Oberst a.D. Ralph Thiele über den Ukraine-Krieg - „China wird Europa konsumieren“

Machen wir uns etwas vor, wenn wir glauben, Russland durch Sanktionen in die Knie zwingen zu können? Die Hinweise verdichten sich jedenfalls, dass die Strafmaßnahmen des Westens vor allem den europäischen Unterstützern der Ukraine schaden. Ohnehin sieht es aus westlicher Perspektive derzeit nicht gut aus. Der Militärexperte und frühere Bundeswehr-Oberst Ralph Thiele analysiert im Interview, wie sich die geopolitische Weltlage zugunsten Chinas verschiebt.

Ralph Thiele: „Hamburg ist im Grunde eine chinesische Stadt: Der Hafen ist chinesisch, die Waren sind chinesisch, die Technologie ist chinesisch. So übernimmt China langsam auf den Wertschöpfungsketten große Teile dieser Welt“ / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Bei diesem Interview handelt es sich um eine verschriftlichte und gekürzte Version der Cicero-Podcastfolge „Dann sehe ich schwarz für die Ukraine“.

Herr Thiele, fünf Monate ist es mittlerweile her, dass russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind. Zwischenzeitlich sah es so aus, als könnten die Ukrainer sich tatsächlich widersetzen. Aber jetzt zeigt sich wohl doch immer deutlicher, dass Russland über die stärkere Militärmaschinerie verfügt. Hat der Westen die russischen Truppen anfangs unterschätzt?

Eigentlich haben wir sie am Anfang richtig eingeschätzt und waren dann überrascht über ihre vielen Fehler. Daraufhin setzte eine Phase des Übermuts auf unserer Seite ein. Im Grunde waren Journalisten wie Politiker bereit, plötzlich mehr Risiko einzugehen – und sind es bis heute. Dabei läuft es nicht wirklich gut für die Ukraine. Die Russen sind in der Überzahl, sie haben viel mehr Waffensysteme und Munition. Putin hat gerade auf Kriegswirtschaft umgestellt, damit er die Bestände hoch halten kann. Die Ukraine bräuchte jetzt westliche Waffensysteme und Munition am laufenden Band. Das können wir aus unseren Beständen aber nicht stellen.

Besonders Deutschland zeigt sich bei der Lieferung schwerer Waffen zögerlich. Müsste Deutschland mehr leisten?

Der Kanzler äußert sich ja nicht eindeutig. Er geht sehr vorsichtig an den Konflikt heran – und das ist klug. Denn tatsächlich ist dieser Übermut, mit dem wir uns engagieren wollen, auch eine große Gefährdung. Wir reden schließlich von einer Nuklearmacht, die die meisten Atomsprengköpfe der Welt hat. Mit einem Herrscher, der sich traut, militärische Gewalt zur Durchsetzung seiner politischen Ziele einzusetzen. Und er könnte eben auch Nuklearwaffen einsetzen.

Eins der Hauptargumente für eine Unterstützung der Ukraine durch den Westen lautet: Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, dann geht er danach auch auf andere Länder los, zum Beispiel im Baltikum. Halten Sie ein derartiges Szenario für plausibel?

Ich teile diese Einschätzung nicht. Aber immerhin gibt es eine Debatte darüber, welche Ziele Putin verfolgen könnte.

Warum teilen Sie die Einschätzung nicht?

Der Kern der putinschen Argumentation ist, dass er sich Sorgen um die Sicherheit Russlands macht, weil der Westen immer näher kommt. Aus dieser Sorge heraus den Überfall auf das Baltikum oder Polen abzuleiten, ist aus meiner Sicht schwierig.

Putin will angeblich eine Art Pufferzone in der Ukraine errichten. Aber tatsächlich kann man ja nicht sagen, dass die Nato Russland bedroht. Woher rührt seine Befürchtung, wenn sie denn existieren sollte?

Dazu möchte ich sagen: Es ist nicht meine Beurteilung, dass die Nato Russland bedroht. Putin fühlt sich von der Nato bedroht, das ist eine subjektive Perzeption. Nun finde ich die gängigen Argumentationsmuster, die wir seinem Bedrohungsgefühl entgegenhalten, nicht plausibel.

Zum Beispiel?

Etwa die Behauptung: „Demokratische Staaten greifen keinen an!“ Wenn wir uns mal anschauen, wie Gaddafi oder Saddam Hussein vor Gericht gestellt wurden, welche rechtsstaatlichen Verfahren sie erlebt haben, nachdem sie aus dem Amt gejagt wurden, dann kann man schon argumentieren, dass es lebensgefährlich ist, heutzutage Diktator zu sein. Hinzu kommt: Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren ganz schnell amerikanische Spezialkräfte in Georgien. Auch zuletzt wurde sehr viel in der Ukraine investiert. Irgendwann waren sogar mal deutsche Soldaten bei einem Marine-Manöver vor der Küste der Ukraine dabei. Was um Himmels Willen haben die da zu suchen? Es gibt eine große Präsenz dort mit aufwendigen Ausbildungstätigkeiten. Putins Gedanken um diese Nähe des Westens sind also nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Man muss Putins Argumentation nicht teilen, aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen.

In Deutschland veröffentlichen die entgegengesetzten Lager mittlerweile im Wochenrhythmus ihre offenen Briefe. Zuerst riefen diverse Intellektuelle nach einer Verhandlungslösung mit Putin. Die Gegenseite konterte mit dem Argument: „Es ist die Wahrnehmung von Schwäche, die Diktatoren gnadenlos ausnutzen, so lange sich ihnen niemand robust entgegenstellt.“ Was halten Sie von dieser Briefeschreiberei?

Ich kann den Briefen inhaltlich nicht dramatisch viel abgewinnen. Allerdings möchte ich sagen, dass ich sie als Zeichen einer beginnenden Diskussionskultur sehe, die wir dringend brauchen. Wir hatten lange so eine Art Mainstream, nach dem Motto: „Mehr Waffen in die Ukraine“. Jeder, der was dagegen sagt, ist für Putin. Wenn man aber inhaltlich genauer hinsieht, merkt man, dass es im Kern darum ging, „Schrott“ von den Hallen in Deutschland auf die Steppe in der Ukraine zu stellen. Denn die Waffen, die wir liefern wollten, waren Waffen, die es kaum von der Halle an das Kasernen Tor schafften. Zu behaupten, damit der Ukraine helfen zu können, sich selbst zu verteidigen, ist ganz schön absurd.
 

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Die Debatte wird vor allem deswegen weitergehen, weil den Europäern, insbesondere auch uns in Deutschland, massive Versorgungsprobleme bei Öl und Gas bevorstehen.

Die Amerikaner nennen uns gerne sicherheitspolitische Schwarzfahrer. Das ist tatsächlich eine treffende Bezeichnung, denn unser Erfolgsmodell in Deutschland war lange Zeit, wirtschaftlichen Erfolg in der ganzen Welt zu suchen, uns aber aus militärischen Dingen herauszuhalten. Das ging bizarrerweise so weit, dass wir uns Waffensysteme ohne Munition angeschafft haben, damit wir in einer Krise sagen können: Wir würden ja gerne mitmachen, aber wir können es nicht, weil die Munition noch nicht da ist.

Aber was bedeutet das in Hinsicht auf unsere Gasabhängigkeit?

Sie zeigt, dass wir uns in einem hybriden Krieg befinden. Dieser Krieg hat viele Perspektiven, nicht nur militärische. Die militärische ist eigentlich eher die letzte Perspektive. Putin hat versucht, die Ukraine mit anderen Mitteln, mit Informationskrieg und mit Cyberattacken, sturmreif zu machen. Um dann zum Schluss nur noch mit den Militärs einzumarschieren und die Freudebekundungen der Bevölkerung entgegen zu nehmen. Natürlich spielen wir bei dieser Art von Kriegführung Putin in die Hand. Denn wir machen Deutschland schwach. Wir machen Europa wirtschaftlich schwach. Hier ist also mehr Denkarbeit vonnöten, damit man in all den relevanten Feldern – Cyberattacken, deren Opfer Berlin hin und wieder wird, wirtschaftliche Dinge, finanzielle Dinge, Agrarprodukte, nachrichtendienstliche Aktivitäten – bestehen kann. Wir müssen in einem Verbund eine Strategie schaffen, mit der wir bestehen können. Das tun wir ganz offensichtlich derzeit aber nicht.

Jetzt haben wir, also die EU, mit Sanktionen reagiert und es heißt, sie dürften uns selbst nicht mehr Schaden zufügen als Russland. Inzwischen zeigt sich aber, dass die russische Handelsbilanz stabil zu sein scheint und auch der Rubelkurs keineswegs sinkt. Im Gegenteil sind die Sanktionen aus jetziger Sicht ein Rohrkrepierer.

So ist es. Hinzu kommt, dass in der Blase, in der wir argumentieren, der Rest der Welt nicht vorkommt. Es ist die halbe Welt und mehr, die mit klammheimlicher Freude sieht, wie der Westen, der vor dem Schild seiner Werte andere Länder wirtschaftlich ausbeutet, nun selbst in Schwierigkeiten kommt. Darum sehen viele Länder auch gar nicht die Notwendigkeit, den Westen bei seinen Sanktionen zu unterstützen. Denn sie freuen sich, dass der Westen mal am eigenen Leibe merkt, wie das ist, wenn man Not leidet gegenüber Dritten. Das ist gerade in Hinsicht auf die immer mächtiger werdende Weltmacht China, die mit Russland und mit der Ukraine verbündet ist, ein interessanter Aspekt.

Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es also nicht nur um Russland gegen die Ukraine, sondern wir befinden uns praktisch schon in einer Art ökonomischem Weltkrieg.

Es geht um Macht und Einfluss in der Welt und um die Ordnung, mit der diese Macht und dieser Einfluss gesichert werden. Bisher war diese Weltordnung westlich dominiert durch unser Wertesystem, durch das, was wir über die Vereinten Nationen im Grunde vereinbart haben, durch den Dollar als Leitwährung. Die wirtschaftliche Wertschöpfung lag auch im Wesentlichen im Westen. Das hat sich in den letzten Jahren mit zunehmendem Tempo in Richtung Asien verändert. Es geht jetzt darum: Wie laufen die Wertschöpfungsketten? Wer soll im Grunde oben abschöpfen? China hat sich strategisch in vielen Bereichen aufgestellt, um ab 2030 oben an der Spitze der Wertschöpfungskette zu stehen.

Woran macht sich das bemerkbar?

Das können Sie in vielen Bereichen sehen. Zum Beispiel in der Schifffahrt. Hamburg ist im Grunde eine chinesische Stadt, auch wenn die Bewohner anders aussehen. Das Geld ist chinesisch, der Hafen ist chinesisch, die Waren sind chinesisch, die Technologie im Hafen ist chinesisch. So übernimmt China langsam auf den Wertschöpfungsketten große Teile dieser Welt. Die Frage ist, ob Amerika standhalten kann. Wir erleben jetzt einen intensiver werdenden Zweikampf zwischen den USA und China. Europa hat sich noch nicht richtig aufgemacht, herauszufinden, welche Position es selbst haben will oder ob es vielleicht nur die Kuh ist, die von den Großen konsumiert wird.

Aber wenn dieser ökonomische Weltkrieg am Ende zu einer massiven Deglobalisierung führt, dann hat doch keiner was davon. Oder sehe ich das falsch?

Die Begrifflichkeit Weltkrieg teile ich nicht. Es handelt sich um einen harten Wettkampf um die führende Technologie. Das ist übrigens ein Thema, das extrem unterschätzt wird, weil wir zu viele Politologen in Regierungsgeschäften haben und keine Ingenieure. Viele, die uns regieren, verstehen die technologischen Hintergründe dieser Entwicklung nicht. China hat sich klug aufgestellt bei künstlicher Intelligenz, im Quanten-Computing, bei den Mikrochips. Um den Weltmarkt zu dominieren, brauchen sie natürlich auch die globalen Wertschöpfungsketten. Wer oben sitzt, bestimmt unterhalb in der Wertschöpfungskette, wer was verdienen darf und wie die Verhaltensregeln sind.

Was bedeutet das für die Länder, die in der Wertschöpfungskette unterhalb sind?

Es ist interessant zu sehen, was China im eigenen Land macht: Die Regierung reguliert seine Staatsbürger technologisch schon sehr detailliert mit Gesichtserkennung, Emotionswahrnehmung und einem Punktesystem für Wohlverhalten. Wir können damit rechnen, dass alle, die mit China und seinen Märkten Geld verdienen wollen, diszipliniert werden, diese chinesischen Systeme zu akzeptieren und anzunehmen, sonst gibt es kein Geld. Deswegen ist große Denkarbeit notwendig, um sich strategische Überlegungen zu machen. Wenn wir das nicht machen, werden wir konsumiert.

Um noch einmal auf den Ukraine-Konflikt zurückzukommen: Sehen Sie irgendeine Chance, dass der Krieg dort demnächst ein Ende finden könnte?

Schwierig zu beantworten. Die Russen haben Munition bis zum Abwinken. Die Ukrainer müssen jetzt langsam auf westliche Waffensysteme umstellen. Da es die aber in großen Mengen nicht gibt, wird sich der Charakter des Krieges womöglich in Richtung eines Partisanen-Guerilla-Krieges entwickeln, bei dem, wenn wir genug Fehler machen, auch noch umliegende Länder betroffen sein könnten. Keine wirklich gute Perspektive. Es gibt eine Möglichkeit, die einen Unterschied machen könnte, die wir aber nicht wollen.

Und zwar?

China. In der Tat ist es ambivalent, China jetzt im Ukraine-Krieg in Stellung zu bringen. Aber China ist mit der Ukraine und mit Russland befreundet. China hat durch die Blume erklärt, dass es bereit wäre, an einem Frieden mitzuwirken und auch als eine Garantiemacht dort einzutreten. Aber in den öffentlichen Stellungnahmen unserer Verantwortlichen wird klar, dass sie das nicht wollen. Sie wollen, dass China unsere Sanktionen mitmacht. Wenn wir diese Möglichkeit aber ausschlagen, sehe ich schwarz für die Ukraine.

Wahrscheinlich ist das so, weil man China diesen Ermittlungserfolg nicht geben möchte, aus den Gründen, die Sie bereits benannt haben. China strebt nach mehr, und das wäre ein strategischer Sieg für die Chinesen.

So ist das. Aber wir beobachten gerade den Beginn des Niedergangs Europas. Das ist ja auch einen Versuch wert, das zu bremsen. Indem wir uns jetzt kontinuierlich selbst schwächen, unsere wirtschaftliche Basis selbst schwächen und diesen Schwelbrand weiter ziehen lassen, tun wir uns überhaupt keinen Gefallen. Es gibt nicht die gute und die schlechte Lösung. Die Frage ist, was die weniger schlechte Lösung ist. In meinen Augen ist eine chinesische Vermittlung die weniger schlechte Lösung. Und ich finde es schon bemerkenswert, dass wir das ignorieren.

Das Gespräch führte Alexander Marguier. Hören Sie hier das ungekürzte Interview: Oberst a.D. Ralph Thiele im Cicero-Podcast mit Alexander Marguier: „Dann sehe ich schwarz für die Ukraine“

 

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