Litauische Friedensinitiative - Bei Anruf Krieg

„Call Russia“ heißt eine in Litauen gegründete Initiative, die Telefonate aus dem Ausland mit normalen russischen Bürgern vermittelt. Die Angerufenen sollen mehr über den Ukrainekrieg und das damit verbundene Leid erfahren – aber auch ihre eigene Sicht darlegen können. Der Gründer von „Call Russia“, Paulius Senuta, erzählt im Interview, wie das funktioniert und ob die Anrufe Erfolg haben.

Ein Anruf bei Wladimir Putin persönlich wäre wahrscheinlich sinnlos / dpa
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Autoreninfo

Jens Mattern (Foto Ralph Weber) berichtet als freier Journalist für deutsche Medien aus Polen.

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Der Litauer Paulius Senuta, 46, ist Geschäftsführer der Werbeagentur „Not Perfect Companies”, die in den drei baltischen Ländern aktiv ist. Nach der russischen Invasion hat er mit weiteren Personen die Initiative „Call Russia“ gegründet.

Herr Senuta, Sie haben nach der russischen Invasion der Ukraine die Initiative „Call Russia“ gegründet mit dem Ziel, den Krieg mittels Telefonanrufen zu beenden. Wie genau soll das funktionieren?

Es ist eine global wirkende Organisation, die mit der russischen Bevölkerung in Kontakt kommen will. Wir haben 40 Millionen Telefonnummern in der Russischen Föderation auf der Webseite „Call Russia“ gespeichert. Russischsprachige, welche außerhalb Russland wohnen, können eine zufällig generierte Nummer bekommen, anrufen und mit ihrem Gegenüber über den Krieg sprechen. Darüber, dass das, was in der Ukraine passiert, eine menschliche Tragödie ist. 

Wie viele Personen wurden bisher erreicht?

Wir haben die Initiative am 8. März gestartet, und es wurden bislang mehr als 180.000 Personen erreicht. Von den Gesprächen verläuft die Hälfte erfolgreich, das heißt, das Telefonat wird nicht gleich abgebrochen, sondern es wird eine längere Unterhaltung geführt. Bislang haben 51.000 Personen angerufen, und über die meisten wissen wir nichts – wir besitzen nur die Information, aus welchem Land sie anrufen. Davon haben 600 bei uns um eine Schulung gebeten. Mehrere Psychologen wurden von uns engagiert, um einen Leitfaden für die Anrufer zu entwerfen.

Paulius Senuta / Foto privat

Wie sieht der aus?

Der Anrufer stellt sich vor und sagt, dass er auf die Initiative von „Call Russia“ hin anruft. Man darf nicht verärgert sein oder Recht haben wollen. Im Krieg wird mit Propaganda gearbeitet, und zwar auf beiden Seiten. Diese Propaganda dehumanisiert aber das Gegenüber. Wir wollen dies mit den Gesprächen rückgängig machen, wir wollen ein Gespräch zwischen zwei Menschen ermöglichen. Der Anrufer muss zuhören können, auch wenn er innerlich das Gesagte des Angerufenen als Propaganda oder Unsinn abtut. Viele Russen wissen nichts über das Leid, das die Menschen in der Ukraine erleben.

Sie rufen selbst viel in Russland an und haben als Litauer einen litauischen Akzent auf Russisch. Wirkt sich das aus?

Litauen wird nun als Teil des Westens angesehen, war aber bekanntlich einmal Teil der Sowjetunion – also ist mein Land irgendwie dazwischen. Wichtig ist die zwischenmenschliche Beziehung, die ich während des Gesprächs versuche aufzubauen. 

Was haben Sie für Veränderungen festgestellt?

Es sind sich immer mehr Russen bewusst, dass der Krieg aufhören muss. Sie erfahren, dass ihre Verwandten und Freunde sterben. Dies lässt sich auch durch Erhebungen des Levada-Zentrums feststellen: Im Februar waren noch 48 Prozent der Befragten fest vom Sinn des Kriegs überzeugt, im November waren es dann nur noch 42 Prozent. Und wir haben bei den Angerufenen tatsächlich eine größere Offenheit festgestellt, über den Krieg zu sprechen, als dies am Anfang der Fall war. Viele der Angerufenen, die gegen den Krieg sind, haben eine Bereitschaft, zu sprechen. Dabei sind sie allerdings sehr vorsichtig und zurückhaltend, um nicht zu viel zu sagen. Es herrscht eine große Angst in Russland, seine Meinung frei zu äußern. Allerdings rechtfertigen viele Russen auch weiterhin den Krieg, sie glauben an den ewigen Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Russland ist in seinem Selbstbild mit China vor 100 Jahren zu vergleichen, das sich von fremden Mächten gedemütigt fühlte und Vergeltung verlangte. Das sind natürlich Pauschalisierungen.

Wen erreichen Sie noch?

Wir sind in Kontakt mit mehreren internationalen Organisationen, auch in Brüssel mit der Europäischen Kommission. Denn lernen, wie man mit Russen spricht, kann man eben nur von denen, die tatsächlich mit Russen sprechen. Viele Menschen im Westen wissen nichts über die Russen. Es gibt immer noch viel Naivität. Ich persönlich bezweifle allerdings, dass es Sinn macht, mit dem Kreml zu verhandeln. Man kann diesen Menschen nicht vertrauen. Wir setzen auf das Gespräch mit den russischen Staatsbürgern. Nur die Russen selbst können den Krieg stoppen. 

Haben Sie auch feindliche Reaktionen erlebt?

Wir erhalten viele wütenden Kommentare, die uns Manipulation vorwerfen, jedoch keine wirklich ernstzunehmende Todesdrohungen. 

Am 6. Januar ist das orthodoxe Weihnachtsfest, es gilt auch in Russland als Fest des Friedens. Gibt es da Hoffnungen?

Wir werden dann jedenfalls nicht so oft anrufen können, weil viele meiner Mitarbeiter Urlaub nehmen. Allerdings verkündet die orthodoxe Kirche in Russland eine Pro-Kriegshaltung. Das wird sich leider auch an Weihnachten auswirken. Diese Kirche vermittelt, dass Russen, die im Krieg gegen die Ukraine sterben, zu einer Art Heiligen würden. Und es gibt viele, die das glauben. Es kann also sein, dass die Stimmung für den Krieg kurzfristig sogar steigt.

Das Gespräch führte Jens Mattern.

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