung von Kampfeinsätzen grenzenlos optimistisch ist. Im Verlauf hypothetischer strategischer Operationen auf diesem Schauplatz wäre es notwendig, nicht nur einen oder zwei, sondern viele solcher Schläge durchzuführen.“

3. Die bittere Lektion aus Afghanistan und Tschetschenien

Die russische Erwartung einer totalen Luftüberlegenheit in der Ukraine korrigiert Chodarjonok mit Verweis auf die Erfahrungen in Afghanistan und Tschetschenien:

„Irgendwie wird vergessen, dass die bewaffneten afghanischen Oppositionsverbände während des Konflikts von 1979 bis 1989 nicht über ein einziges Flugzeug oder einen einzigen Kampfhubschrauber verfügten. Und der Krieg in diesem Land zog sich über zehn Jahre hin. Die tschetschenischen Kämpfer hatten auch kein einziges Flugzeug. Der Kampf gegen sie dauerte mehrere Jahre und war für die russischen Streitkräfte sehr blutig und kostspielig. Und die ukrainischen Streitkräfte verfügen über eigene Kampfflugzeuge sowie Luftabwehrwaffen.“

4. Eine Armee auf Nato-Standard

Über die Modernisierung der ukrainischen Armee ab 2014 kann man bei Chodarjonok folgendes nachlesen:

„Waren die ukrainischen Streitkräfte vor 2014 ein Relikt der Sowjetarmee, so hat die Ukraine die letzten sieben Jahre dazu genutzt, ihre Armee qualitativ umzubauen. Sie steht auf einer völlig anderen ideologischen Grundlage und orientiert sich weitgehend an Nato-Standards. Und aus vielen Ländern des Nordatlantischen Bündnisses kommen jetzt und auch weiterhin hochmoderne Waffen und Ausrüstungen in die Ukraine.“

5. Lend-Lease und andere Waffenlieferungen

Über die Unterstützung aus dem Westen heißt es weiter:

„Es ist nicht auszuschließen, dass der kollektive Westen Kiew recht schnell mit Jagdflugzeugen versorgen kann, die er aus den Beständen der Streitkräfte – einfach gesagt aus zweiter Hand – bezieht. Dieses gebrauchte Flugzeug wird jedoch in Bezug auf seine taktischen und technischen Merkmale mit den meisten russischen Flugzeugen vergleichbar sein. … Es besteht kein Zweifel daran, dass die USA und die Nato-Staaten eine Wiederbelebung des Lend-Lease nach dem Vorbild des Zweiten Weltkriegs einleiten werden. Wir können einen Zustrom von Freiwilligen aus dem Westen nicht ausschließen, von denen es viele geben könnte.“

6. Partisanenkrieg in der modernen Großstadt

Und schließlich schreibt er zum Horrorszenario des Partisanenkrieges:

„Es sei auch daran erinnert, dass der mächtige NKWD der Stalinzeit und die sowjetische Millionenarmee den nationalistischen Untergrund in der Westukraine mehr als zehn Jahre lang bekämpften. Und nun besteht die Möglichkeit, dass die gesamte Ukraine in den Partisanenkrieg abgleiten könnte. Darüber hinaus könnten Partisanengruppen ohne große Probleme auch in Russland aktiv werden. Der bewaffnete Kampf in den ukrainischen Großstädten ist schwer vorherzusagen. Es ist allgemein bekannt, dass eine Großstadt das beste Schlachtfeld für die schwächere und technologisch weniger fortgeschrittene Seite eines bewaffneten Konflikts ist. … Weder Berge noch Wälder noch Dschungel bieten heute solche Möglichkeiten. … Die russische Armee könnte also in einem hypothetischen Krieg mit der Ukraine mit weit mehr als nur Stalingrad und Grosny konfrontiert werden.“

Fazit: Ein Krieg ist nicht im nationalen Interesse Russlands

Daraus zog Chodarjonok drei Wochen vor Kriegsausbruch den bemerkenswerten Schluss:

„Ein bewaffneter Konflikt mit der Ukraine ist derzeit grundsätzlich nicht im nationalen Interesse Russlands. Daher sollten einige übererregte russische Experten ihre Jubelfantasien besser vergessen. Und um eine weitere Rufschädigung zu vermeiden, sollten sie sie nie wieder erwähnen.“

Offenbar wollte der russische Generalstab an Chodarjonoks pessimistische Prognose nicht glauben. Dabei wäre der Krieg noch Anfang Februar noch zu vermeiden gewesen: Sein Text zeigt, dass die Entscheidung zum Angriff alles andere als alternativlos gewesen ist. Die Behauptung der Moderatorin, Russland hätte keine andere Wahl gehabt, entpuppt sich damit als rhetorische Nebelkerze.

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