Österreichische Konservative - Gefangen in der Dauerrotation

Am Wiener Ballhausplatz herrscht mal wieder Vakanz. Erst erklärte Ex-Kanzler Kurz den Rückzug von allen politischen Ämtern, dann trat Ersatz-Kanzler Schallenberg zurück, zuletzt räumte Finanzminister Blümel seinen Posten. Nun soll der bisherige Innenminister Karl Nehammer den Karren aus dem Dreck ziehen. Eine Glosse.

In der ÖVP gehört der Führungswechsel mittlerweile zur Normalität / dpa
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Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Wer einst den Zorn des brillanten Aphoristikers Karl Kraus auf sich zog, der begab sich am besten in ein dunkles Kämmerchen und sperrte sich dort ein, bis der auf die Seiten seiner Zeitschrift „Die Fackel“ gebannte Tiradenschwall ein Ende fand. Kraus konnte sich wüst an allem abarbeiten, was es aus seiner Sicht verdiente, sei es, weil er sich auf eine unangenehme Art herausgefordert sah oder weil ihn schlichtweg persönliche Animositäten dazu trieben.

Am heftigsten zielte der gebürtige Böhme dabei immer auf all das, was er eigentlich liebte, aus seiner Sicht jedoch diese Liebe so gar nicht verdiente. Eine ständige, treu bleibende Liebesenttäuschung seines Lebens waren Österreich und die Österreicher, ein aus seiner Sicht unbelehrbares Volk, das doch immer wieder dieselben Fehler beging. So schrieb er 1922 in seinem Gedicht „Wien“: „Nirgend auf der Hemisphäre leben solche Missgeburten wie im Land der Habedjehre.“

Nun ist Kraus längst verblichen, Österreich eine stabile Demokratie. Doch stellen wir uns rund 100 Jahre nach seinem Beschimpfungsgedicht vor, er wäre mit der derzeitigen Regierungssituation der zweiten Republik konfrontiert: Kraus würde im Grabe rotieren. Als die größte „Missgeburt“ in der österreichischen Politik stellt sich derzeit die türkis angemalte ÖVP dar. Nicht, weil das Projekt der „Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei“ zu Beginn nicht seine Berechtigung gehabt hätte. Schließlich musste ein Ruck durch die traditionsreiche Partei gehen, die längst zum SPÖ-Anhängsel in der Dauerschleifenoperette mit dem Titel „Große Koalition“ geworden war.

Verheerendes Sittenbild

Aber zur Lebensfähigkeit einer demokratischen Partei gehört auf Dauer eben auch, sich nicht ausschließlich auf eine Heldenfigur zu kaprizieren, es muss Raum für Leben neben dieser zentralen Figur gelassen werden. Und die Hybris sollte nicht Einzug halten. Genau das ist nach den Wahltriumphen in der ÖVP-Parteizentrale aber geschehen – wie nicht zuletzt die privaten, aber veröffentlichten Chats mit Kurz’ „Prätorianer“, dem ehemaligen ÖBAG-Chef Thomas Schmid, und (Ex)-Finanzminister und Intimus Gernot Blümel (ÖVP) offenbarten. Ein verheerendes Sittenbild für ein Land, das wie kaum ein zweites für Hochkultur steht.

Hinzu kommen Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen Kurz wegen des Verdachts der Einflussnahme auf die mediale Berichterstattung über das Schalten von Inseraten. Als Gegenleistung soll es laut Anklage geschönte Umfragen für die Kurz-Partei gegeben haben.

Letztlich blieb – unter anderem weil die Grünen darauf bestanden – nur der Rücktritt des von deutschen, dem Merkel-Kurs abtrünnigen Konservativen heiß geliebten Jünglings aus Wien. Für die Zeit des Interregnum bis zu seinem von sich im Hintergrund geplanten Comebacks installierte er den früheren Diplomaten und damaligen Außenminister Alexander Schallenberg als seinen „Nachfolger“, ein treuer Lakai mit überschaubarem eigenem Willen.

Nehammer soll neuer Kanzler werden

Dazu kommt es nun nicht mehr, stattdessen der Rücktritt von allen politischen Ämtern, der staatsanwaltschaftliche Druck war wohl schlicht zu groß geworden, auch wenn Kurz bei der Pressekonferenz beteuerte, dass allen voran familiäre Gründe ausschlaggebend gewesen seien – kürzlich wurde sein erster Sohn geboren. Damit war der Dominoeffekt nicht mehr aufzuhalten.

Sieben-Wochen-Kanzler Schallenberg zog Kurz nach und begründete seinen Abtritt: „Ich bin der festen Ansicht, dass beide Ämter – Regierungschef und Bundesparteiobmann der stimmenstärksten Partei Österreichs – rasch wieder in einer Hand vereint sein sollten“, so der Diplomat a.D. – Schallenbergs Hände waren ohne Kurz’ Stütze  hierfür nicht gemacht. Blümel betonte hingegen ebenfalls den familiären Aspekt, der sich ihm wohl in den Stunden nach Kurz’ Rücktritt besonders stark aufdrängte. Schließlich scheint die einst so unzertrennlich wirkende türkise Familie zunehmend auseinanderzubrechen.

Die vormals beständig besetzte, mittlerweile aber dauerrotierende ÖVP-Führung hat wohl an einem Wahlkampfslogan der deutschen Grünen besonderen Gefallen gefunden: „Veränderung schafft Halt“. Nun soll der letzte türkise Mohikaner, Innenminister Karl Nehammer, die ÖVP als Parteichef führen und die konservativ-grüne Regierung bis zu ihrem offiziellen Ende im Herbst 2024 hinüberretten.

„Österreichische Ampel" als Alternative?

Dass Nehammers Verbindung zu den Grünen und zur oppositionellen SPÖ als weitgehend intakt gilt, nährt die Hoffnung, nun in ruhigeres Fahrwasser zu geraten. Trotzdem dürften wohl nur die nibelungentreuesten Fans der aktuellen Regierungskoalition an ein Fortbestehen bis 2024 glauben. Zu viele Sollbruchstellen offenbarten sich in den letzten zwei Jahren in der gemeinsamen Regierungsarbeit.

Außerdem wabert am Horizont eine neue Regierungskonstellation für Österreich. Jüngste Umfragen sehen bei vorgezogenen Neuwahlen eine knappe Mehrheit für eine Koalition aus SPÖ, Grünen und NEOS – die österreichische Variante der Ampel. Kürzlich berichtete die Kronen Zeitung über die Möglichkeit dieser Option. Das ist aber alles noch ferne Zukunftsmusik, nun übernimmt erst mal Nehammer das Ruder am Wiener Ballhausplatz, die einigermaßen ramponierte konservativ-grüne Regierung bleibt bestehen.

Und was macht der 35-jährige Bundeskanzler a.D. Sebastian Kurz künftig? In seiner Abschieds-Pressekonferenz ließ er diese Frage offen. Zuvor wurde gemunkelt, er würde im kommenden Jahr einen gut dotierten Posten in der Wirtschaft übernehmen. Eines ist sicher: Seine einst so strahlend begonnene politische Karriere gehört nun erst einmal der Vergangenheit an. Bei seinem Abschied sagte Kurz noch, seine Leidenschaft für die Politik sei durch die Unterstellungen und das Verfahren der Staatsanwaltschaft „ein Stück weit weniger geworden“. Oder, um es abgewandelt, aber im Sinne von Karl Kraus zu sagen: „Die Politik ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.“

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