Rückkehr aus der Ukraine - 33 Fahnen im Wind

Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann ist von einer erneuten Reise in die Ukraine zurückgekehrt. Hier schildert er einzelne Erlebnisse vor Ort und seine Gedanken nach seiner Rückkehr nach Berlin: Was, wenn der Versuch einer Gegenoffensive der Ukraine im Frühjahr fehlschlägt?

33 Gräber von Gefallenen aus der Stadt Kramatorsk / Moritz Gathmann
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die Gefühle, mit denen ich dieses Mal aus der Ukraine zurückkomme, sind schwer in Worte zu fassen. Nach der Reise nach Kiew, Tschernihiw und dann in den Osten, bin ich so niedergeschlagen zurückgekehrt, wie ich es Anfang März vorigen Jahres war, als ich den Kriegsbeginn in ebenjenem Kramatorsk erlebt hatte. Ich habe mit Kollegen gesprochen, denen es ähnlich geht. Ich suche nach Gründen.

Neu ist, wie groß der Kontrast innerhalb des Landes geworden ist: Während im letzten Jahr – abgesehen vom Westen oder dem Landesinneren – alle Landesteile vom Krieg betroffen waren, scheint er in Kiew inzwischen sehr, sehr weit weg zu sein. Der Raketenalarm kümmert kaum noch jemanden. Seit Anfang Februar sind nur noch vereinzelt Stromausfälle zu verzeichnen. Cafés, Bars, Theater haben geöffnet.

Die Raketenabwehr fängt regelmäßig die Drohnen ab, die Richtung Kiew fliegen. Auch der bekannte Technoclub K41 hat jetzt samstags bis zur Sperrstunde wieder offen. Gerade in der Nacht auf den Donnerstag kam es allerdings wieder zu einem groß angelegten russischen Raketenangriff auf die zivile Infrastruktur Lwiw, Charkiw, Dnipro und Odessa. Auch ein Ziel in Kiew wurde getroffen.

Selbst in Tschernihiw, jener Stadt zwei Stunden nördlich von Kiew, die im März von den Russen de facto umzingelt wurde, geht das Leben wieder seinem fast normalen Gang. Die Zerstörungen sind übersichtlich. Gebäude, die nicht völlig zerstört sind, werden jetzt mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut. Völlig anders im Osten.

Verbissen die Position halten 

Das beginnt schon bei der Zugfahrt nach Kramatorsk: Die Hälfte der Passagiere sind Soldaten, die aus einem kurzen Heimaturlaub zurück an die Front fahren, nach Bachmut, Kreminna, Awdijiwka und all die kleinen Dörfer, deren Namen man noch nie gehört hat, in denen die ukrainische Armee jetzt verbissen die Position hält.

Wer im Osten über Land fährt, der begreift zudem, welches Ausmaß die Zerstörung nach einem Jahr angenommen hat. In der Großstadt Kramatorsk, weit von den russischen Artilleriegeschützen entfernt, ist die Zerstörung nur punktuell, aber in dieser Industriestadt mit ehemals 160.000-Einwohner-Stadt hat gerade die letzte Fabrik ihre Pforten geschlossen. Die Stadt wird von Rentnern und den Tausenden Soldaten am Leben erhalten, die hier einkaufen, in Cafés und Restaurants gehen.

Schlafender Soldat im Zug / Moritz Gathmann

Andere Städte im Gebiet Donezk wie Lyman, aber auch auf dem Weg Richtung Charkiw sind zerstört, und solange die Front oder die russische Grenze nur wenige Kilometer entfernt ist, wird sich daran auch nichts ändern. Wozu wiederaufbauen, wenn der Krieg jederzeit wiederkommen könnte?

Mit neuen Soldaten aufgefüllt

Was die Soldaten, die in Kramatorsk über die Stadt verteilt in Wohnungen leben, in sehr konkreten Schilderungen erzählen, verdeutlicht das Ausmaß des Gemetzels, das sich im Frontabschnitt um Bachmut abspielt. Man versteht, wie abgehoben-abstrakt all diese Diskussionen in Deutschland sind. Ja, selbst die Videos, die einem auf Twitter oder Telegram scheinbare maximale Nähe zu den Geschehnissen suggerieren, erzählen in Wirklichkeit nur ein sehr distanziertes Bild dessen, was dort vor sich geht.

Es sind Berichte darüber, wie die russische Armee sinnlos ihre Soldaten verheizt, Frontalangriffe auf gut befestigte Positionen der Ukrainer durchführt, die an Erzählungen deutscher MG-Schützen aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, die nicht begreifen konnten, wie die Sowjets Welle um Welle ihre Positionen attackierten und im Kugelhagel starben. Es sind aber auch Erzählungen über sehr hohe eigene Verluste, die kaum auszugleichen sind, Bataillone, die innerhalb von ein, zwei Monaten mehrmals „auf Null gesetzt“, also kampfunfähig wurden, und dann wieder mit neuen Soldaten aufgefüllt werden mussten.

Granatwürfe über den Zaun

„Der Preis, den wir selber zahlen, ist sehr hoch“, heißt es immer wieder. Es sind Erzählungen von Kameraden, die sich nach einem schweren Gefecht selbst in den Kopf schießen, weil sie das nicht noch einmal erleben wollen. Frisch einberufene Soldaten werden direkt in den Kampf geschickt. Wenn sie sich weigern, bekommen sie zwar eine Ausbildung. Wenn nicht, müssen sie kämpfen. Was jedoch für die unerfahrenen Soldaten ein Risiko darstellt, weil sie im Ernstfall dem Druck nicht standhalten.
 

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Die erfahrenen Soldaten, viele von ihnen vor dem 24. Februar 2022 Zivilisten, sind abgestumpft. Einer erzählt, wie er beim letzten Heimaturlaub sah, wie eine Frau überfahren wurde, und er beim Anblick nichts spürte. Er ging zum Psychologen, der eine Depression diagnostizierte. Dann fuhr er wieder zurück an die Front. Für Therapien ist jetzt keine Zeit, jeder Mann wird an der Front gebraucht. Man tauscht Nummern aus, verabredet sich für ein Bier nach Ende des Kriegs, aber es ist ein anderer Ton als im vergangenen Frühjahr.

Ich frage mich immer wieder: Werde ich diese Menschen noch einmal wiedersehen? Sie erzählen vom Häuserkampf in Bachmut, der Feind nur ein paar Meter entfernt im nächsten Haus, oder sogar auf der anderen Seite des Metallzauns, Granatwürfe über den Zaun, nächtliche Attacken. Und über den trotz der verbissenen Verteidigung langsamen Rückzug. Ein Grund dafür ist, dass die Russen immer neue Kräfte in den Kampf werfen, sich trotz hoher Verluste eben doch vorarbeiten, begleitet vom ständigen Unterstützungsfeuer von Artillerie und Granatwerfern. Die deutliche Überlegenheit der Russen bei der Anzahl der abgefeuerten Geschosse ist für die ukrainischen Soldaten jeden Tag spürbar. 

Moritz Gathmann in der Ukraine

An Aufgeben denkt niemand

Und während in Kiew und in den öffentlichen Äußerungen ein Siegeskult gepflegt wird, ja, inzwischen schon auf den Verpackungen von Feuchttüchern „Peremoha“ (Sieg) gedruckt wird, ist die Stimmung unter den Soldaten nüchterner. Nein, an Aufgeben denkt niemand, die Soldaten wollen das durchziehen. Aber der letzte militärische Sieg, die Rückeroberung von Cherson, liegt über vier Monate zurück. Und natürlich fragen sie sich angesichts des langsamen Zurückweichens in Bachmut und an anderen Frontabschnitten im Osten nach den Zielen der Strategie.

Für was genau soll „Peremoha“ stehen? Soll das wirklich die Zurückeroberung der Krim beinhalten? Aber selbst wenn es militärisch möglich sein sollte: Was soll man mit den Bewohnern der Krim machen, wenn selbst die Wiedereingliederung der Menschen, die neun Jahre in den „Volksrepubliken“ verbracht haben, in die Ukraine eine sehr große Herausforderung sein wird? Die ukrainischen Soldaten haben ihre Erfahrungen mit der lokalen Bevölkerung im Donbass gemacht. Einer erzählt, wie er mit den Worten „Was wollt ihr hier?“ aus einem Einkaufsladen geworfen wurde.

33 Fahnen im Wind

Die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung sind glücklicherweise seit dem Frühjahr 2022 kontinuierlich gesunken, auch weil die Kämpfe statischer geworden sind. Im Februar zählte die UN 123 getötete Zivilisten, im März 2022 waren es 3918, im vergangenen Sommer jeden Monat über 300. Gleichzeitig nehmen die gesammelten Verluste beider Armeen aber von Monat zu Monat Ausmaße an, die es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab.

Auf dem Iwanowo-Friedhof bei Kramatorsk wehen auf der frisch eingerichteten „Ruhmesallee“ 33 Fahnen im Wind, 33 Gräber von Gefallenen aus der Stadt Kramatorsk von Oktober bis Januar, daneben ist der Platz bereitet für neue Gräber. Wer die Zahlen hochrechnet, kommt sehr schnell in jene Bereiche, von denen der US-General Mark Milley spricht. Er hatte schon Ende November die ukrainischen Verluste auf 100.000 Tote und Verwundete geschätzt. 

Der Fleischwolf Ostfront 

Alle rechnen mit einer Frühjahresoffensive der Ukrainer. In Kiew, in Tschernihiw, in Kramatorsk, in der Metro und in den Zügen hängen Plakate der Nationalgarde, des Bataillons „Asow“ und anderer Einheiten, die Menschen zum Eintritt in die Armee motivieren sollen. Die Zeit, als die Menschen Schlange standen, um in die Armee oder andere Einheiten einzutreten, ist lange vorbei. Das hat auch damit zu tun, dass eben nicht mehr jede Stadt und jedes Dorf der Ukraine gleichsam bedroht ist.

Aber auch damit, dass die Menschen natürlich verstehen, was für ein Fleischwolf speziell die Front im Osten ist. Besonders schwer ist es, Menschen für die Infanterie zu finden, jene Speerspitze, die den Winter in schlammigen Schützengräben verbracht hat, die ganz vorne kämpft und natürlich die höchsten Opferzahlen zu verzeichnen hat.

Die Regierung hat auch deshalb jüngst die monatlichen Zusatzzahlungen neu verteilt: Neben dem Sold bekommen jetzt nur noch diejenigen, die direkt an der Frontlinie kämpfen, 100.000 Hrywnja (2500 Euro) zusätzlich. Wer im Hinterland Dienst schiebt, bekommt 30.000. Verteidigungsminister Resnikow machte in einem Interview keinen Hehl daraus, dass auch finanzielle Gründe eine Rolle spielen: Die Belastungen für das ukrainische Budget sind riesig. Für jeden Gefallenen zahlt der Staat den Hinterbliebenen 15 Millionen Hrywnja, das sind knapp 400.000 Euro.

Zu groß ist der russische Nachschub

Wenig weist darauf hin, dass die Ukrainer in Kreminna, in Bachmut oder an anderen Frontabschnitten im Osten wieder die Initiative zurückerlangen könnten. Zu groß ist trotz der hohen Verluste weiterhin der Zustrom russischen Nachschubs an Militärtechnik und Soldaten. Alle schauen auf den Frontabschnitt südlich von Saporischschja Richtung Asowsches Meer. Sollte es der Ukraine gelingen, die russischen Verteidigungslinien zu überwinden und bis ans Meer durchzustoßen, wäre die russische Armee dort in zwei Teile gespalten, die Versorgung der westlichen Gruppe wäre nur noch über die Krim möglich.

Aber die Russen haben sich entlang der bestehenden Frontlinie tief eingegraben. Woher soll die Ukraine die Technik, die Munition und die Soldaten nehmen, um diese Linien zu durchbrechen und das Territorium zu halten? Die derzeitigen westlichen Waffenlieferungen sind ein positives Zeichen, aber sie sind nicht so substanziell, dass sie in den nächsten Monaten der Ukraine einen klaren Vorteil verschaffen könnten. Und was, wenn der Versuch einer Gegenoffensive fehlschlägt? Was wird Selenskyj tun mit den Erwartungen der (laut Umfragen) 95 Prozent der Bevölkerung, die an die „Peremoha“ glauben? Was, wenn sich in den nächsten Monaten ein militärisches Patt einstellt, das Tag für Tag nur noch mehr Tote und Zerstörung produziert?

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