Proteste im Iran - Wie reagieren Muslime in Deutschland?

Die Proteste meist junger Iraner gegen das Mullah-Regime, die im September begannen, beschäftigen Muslime in aller Welt. Die Reaktionen in Deutschland lebender Muslime auf die Demonstrationen und die staatliche Repression fallen recht unterschiedlich aus.

Viele in Deutschland lebende Iraner protestieren gegen das Regime in Teheran, wie hier am 12. November vor dem Brandenburger Tor in Berlin / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Der Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Masha Amini im September 2022 hat zu andauernden landesweiten Protesten im Iran geführt. Was anfangs als Kritik an der verhassten „Sittenpolizei“ interpretiert wurde, hat sich längst zu den bemerkenswertesten Aufständen in der Islamischen Republik entwickelt. Nicht nur Minderheiten wie Kurden, Aserbaidschaner oder Luren drängen auf eine Änderung der Machtverhältnisse. Anders als bei vorherigen Protesten sind auch gläubige Muslime, säkulare Iraner, marginalisierte Gruppen, bekannte Künstler und Angehörige aller Schichten mit den Minderheiten vereint in ihrer Forderung nach einem Regimewechsel.

Maßgeblich gestaltet werden die Proteste von der sogenannten „Generation Z“. Die Botschaft junger Iraner ist eindeutig: Sie wollen das Ende der Islamischen Republik. Die Proteste im Iran stellen auch für Liberale und Säkulare in Ländern des Nahes Ostens eine zentrale politische Entwicklung dar. Viele stellen sich die Frage: Ist eine liberale und säkulare Demokratie, wie sie sich die Menschen im Iran wünschen, in einer mehrheitlich muslimisch geprägten Gesellschaft möglich?

Doch wie reagieren Muslime in Deutschland auf die Ereignisse im Iran? Die Interessen in Deutschland lebender Muslime werden von Verbänden und Vereinen repräsentiert, deren Vielfalt und Breite auch die unterschiedlichen Rechtsschulen und Interpretationen des Islams widerspiegeln, nicht aber zwingend die Milieus der in Deutschland lebenden Muslime. Die Migranten in Deutschland beziehen ihre Informationen und Interpretationen der aktuellen Ereignisse auch aus muttersprachlichen Zeitungen und Fernsehkanälen. Viele dieser Zeitungen und Kanäle sowie „Infuencer“ agieren aus ihrem einstigen Heimatland und repräsentieren nicht selten die offizielle Staatslinie. Die Haltung ihrer Medien, die Stellungnahmen ihrer Politiker und ihrer Verbände zu aktuellen Ereignissen sind oft ausschlaggebend für ihre eigene politische Positionierung.

Unterschiedliche Reaktionen islamischer Verbände

Der überwiegende Teil der 4,4 bis 4,7 Millionen Muslime in Deutschland (ca. 45,1 % Stand 2020) stammt aus der Türkei. Deren islamischer Dachverband DITIB, ein Ableger der türkischen Religionsbehörde, ist mit seinen circa 130.000 Mitgliedern zugleich auch der mitgliederstärkste. Auf seiner Website betrauert der Verband die kürzlich verstorbene Mevlüde Genc, die bei dem Brandanschlag 1993 in Solingen mehrere Familienmitglieder verlor. Auch anderer türkischstämmiger Opfer rechtsradikaler Gewalt wird gedacht. Eine Stellungnahme zu den gewaltsamen Ausschreitungen der iranischen Sicherheitskräfte gegenüber unbewaffneten Zivilisten im Iran bleibt aus.

Dabei beobachten feministische Vereine, Aktivistinnen in der Türkei und liberale Türkischstämmige in Deutschland die Forderungen nach Freiheit iranischer Frauen mit großer Aufmerksamkeit. Die Türkei weist innerhalb der OECD-Länder die höchste Anzahl an Femiziden auf, türkische Menschenrechtsaktivisten werfen der Regierung eine Politik vor, die die Gewalt an Frauen nicht verhindert und keinerlei Investitionen oder Unterstützung für Aufklärung oder Prävention vorsieht.

Während DITIB sich als Sprachrohr türkischer Muslime sieht, beansprucht der Zentralrat der Muslime, alle Muslime Deutschlands und ihre Interessen zu vertreten. Seine ideologische Unabhängigkeit garantiert der Zentralrat – eigenen Angaben zufolge –, indem er sich nicht von ausländischen Staaten oder Sponsoren finanzieren lasse. Der Vereinsvorsitzende Aiman Mayzek äußert sich in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zu den Ereignissen im Iran und verurteilt in diesem Interview die scharfen Reaktionen der iranischen Polizei. Einen Kopftuchzwang gebe es im Islam nicht, ferner wünsche er sich, dass die Ereignisse im Iran das Zusammenleben von Muslimen und Christen in Deutschland nicht gefährden.

Deutschlands „Exiliraner“ unterstützten die Proteste

In Deutschland lebende Iraner, oft als Exiliraner bezeichnet, weisen einen hohen Akademisierungs- und Bildungsgrad auf. Sie sind sehr gut in den weltweiten iranischen Communitys vernetzt und engagieren sich häufig gesamtgesellschaftlich. Nicht wenige von ihnen sind Politiker oder Künstler und haben eine große Reichweite. Ihrem Engagement und ihrem Informationsfluss verdanken internationale Medien – trotz Zensur und Internetsperren im Iran – sehr viele Details zu den Aufständen im Iran.

Der überwiegende Teil iranischer Muslime in Deutschland ist schiitisch geprägt und wird durch den IGD e.V. (Iranische Gemeinde in Deutschland) repräsentiert. Der Verein ruft seine Mitglieder öffentlichkeitswirksam zur Unterstützung der Demonstranten im Iran auf. Auf seiner Website bewirbt der Verein Solidaritätsdemonstrationen und fordert seine Freunde und Mitglieder zur Teilnahme auf: „Es ist an der Zeit, Solidarität mit den Menschen im Iran, die für ihre Grundrechte kämpfen, zu zeigen und mit dem Slogan ,Frauen-Leben-Freiheit‘ die vereinte Kraft der Iraner:innen innerhalb und außerhalb des Landes gegen das Massaker, die Unterdrückung und Folter von Kindern, Frauen und Benachteiligten an den Tag zu legen.“
 

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Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten weist in Deutschland Schätzungen zufolge 700.000 Angehörige auf. Zentrale Elemente des alevitischen Glaubens sind humanistische Werte wie Nächstenliebe, Geduld und Universalismus. Ein Teil der Aleviten erkennt Glaubensvorschriften aus dem Koran nicht an. Auch deshalb waren sie in ihrer ursprünglichen Heimat, der Türkei, viele Jahrhunderte lang Diskriminierung ausgesetzt.

Gülay Kurtyigit, stellvertretende Generalsekretärin der alevitischen Gemeinde Deutschlands, sieht Parallelen im Emanzipationskampf liberaler Iraner und der anatolischen Aleviten: „Als eine Glaubensgemeinschaft, die selbst staatlichen Repressionen ausgesetzt ist und heute mehr denn je um Anerkennung, ihr Recht auf Selbstbestimmung und Menschenrechte kämpfen muss, können wir Aleviten den Freiheitsdrang der Protestierenden im Iran nur allzu gut nachempfinden“, so Kurtyigit. Die alevitische Gemeinde verurteile – Kurtyigit zufolge – die staatliche Gewalt und Repression auf das Schärfste und solidarisiere sich mit den Protestierenden im Iran, die seit dem Tod von Amini für ihre grundlegenden Menschenrechte kämpfen.

Inzwischen äußern sich auch bekannte liberale Muslime in Deutschland zu den Ereignissen im Iran und bekunden ihre Solidarität mit den Frauen, die sich ein Leben in Freiheit und ohne Kopftuchzwang wünschen: Ahmad Mansour, Seyran Ates oder auch Cem Özdemir. Die Liste der prominenten Unterstützer, die zugleich vor einer im Westen falsch verstandenen Toleranz gegenüber Islamismus warnen, ist lang. Ihre Solidarität gilt eindeutig den Kritikern des Regimes.

Verschwörungstheorien boomen

In Social Media kommentieren deutsche Muslime die Ereignisse im Iran. Während liberalere und politisch unabhängige Muslime sich eindeutig auf die Seite der Demonstrierenden stellen und sich gegen die Islam-Auslegung der iranischen Theokratie aussprechen, unterstellen andere den Demonstrierenden, Agenten des Westens zu sein und den Staat destabilisieren zu wollen. Eine Argumentationsstrategie, die sowohl die Islamische Republik als auch andere autokratische Regierungen des Nahen Ostens nutzen, wenn sich Teile der Bevölkerung gegen die Regierung auflehnen.

Manche Kopftuchträgerin in Deutschland empört sich in den sozialen Medien über die vermeintlich breite Unterstützung deutscher Medien für die Frauen im Iran, während sie keine Solidarisierung erfahre und als Kopftuchträgerin schlechtere Karrierechancen in Deutschland habe. Vereinzelt gibt es auch „Mahsa-Amini-Leugner“, die infrage stellen, ob die junge Frau wirklich gestorben ist. Auch hier mit dem Fazit, das Ganze sei ein abgekartetes Spiel des Westens, um den iranischen Staat zu destabilisieren.

Der Appell geht auch an sie

Die Diskussionen und unterschiedlichen Interpretationen der Muslime in Deutschland zeigen die Vielfalt der Auslegungsformen des Islam, aber auch die immense Bedeutung von Vorbildern. Islamischen Vereinen und Verbänden kommt eine Schlüsselrolle als Vermittler von Menschen- und Frauenrechten zu. Der Appell geht also auch an sie, die Ereignisse im Iran zum Anlass zu nehmen und sich eindeutig gegen die im Namen der Religion verübte Gewalt an iranischen Bürgern auszusprechen und ihre Mitglieder hierfür zu sensibilisieren.

Die Vereinnahmung der Islamismuskritik durch Populisten führt in allerletzter Konsequenz zu Ressentiments gegenüber Muslimen und gefährdet das friedliche Zusammenleben. Der  Versuch der vermeintlich politisch Korrekten wiederum, jeglichen kritischen Diskurs über die radikale Auslegung einer Minderheitenreligion in Deutschland durch den Begriff „Islamophobie“ abzuwürgen, Diskursfreudige in eine rechte Ecke zu stellen oder einzuschüchtern, behindert eine vernünftige und konstruktive Auseinandersetzung mit der Gewalt, die die iranische Regierung religiös begründet.

Krieg gegen Allah

„Moharebeh“ – „Krieg gegen Gott“, diese Verurteilung gehört zu den schwerwiegendsten, die das iranische Recht vorsieht. Wie sehen die letzten Tage der Verurteilten aus, die wegen einem „Krieg gegen Allah“ getötet werden? Vergewaltigung, psychische und physische Gewalt, Folter, Drohungen gegenüber den Familien der Verurteilten. Tage, Wochen, Monate, in denen Inhaftierte bei grellem Licht, das nicht abgeschaltet wird, schlafen sollen.

Viele Ex-Insassen des berühmten Evin-Gefängnisses in Teheran berichten, dass sie die ihnen vorgeworfenen Taten nur deshalb gestanden, weil ihren Kindern und anderen Familienangehörigen Folter angedroht wurde. Jungen Frauen, die wegen einer Teilnahme an Protesten festgenommen wurden, droht vor der Hinrichtung mindestens eine Vergewaltigung, denn „Jungfrauen“ dürfen im Iran nicht hingerichtet werden.

Der Islam wird vonseiten der iranischen Regierung als Rechtsfertigungsgrundlage ihrer Gewalt an den Demonstrierenden genutzt. An dieser Stelle wirft die Islamische Republik Iran den Ball allen Muslimen zu. Das Private wird so zum Politischen, kein Muslim kann sagen, das habe nichts mit ihm zu tun. Als Muslimin halte ich mir das vor Augen, wenn ich mich zu den Ereignissen im Iran äußere und mich klar für die Frauen, für das Leben und für die Freiheit im Iran positioniere.

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