Ex-Innenministerin Suella Braverman - Zu hoch gepokert

Der Fall Braverman birgt eine Lektion für alle Konservativen. Das Migrationsproblem gehört angepackt. Im rhetorischen Überbietungswettbewerb braucht man sich dennoch nicht von jeglichem Anstand zu verabschieden.

Ex-Ministerin Suella Braverman, 13.11.2023 / picture alliance
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Shantanu Patni studiert Osteuropa-Studien an der Freien Universität Berlin. 

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Die Äußerung, welche die britische Innenministerin Suella Braverman am Montag ihr Amt gekostet hat, ist nur die letzte in einer Reihe, die aber das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In einem Gastbeitrag in der Times warf sie der Polizei vor, parteiisch, also allzu tolerant mit propalästinensischen Demonstranten umzugehen, während nationalistischen Gegendemonstranten die Stirn geboten werde. Ein solches Statement war nicht mit Premierminister Rishi Sunak abgesprochen; was für ihn letztlich den Ausschlag gab, Braverman zu entlassen.

„Mut zur Wahrheit“, würden einige vermutlich denken. Was sich bei Braverman allerdings mehrfach gezeigt hatte in den vergangenen Monaten, war eine klare wie dumpfe Strategie: Aufreger setzen und damit die Aufgeregten bedienen. Seit ihrem Amtsantritt war klar, dass sie sich zum Liebling des rechten Flügels der Partei aufschwingen wollte. Ihre Strategie: Ihre Kritik an der Migrationspolitik bei jeder gebotenen Möglichkeit auf die Spitze zu treiben. Dass sie dabei wie die Karikatur einer Rechtspopulistin wirkte, schien sie nicht zu stören.

Mut zur Wahrheit, oder reine Hemmungslosigkeit?

Auf einer Konferenz zum „Nationalen Konservatismus“ im Mai hatte Braverman eine Rede gehalten, in der sie erklärte, Einwanderung bedrohe den „nationalen Charakter“ des Landes und stelle eine „existenzielle Herausforderung“ für den Westen dar. Einheimische sollten für jene Arbeitsplätze ausgebildet werden, fuhr sie fort, die derzeit von Einwanderern besetzt seien.

Anfang Oktober fand der Tory-Parteitag in Manchester statt. Schon im Vorfeld rückte sich Braverman in den Mittelpunkt der Veranstaltung. Denn ihre erneute Absichtserklärung, die Europäische Menschenrechtskonvention zu verlassen, dominierte die Schlagzeilen. In Bravermans Rede fällt auf, dass die Akzentsetzung nahezu ausschließlich auf Migration und Kriminalität gelegt wurde. Kaum ein Wort zu den explodierenden Lebenskosten. Nichts zum Kollaps des staatlichen Gesundheitssystems. Beide Themen gelten aber neben Migration als die großen Sorgen der britischen Wählerschaft. 

 

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Stattdessen setzte Braverman nur darauf, als Kulturkämpferin perspektivisch ins höchste Amt des Landes zu gelangen. Sie wolle nicht, dass britische Gefängnisse durch ausländische Kleinkriminelle „verstopft“ werden, sondern dass diese sofort „herausgeschmissen“ werden. Vor einer Woche bezeichnete sie Obdachlosigkeit als eine Frage des Lebensstils. Es sei unter anderem ihr „Traum“, sagte sie, einen ersten Flug voller Asylbewerber nach Ruanda zu verabschieden. Und weiter: Der von Tony Blairs Labour-Regierung einst verabschiedete „Human Rights Act“ hätte lieber „Criminal Rights Act“ heißen sollen, so Braverman. Zu ihren Vorschlägen zur zukünftigen Behandlung von Verdächtigen tönte sie ins Mikrofon: „Es ist mir egal, ob jemand meint, dies sei ein Eingriff in seine Menschenrechte.“

In der Sache hatte sie immer wieder Recht

Die schwarz-weiße Gegenüberstellung einer korrupten Elite und des reinen Volkes, das Skandieren von auf Applaus gerichteten Parolen – all das gehört zu einer engen Definition des Populismus. Es steht also außer Zweifel, dass Bravermans Rhetorik als ebensolcher identifiziert werden muss. Dabei hatte sie in der Sache nicht zwangsläufig unrecht. 

Als Braverman etwa behauptete, die UN-Flüchtlingskonvention sei nicht mehr zeitgemäß, musste selbst die Times – nicht gerade für konservative Positionen bekannt – in einem Leitartikel zugeben, dass „sie zu Recht die Fragen stellt, die gestellt werden müssen“. Die Rechtsvorschriften der UN stammen aus der Zeit des Kalten Krieges. In diesem Zusammenhang waren sie als eine kurzfristige Lösung gedacht, um den von jenseits des Eisernen Vorhangs Fliehenden Hilfe zu bieten. Die Verfasser der UN-Flüchtlingskonvention hätten sich die Hyperglobalisierung dieses Jahrhunderts und ihren Nebeneffekt – die heutige Migrationskrise – wohl nie vorstellen können. 

Auch anhand eines etwas weniger bekannten Beispiels lässt sich verdeutlichen, dass ein Realismus à la Braverman eigentlich das Gebot der Stunde wäre. Im Januar ist Ali Reza Akbari, ein früherer Vize-Verteidigungsminister des Iran, der auch die britische Staatsangehörigkeit besaß, vom iranischen Regime wegen Spionagevorwürfen hingerichtet worden. Ihm wurde vorgeworfen, für den britischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Das britische Unterhaus verabschiedete daraufhin einen Antrag, in dem die britische Regierung aufgefordert wurde, die „Islamische Revolutionsgarde“ (engl. IRGC) endlich als eine terroristische Organisation einzustufen. Die Vereinigten Staaten haben das bereits 2019 getan. 

Das Votum fiel einstimmig aus, war aber nicht bindend. Danach geriet die Frage in interne Regierungsstreitigkeiten, vor allem zwischen Innenministerin Braverman und Außenminister James Cleverly – der sie nun im Innenministerium ersetzt, während der frühere Premier David Cameron Außenminister wird. Bereits letztes Jahr hatte der britische Geheimdienst darauf hingewiesen, dass insbesondere prominenten Juden in Großbritannien tatsächlich Entführung oder Tötung durch Irans „aggressive Geheimdienste“ drohen könnte. 

Braverman plädierte für ein schnelles Verbot der IRGC. James Cleverly soll Bedenken gehabt haben. Ein Verbot könne kontraproduktiv sein, so sein Argument, weil die Rolle der IRGC im iranischen Militärapparat derart zentral sei, dass eine solche Einstufung einer Einstufung des gesamten Regimes in Teheran als terroristische Vereinigung gleichkäme. Wenn man also die IRGC sanktioniert, die vom iranischen Staat nicht zu trennen ist, wie soll man dann – allein rechtlich – mit diesem Staat verhandeln?

Seit dem 7. Oktober wäre nun zu diskutieren, ob ein solches Verbot den Entwicklungen des letzten Monats etwas hätte zuvorkommen können. Zudem ist das Ausmaß der propalästinensischen Demonstrationen in London derart groß, dass jene propalästinensischen Demonstrationen in Berlin fast harmlos erscheinen. Auch beim besten Willen können die britischen Polizeikräfte die Situation nur schwerlich in den Griff bekommen, geschweige denn ein im Plenarsaal ausgehandeltes Verbot durchsetzen. Außerdem ist die Polizei letztendlich dem Innenministerium untergeordnet, jenes Amt, das Braverman bis gestern bekleidet hatte.

Konservatismus und Rechtspopulismus?  

Die Wählerschaft der britischen Konservativen sieht die Zeit nach der 2019er Wahl, als Boris Johnson eine absolute Mehrheit gewann, in vielerlei Hinsicht als eine „verlorene Chance“. Die Tories haben an ihren Wünschen vorbeiregiert, obwohl sie ein klares Mandat bekamen, und tun nun so, als ob sie die ganze Zeit in der Opposition gewesen seien. Deswegen hinken sie in den Umfragen auch satte 20 Punkte hinter Labour her. 

Auch im letzten Jahr sind knapp über 600.000 Zuwanderer ins Land gekommen. Kulturkämpferische Rhetorik allein bestimmt die Politik aber nicht. Ein Spitzenpolitiker, der das Augenmerk der Öffentlichkeit darauf richten möchte, dass ein hochklassiges Gesundheits- und Sozialsystem mit unkontrollierter Migration unvereinbar ist, sollte das auch entsprechend formulieren. Sachlich und sauber. Braverman ist das nicht gelungen. Ihre Entlassung: folgerichtig.  

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