Moskauer Soziologe Grigori Judin - „Sie brauchen frisches Fleisch für die Front“

Der Moskauer Soziologe Grigori Judin über das schizophrene Verhältnis der Russen zum Krieg in der Ukraine, über die Sanktionen des Westens – und über Putins Herrschaftssystem.

Der Soziologe Grigori Judin bezweifelt, dass das russische Volk sich gegen Wladimir Putin auflehnt / Maurice Weiss
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Grigori Judin wurde 1983 in Moskau geboren. Judin gehört heute zu den führenden Soziologen des Landes und lehrt an den Top-Universitäten Higher School of Economics und Moscow School of Social and Economic Sciences. Zwei Tage vor dem 24. Februar prognostizierte er in einem Artikel den Kriegsbeginn, am Tag selbst wurde er auf einer Demonstration von der Polizei niedergeschlagen und festgenommen. 

Herr Judin, gerade habe ich mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil, der oft in Russland war, gesprochen. Er sagt, er habe in Russland immer wieder friedliebende Menschen getroffen, und nun kann er sich nicht erklären, warum diese Menschen in ihrer Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine unterstützen. Um es mit einer Gedichtzeile von Jewgeni Jewtuschenko zu sagen: Wollen die Russen Krieg?

Grigori Judin: Die Menschen wollen, dass man sie in Ruhe lässt. Eigentlich ist die Frage schon sinnlos, weil sie voraussetzt, die Menschen würden sich mit den politischen Entscheidungen identifizieren, die im Land getroffen werden. Aber das ist in Russland nicht der Fall. Der Großteil der Russen lebt sein privates Leben, versucht, nichts mit der Politik zu tun zu haben. Jeder, der sich im Land für die Politik interessiert, wird misstrauisch beäugt. Im Großen und Ganzen hat man nichts dagegen, dass die politische Führung auch die politischen Entscheidungen trifft, die weitere Rolle des Volkes ist dann jene der Akklamation nach dem Muster: Der politische Führer hat eine Entscheidung getroffen, er wird es schon besser wissen, wir unterstützen ihn also. Er hat entschieden, die Armee in die Ukraine einmarschieren zu lassen – in Ordnung. Aber wenn er entschieden hätte, Luhansk und Donezk der Ukraine zurückzugeben, wäre das auch in Ordnung gewesen.

Gab es denn in den vergangenen drei Jahrzehnten mal ein anderes Verhältnis des russischen Bürgers zu seiner politischen Führung?

Ja. Die Entpolitisierung des Landes hat ihre Wurzeln in der Enttäuschung der 1990er Jahre. Damals gab es für einige Jahre eine große Begeisterung, alle interessierten sich, es existierte echter politischer Pluralismus. Gegen Ende der 1990er Jahre bildeten sich Oligarchengruppen, die gegeneinander kämpften. Das rief bei den Russen Entfremdung hervor. Putin hat diese Entfremdung strategisch zur Entpolitisierung genutzt: Beschäftigt euch mit euren eigenen Dingen, eurem Wohlstand, aber haltet euch hier raus. Politik ist sowieso eine Clownerie und hat keine Bedeutung. Bis etwa 2010 war die Entpolitisierung praktisch vollzogen. In der letzten Zeit gibt es allerdings eine entgegengesetzte Tendenz, die für ein autoritäres Regime eine Gefahr darstellt: Es sind Gruppen junger Menschen entstanden, die politisch teilhaben wollen. Das ist einer der Gründe für diesen Krieg: Putin hat gemerkt, dass er die Initiative verliert.

Gibt es denn überhaupt Meinungsumfragen seit dem 24. Februar, denen man Vertrauen schenken kann?

Meinungsumfragen sind in Russland Teil der Akklamation, sie spielen die Rolle von Plebisziten, in denen die Menschen verstehen, was von ihnen gefordert ist: Ja, wir unterstützen die Entscheidung der politischen Führung, egal, welche es ist. Das ist im Übrigen eine wichtige Quelle der Legitimität in Russland. Der politische Führer sagt der Elite und seiner Bürokratie auf diese Weise: Schaut her, das Volk unterstützt mich. Und er teilt das auch dem Volk mit – das atomisiert ist, das untereinander nicht kommuniziert. Und je schärfer die Situation ist, so wie in den vergangenen Monaten, desto mehr versteht das Volk die Anforderung zur Akklamation. Natürlich ist man in Europa schockiert von den Umfragen, die eine überwältigende Unterstützung des Krieges vorspiegeln. Aber man kann diese Umfragen nicht ernst nehmen. Interessante Experimente gibt es aber doch. Kollegen von mir haben zum Beispiel gefragt: Welche Postkarte würden Sie an die Ukrainer schicken? Die am meisten verbreitete Antwort war: Haltet durch! Im Sinne von: Wir kommen bald, um euch zu befreien. Wir sehen da diese seltsame Kombination: Auf der einen Seite verachtet man die Ukrainer, auf der anderen Seite hegt man durchaus Gefühle für sie: Wir lieben euch ja eigentlich, bald befreien wir euch. Das ist eine Folge der Entpolitisierung. Die Menschen versuchen, sich einen Reim zu machen. Sie sind ja eigentlich alle für das Gute, sie wollen, dass es allen gut geht, den Russen wie den Ukrainern.

Nach meinen Beobachtungen unterstützt die „sowjetische“ Generation bis auf eine Minderheit den Krieg, bei der Generation, die nach 1980 geboren ist, ist es genau andersherum. Kann man von einem Generationenkonflikt sprechen angesichts des Krieges? 

So ist es. Und wir erkennen diesen Konflikt schon seit dem Jahr 2017 bei mehr und mehr Fragen. Grob gesagt ist es ein Bruch zwischen den Alten und allen anderen. Aufgrund der Demografie ist das in Russland eine relativ große Gruppe – und eine Gruppe, auf die der Staat ein besonderes Augenmerk hat. Denn die älteren Menschen gehen wählen, die jungen nicht. Und sie sind es auch, die in erster Linie an den Meinungsumfragen teilnehmen. Interessant ist die Altersgruppe der „Mittelalten“, also zwischen 40 und 55: Eigentlich sind sie näher an den jungen Menschen, aber wenn es hart auf hart kommt, so wie jetzt, schließen sie sich aus Angst in ihrer Meinung eher den älteren Menschen an. Dann sieht der Konflikt anders aus. Die Jungen gegen alle anderen. In der Rentnergeneration hat Putin quasi eine Carte Blanche. Wenn er morgen bekannt gibt, dass er eine Atombombe abwerfen wird, werden sie rufen: Hurra, so ist es richtig! Das ist natürlich eine sehr gefährliche Situation. Die Jüngeren sind stärker in die Welt integriert, sie haben mehr Informationsquellen. Sie sind kritischer. Da gibt es eine Spaltung, und die Gruppe derer, die gegen diesen Krieg ist, ist größer. Das gilt im Besonderen für die großen Städte.

Sie leben bis heute in Moskau. Wie ist die Atmosphäre in den russischen Großstädten?

Seit einiger Zeit ist die Atmosphäre etwas lockerer geworden, aber natürlich ist sie immer noch sehr angespannt. Die Situation ist folgende: Alle wissen, dass im Zimmer eine Leiche liegt, aber man darf nicht über sie sprechen. Gar nicht in erster Linie, weil es verboten, sondern weil es sinnlos ist. Alle versuchen, so zu tun, als wäre sie nicht da. Alle verstehen, dass der Krieg ernste Folgen haben wird. Es gab zu Beginn auch eine Phase der quasi körperlichen Angst, als die Menschen anfingen, einander zu denunzieren. Das war bis zuletzt wirklich etwas, was man nur aus der Sowjetunion kannte. Die Menschen sind sehr angespannt und suchen nach Möglichkeiten, ihre Emotionen rauszulassen. Ich habe gleich zu Beginn öffentlich meine Position zum Krieg klargemacht – und seitdem kommen jeden Tag, wirklich jeden Tag, Menschen auf der Straße auf mich zu, um mir zu danken. Gleichzeitig erzählen mir Psychologen, dass die häusliche Gewalt zunimmt: Die Menschen versuchen, die Anspannung auf diese Weise zu sublimieren.

Im Sommer 2014, kurz nach der Krimannexion, war ich in Moskau, und damals wurden die Menschen über Monate von der Fernsehpropaganda auf einem emotional sehr hohen Niveau gehalten. Ist das heute auch so – oder lässt man die Menschen in Ruhe? 

Die Rhetorik in den Talkshows ist höchst aggressiv. Das geht so weit, dass sie dort dazu aufrufen, eine Atombombe auf Berlin abzuwerfen. In Deutschland denkt man, dass das Zufall ist, aber so ist es nicht. Das wird mit Absicht getan – und es wirkt sich ernsthaft auf die Weltanschauung der Menschen aus. Auf diese Weise werden wirklich verrückte Dinge normalisiert. Es ist auch sehr wichtig, darauf zu schauen, wie die russische Propaganda etwas vermittelt – und das ist momentan eine überaus aggressive Art. Das überträgt sich auf die Menschen: Man schreit einander an, man bedroht einander, man unterbindet den Versuch eines anderen, eine entgegengesetzte Meinung zu äußern. Das ist heute sehr verbreitet. Zur gleichen Zeit wird in den Nachrichten selbst das Thema Ukraine zurückgefahren. Sie haben verstanden: Wenn die Aufgabe darin besteht, dass das Volk nicht zu viele Fragen stellen soll, dann sollten wir über das Thema auch nicht zu viel sprechen.

Die deutschen Politiker gestehen zwar ein, dass die Sanktionen nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine nicht das gewünschte Resultat gebracht haben – aber natürlich gibt es die Erwartung, dass die Auswirkungen mittelfristig dazu führen werden, dass das Volk sich gegen Putin auflehnen wird, und er zumindest den Krieg beenden muss, um den innenpolitischen Frieden zu wahren.

Das ist Unsinn. Es gibt in Russland genügend Menschen, die sich gegen Putin auflehnen würden. Aber es gibt keine Möglichkeit. Denken Sie, die Leute werden auf die Straße gehen? Nein, das wird nicht passieren, denn die Gesellschaft ist atomisiert. Und wenn es wirtschaftliche Probleme geben wird, werden die Menschen sich sagen: Ich hungere nicht einfach so, ich hungere für die Heimat.

Aber doch nicht die Jüngeren? 

Die werden entweder das Land verlassen – oder auch daran glauben. Verstehen Sie: Die Menschen glauben an die Wahrheit, die für sie angenehm ist. Daran zu glauben, dass du verpflichtet bist, dich gegen Putin aufzulehnen – und gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit dazu, das ist mental sehr schwer. Dennoch bin ich nicht der Meinung, dass die Sanktionen unnötig sind – aber man sollte sich eben nicht der Illusion hingeben, dass sie sozusagen „über den Magen“ wirken werden. Diese „pädagogische“ Idee der Sanktionen – „Wir werden euch auf diese Weise erziehen“ – war von Anfang an eine dumme Idee. Stattdessen sollten die Sanktionen zweierlei Schutzfunktion erfüllen: Sie sollten zum einen diese riesige Kriegsmaschine stoppen. Zum anderen haben sie eine moralische Funktion. Die westlichen Länder sagen damit: Wir wollen das nicht mehr unterstützen. Das ist die wichtigere Funktion. Ein gewisser Teil der Gesellschaft wird nach einer Weile verstehen, warum mit uns Russen in der Welt niemand mehr etwas zu tun haben will. Aber das dauert. Und sehr viel hängt davon ab, wie der Krieg weitergeht.

Sind die Sanktionen vielleicht einfach zu lasch?

Die Wirkung, von der wir zu Anfang sprachen, könnten sie nur haben, wenn sie massiv und plötzlich stattfinden würden, wenn sie zu einem echten Kollaps in Russland führen würden – und das Land zu funktionieren aufhören würde. Wenn die Russen morgens aufwachen, ihre Hand ausstrecken, und der Tisch ist nicht mehr da, der noch am Abend dort stand, dann werden die Menschen beginnen, Fragen zu stellen.

Im Westen fragt man sich: Wissen die Menschen in Russland nicht, was in Butscha passiert ist, dass Einkaufszentren mit Raketen beschossen werden – oder wollen sie es nicht wissen?

Es gibt eine gewisse Zahl von Menschen, etwa in fern abgelegenen Dörfern, die nicht versteht, was passiert. Aber der Großteil versteht es. Doch was tun mit diesem Wissen? Manche sagen es in Gesprächen mit Soziologen geradeweg: Okay, nehmen wir an, ich glaube Ihnen das jetzt alles. Und was dann? Soll ich mich aufhängen? Die Leute wählen die Wahrheit, die ihnen erlaubt weiterzuleben. Das ist natürlich eine amoralische Position. Aber das Problem liegt nicht darin, dass die Propaganda sie täuscht. Glauben die Russen der Propaganda? Die Russen glauben an überhaupt nichts. Das Problem besteht darin, dass die Menschen keine Alternative sehen. Das Gefühl ist: Putin wird immer da sein. Und wer sich dagegen wehrt, der ist ein Idiot.

In diesem Krieg sind auf russischer Seite 15 000, 20 000 oder noch mehr Soldaten gefallen. Verstehen die Menschen diese Ausmaße? Das sind bedeutend höhere Verluste als im Afghanistankrieg oder in den beiden Tschetschenienkriegen.

Was heißt denn „russische Seite“? Das würde ja bedeuten, dass diese russische Seite konsolidiert ist, dass sie spürt, dass sie hohe Verluste hat. In Wirklichkeit ist es so: Wenn die „Denazifizierung“ in Taganrog [russische Stadt unweit der ukrainischen Grenze] begonnen hätte, dann wäre es den Menschen in Sibirien oder Kaliningrad egal gewesen. Vielleicht gab es ja in Taganrog wirklich Nazis?

Es gilt also in Russland das Motto „Jeder stirbt für sich allein“?

So ist es. Es hängt auch damit zusammen, dass sie natürlich ganz gezielt Leute in diese Armee holen. Sie nehmen Menschen aus den rechtlosen Schichten der Bevölkerung, aus Tschetschenien und aus anderen „nationalen“ Republiken. Und jetzt nehmen wir mal an, dass in Burjatien eine große Zahl von Gefallenen ankommt. Was sollen sie da in Burjatien machen? Sie werden natürlich nichts unternehmen. Aus Moskau oder Sankt Petersburg dagegen ist niemand gefallen, kein einziger Soldat. Interessant wird es, wenn Putin in die Zonen eindringen muss, in die er nicht will. 

Also in die Komfortzone der Moskauer und Petersburger, weil er mehr Soldaten braucht? 

Moskauer Hipster in die Ukraine zu schicken, um Kramatorsk zu erobern – das ist ein in vieler Hinsicht gefährliches Unterfangen. Erstens werden sie versuchen, dort nicht hinzukommen. Zum anderen: Wenn der Staat versucht, sie zu zwingen, dann ist nicht klar, gegen wen sie ihre Waffen richten werden. Ungeachtet dessen: Putin hat noch einige Ressourcen, um die Situation weiter anzuheizen. Zum Beispiel, wenn er beginnt, diesen Krieg als „Großen Vaterländischen Krieg“ zu verkaufen – und solche Tendenzen waren schon zu beobachten.

Ist der Krieg denn im öffentlichen Raum in Moskau überhaupt präsent, etwa durch Plakate?

Am Anfang gab es an einigen Hochhäusern diese „Z“-Zeichen. Aber ansonsten versucht der Bürgermeister Sobjanin, das Thema aus der Stadt fernzuhalten. Gerade am 9. Mai war das zu merken. Dort wurden praktisch keine Parallelen gezogen zwischen dem damaligen Krieg und dem heutigen, und die Parade zum „Tag des Sieges“ war auch kleiner als in den vergangenen Jahren. Sobjanin braucht diese Militarisierung nicht. In Sankt Petersburg ist das ein bisschen anders.

In der Ukraine ist der Krieg natürlich überall präsent, überall sind Soldaten unterwegs. Gibt es in Russland eine Militarisierung der Gesellschaft?

Eine Militarisierung ist noch nicht zu erkennen, dafür aber eine Faschisierung. Das Regime hat seit dem Februar eine faschistische Ausrichtung – und es fordert dasselbe von der Gesellschaft.

Putin sagte zu Beginn der Invasion, das russische Volk werde die Verräter „wie eine zufällig in den Mund geflogene Fliege einfach ausspucken“ …

Die Menschen hatten große Angst – und fingen an, sich ebenfalls faschistisch zu verhalten. Besonders am Anfang gab es einen Moment, als an den Türen von Gegnern des Krieges „Z“-Buchstaben gemalt wurden. Dann hat das Regime das Ganze etwas heruntergedimmt. Aber es ist klar geworden, dass Putin den Hebel jederzeit noch einmal in diese Richtung umlegen kann. Die Leute sagen heute gerne: Das Schlimmste haben wir hinter uns. Aber ich denke, dass das ein Fehler ist. Das Schlimmste kommt noch. Es gibt ein Potenzial für bedeutend Schlimmeres.

Ich erinnere mich an eine Telegram-Gruppe, in der Telefonnummern, Bilder und Adressen von „Volksfeinden“ veröffentlicht wurden. Aber dann schliefen diese Aktivitäten wieder ein.

Es gibt heute eine Lücke zwischen einem faschistischen Staat und einer Gesellschaft, die am Beginn der Faschisierung stehen geblieben ist. Aber aus der Geschichte des Faschismus wissen wir ja, dass dieser Prozess nicht linear ist.

Aber Sie persönlich reisen immer noch hin und zurück?

Für mich persönlich ist die Situation natürlich eine riesige Katastrophe. Ich erwarte nichts Positives mehr in der Zukunft. Möglich, dass ich ins Gefängnis komme, möglich, dass ich ermordet werde. Aber wer soll sich denn darum kümmern, was gerade in Russland passiert? Es gibt offenbar diese Illusion: Wenn man alle „guten“ Menschen aus Russland herausholt, dann wird alles gut. Das ist absurd. Die Menschen verstehen offenbar nicht, wie nah die Gefahr ist, sie verstehen nicht die gigantische, zerstörerische Kraft, das Ausmaß der Boshaftigkeit, des Hasses, des Nihilismus der führenden Eliten Russlands. Haben Sie diese Aufkleber „nach Berlin“ gesehen? Das war kein Witz.

Haben Sie persönlich denn Probleme aufgrund Ihrer Positionierung gegenüber dem Krieg?

An der Universität gibt es große Probleme, ich persönlich hatte allerdings noch keine. Es läuft aber insgesamt eine heftige Attacke auf das Bildungssystem: Sie wollen das System grundlegend ändern, es zu einem Propagandainstrument machen. Vom 1. September an wird man das sehen können – vom Kindergarten bis zur Universität. Die Bildungspläne werden geändert, militärische Fächer eingeführt, „Mut-Schulstunden“ eingeführt.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Das ist eine Mischung aus der Geschichte Russlands und der Ukraine nach der Version von Wladimir Putin – und etwas über den Ruhm russischer Waffen. Das Ziel des Ganzen ist eine Militarisierung der Bildung. Zum einen tun sie das, weil sie spüren, dass sie die jungen Menschen verlieren. Zum anderen: Sie brauchen frisches Fleisch für die Front. Wenn es ihnen tatsächlich gelingt, in die Köpfe der Jugend einzudringen, dann wird es eine riesige Katastrophe sein. Und das kann sehr schnell passieren.

Das erinnert an die Zeit nach 1933 in Deutschland.

Diesen Vergleich nutze ich sehr oft. Die Leute fragen mich immer: Warum protestiert in Russland niemand? Da antworte ich: Haben die Deutschen denn 1939 demonstriert, als die Wehrmacht Polen überfallen hat? Die Parallelen sind leider offensichtlich. Aber heute ist es noch gefährlicher, weil Russland über Nuklearwaffen verfügt.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige