Oberst Markus Reisner - Der Realist

Der österreichische Oberst Markus Reisner ist mit seinen Analysen zum Ukrainekrieg ein Youtube-Star geworden – ohne Schönfärberei und mit einer mahnenden Botschaft.

Im Auftrag des österreichischen Bundesheeres analysiert Oberst Markus Reisner den Ukraine-Krieg auf YouTube / Mafalda Rakos
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Ich weiß nicht, ob unsere westlichen Gesellschaften bereit sind, den Ernst der Lage zu erkennen“, mahnt Oberst Reisner. Sein geschmeidiger Wiener Dialekt nimmt der Aussage etwas von ihrer Schärfe. Dennoch ist die Botschaft klar: Der Westen macht sich etwas vor. Die militärische Lage der Russen in der Ukraine ist bei Weitem nicht so schlecht, wie häufig suggeriert wird. Und wie es um die ökonomische Widerstandsfähigkeit des Westens bestellt ist, wird der Winter zeigen.

Markus Reisner ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in der Wiener Neustadt. Seit 20 Jahren ist er Offizier des Bundesheeres. Auslandseinsätze führten ihn nach Afghanistan, Mali und in den Kosovo, nach Bosnien-Herzegowina und in den Tschad. Zudem ist er promovierter Historiker, Jurist und Fachmann für unbemannte Waffensysteme und KI.

Der neutrale Kriegserklärer

Vor allem aber ist Reisner in den vergangenen Monaten zu einem Youtube-­Star avanciert. Auf dem Kanal des österreichischen Bundesheers analysiert er seit Beginn des Ukrainekriegs die militärische Lage, technische Fragen und das taktische und operative Vorgehen der Kriegsparteien. Weit über eine Million Aufrufe verzeichnen einige seiner Videos.

„Dass wir als Österreicher solche Klickzahlen erreichen, hat uns zunächst selbst überrascht. Möglicherweise ist dieser Erfolg jedoch das Ergebnis unseres Bemühens, den Konflikt so neutral und objektiv wie möglich darzustellen.“ Das Bundesheer verstehe die Clips ausdrücklich als Teil seines militärischen Auftrags. „Dabei“, so Reisner, „geht es auch um die geistige Landesverteidigung, also um den Versuch, durch klare, sachliche Informationen die Resilienzfähigkeit der Bevölkerung zu stärken.“ 

Den bisherigen Kriegsverlauf teilt Reisner in drei Phasen. In Phase eins sei es der Ukraine gelungen, den russischen Angriff mithilfe von Waffenlieferungen, massiver Unterstützung mit Aufklärungsdaten und kluger Taktik zu verzögern und teilweise abzuwehren. In Phase zwei hätten die Russen zunächst Kräfte aus dem Norden der Ukraine in den Donbass verlegt. „Hier“, so Reisner, „entstand für die Ukraine der Eindruck, man hätte die Russen in einer Gegenoffensive aus dem Land geworfen. Das stimmt so nicht, hat aber dazu geführt, dass man in der Ukraine glaubt, man könne mit den zur Verfügung stehenden Mitteln offensiv auf dem Gefechtsfeld etwas erreichen.“

Die Pläne der Kriegsparteien

Seitens der Russen sei Phase zwei geprägt gewesen von einer Rückbesinnung auf ihre klassische Militärdoktrin, also massive Artillerievorbereitung, langsames Vorrücken der Infanterie und Brechen jedes Widerstands durch neuerlichen Artillerieeinsatz.

 

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Dieses Vorgehen habe schließlich zu Phase drei geführt, in der Russland seine Operationsmöglichkeiten deutlich erweitert habe. „Am 5. und am 6. Mai“, erläutert Reisner, „kam es zu einem Durchbruch bei Popasna, wodurch der drohende Kessel bei Sjewjerodonezk auf 20 Kilometer eingedrückt wurde.“ Diese Zange sei jedoch nicht sofort geschlossen worden, da die Ukraine immer weiter Menschen und Material in den Kessel geschoben habe, wo sie von den Russen leicht geortet und vernichtet werden konnten.

In den kommenden Monaten, so der Oberst, ginge es für die Ukraine darum, sich zu konsolidieren. Zudem sei schon aus politischen Gründen davon auszugehen, dass im Laufe des Sommers die Ukraine eine Offensive starte, um den Westen bei der Stange zu halten. Ziel sei dann vermutlich der russische Brückenkopf im Süden bei Cherson. Russland werde versuchen, bis Herbst den Oblast Donezk einzunehmen, sich über den Winter neu zu formieren, um dann mit einer Frühjahrsoffensive aus dem Brückenkopf bei Cherson entweder auf Odessa zu stoßen oder in die Tiefe des ukrainischen Raumes.

Die Wirtschaft wird entscheiden

„Bei all dem“, unterstreicht Reisner, „muss man im Blick behalten, dass die Ukraine einer doppelten Abnutzung unterliegt: einer taktisch-operativen auf dem Gefechtsfeld und einer strategischen.“ Letzteres bedeute, dass die Russen permanent ukrainische Infrastruktur, Treibstofflager oder Waffendepots zerstörten und so zermürben. Die russischen Ressourcen hingegen seien offensichtlich gewaltig. Und die aus westlicher Sicht veraltete Technik der Russen erweise sich unter Sanktionsbedingungen als Vorteil.

Letztlich aber, so Reisner, schwebe über allem die Frage, ob der Westen den Wirtschaftskrieg gegen Russland durchhalte. „Wir haben immer Angst vor den Russen aus militärischer Sicht. Ich sehe da im Moment keine Bedrohung. Die ernstere Herausforderung liegt auf wirtschaftlicher Ebene“, betont der Oberst: „Im Herbst wird sich zeigen, ob wir in Europa die Folgen des Wirtschaftskriegs einfach wegstecken oder eben nicht.“

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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