Letzter Gipfel der deutschen Ratspräsidentschaft - Die EU hat doch noch die Kurve gekriegt

Beim letzten Gipfeltreffen unter deutschem Vorsitz hat Kanzlerin Merkel einen Eklat abgewendet. Polen und Ungarn haben ihren Widerstand gegen das EU-Budget aufgegeben. Doch die Kompromisse beim Rechtsstaat sorgen für neuen Streit.

Kanzlerin Angela Merkel bei den Verhandlungen in Brüssel / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Angela Merkel ist mit sich und ihrem Europa zufrieden. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen“, freute sich die Kanzlerin nach einem stundenlangen Verhandlungsmarathon beim EU-Gipfel in Brüssel. Für die Ergebnisse habe es „sich gelohnt, eine Nacht nicht zu schlafen“, sagte Merkel, der die ruhelosen Stunden anzusehen waren. 

Die Staats- und Regierungschefs hatten am Freitag bis in die frühen Morgenstunden miteinander gerungen. Mehrmals sah es so aus, als könne der Gipfel platzen und der deutsche Ratsvorsitz scheitern. Ein Nothaushalt für 2021 lag schon in der Schublade, der Coronafonds stand auf der Kippe, beim Klimaschutz drohte die EU das Gesicht zu verlieren. 

Doch dann, am Donnerstagnachmittag: „Deal“. So verkündete Ratspräsident Charles Michel per Twitter den ersten Durchbruch beim EU-Budget. Nun könnten die 27 EU-Staaten beginnen, das Sieben-Jahres-Budget umzusetzen und in der Corona-Krise ihre Volkswirtschaften wieder aufzubauen, so der Belgier. Ein Sprecher ergänzte, auch der umstrittene Mechanismus zur Kürzung von EU-Geldern bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit sei angenommen worden.

EuGh prüft den Rechtsstaats-Mechanismus

Damit war die größte Hürde genommen. Um den neuartigen Rechtsstaats-Check zu verhindern, hatten Viktor Orban und Mateusz Morawiecki ein Veto gegen das 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket eingelegt. Damit brachten sie die in der Coronakrise dringend benötigten EU-Hilfen in Gefahr und zwangen Merkel, einen Kompromiss auszuarbeiten. 

Die nun erfolgte Einigung sieht vor, dass der Rechtsstaats-Mechanismus durch den Europäischen Gerichtshof geprüft wird - paradoxerweise daraufhin, ob er mit EU-Recht vereinbar ist. Zudem soll die EU-Kommission nicht sofort gegen etwaige Rechtsstaats-Sünder vorgehen. Vielmehr soll Brüssel zunächst die Details des neuen Instruments ausarbeiten. 

Allein dies dürfte einige Monate dauern. Die Prüfung durch das höchste EU-Gericht in Luxemburg könnte sogar ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen. Der neue Rechtsstaats-Mechanismus wird daher, so viel scheint sicher, nicht vor 2022 umgesetzt - und wohl auch erst nach der nächsten, für Orban wichtigen Parlamentswahl in Ungarn.

Zugeständnis an Orban

Kritiker sehen darin ein Zugeständnis an den ungarischen Rechtspopulisten, der seit Jahren versucht, EU-Maßnahmen gegen seine Fidesz-Regierung zu verhindern oder auf die lange Bank zu schieben. Während Brüssel und Berlin zögern, hat Orban seinen Zugriff auf die Medien und die Universitäten im Lande immer mehr ausgebaut. 

Doch diese bereits erfolgten Eingriffe in den Rechtsstaat werden durch den Gipfelbeschluss nicht geahndet - und auch nicht revidiert. Auch von dem Versprechen, die Rechtsstaats-Sünder dort zu packen, wo es am meisten weh tut - am Portemonnaie - ist nicht viel übrig geblieben. 

„Doppelter Sieg“ für Polen und Ungarn

Die Subventionen werden nicht gekürzt, im Gegenteil: Orban kann künftig sogar mit noch mehr EU-Hilfen aus Brüssel hoffen - denn der Corona-Hilfsfonds sieht auch für Ungarn neue Milliardenzahlungen vor. Zudem hat er seine Allianz mit Morawiecki gefestigt. Beim EU-Gipfel traten beide gemeinsam vor die Presse und feierten ihren „doppelten Sieg“ - beim Geld und beim Rechtsstaat.

Als Siegerin sieht sich aber auch Merkel. „Das war ein Riesenstück Arbeit“, erklärte sie nach dem Abschluss des Gipfels, der auch die sechsmonatige deutsche Ratspräsidentschaft krönt. „Wir hatten sozusagen zum Ende uns noch eine Menge aufgehoben für den letzten Rat“, so die Kanzlerin. „Ich bin sehr erleichtert.“

Mogelpackung beim Klimaschutz

Zuletzt hatte es noch Streit um den Klimaschutz gegeben. Polen sträubte sich gegen ein schärferes Klimaziel und forderte mehr finanzielle Hilfen beim „European Green Deal“. In der Gipfelerklärung heißt es nun, man müsse die "unterschiedlichen Ausgangspositionen und nationalen Umstände" berücksichtigen. Am Ziel, die Treibhausgase um mindestens 55 Prozent abzusenken, wurde nicht gerüttelt.

Doch auch dieser Erfolg könnte sich - ähnlich wie der Rechtsstaats-Mechanismus - als Mogelpackung erweisen. Die EU will nämlich erstmals die Speicherung von CO2 in Wäldern und anderen „Senken“ einrechnen. Die Anstrengung für Einsparungen beim CO2 ist deshalb kleiner - und der Sprung von bisher 40 auf 55 Prozent weniger ehrgeizig, als es klingt. Nach bisheriger Rechenweise betrage das neue Ziel nur 50,5 Prozent, kritisiert Greenpeace.

Zudem ist noch ziemlich unklar, wie die EU die neue Zielvorgabe erreichen will. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zwar schon diverse Strategien vorgelegt, aber noch keine EU-Gesetze. Die Kommission will erst im Juni 2021 ein Gesetzespaket präsentieren. Zur Debatte stehen etwa strengere Energieanforderungen an Gebäude und schärfere CO2-Grenzwerte für Autos. 

Das politische Ringen geht weiter

Die deutsche Autoindustrie steht schon jetzt auf den Barrikaden - sie fürchtet ein Ende des Verbrennermotors durch die Hintertür. Merkel wird deshalb noch öfter nach Brüssel reisen und mit von der Leyen verhandeln müssen. Auch beim EU-Budget ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die Details müssen noch vom Europaparlament und den 27 nationalen Parlamenten gebilligt werden. Die EU-Abgeordneten haben schon Änderungen angekündigt.

Sie wollen eine eigene Erklärung zum Rechtsstaats-Mechanismus verabschieden. Damit stellen sie sich gegen die Auslegung, die Merkel beim EU-Gipfel mit Mühe und Not durchgesetzt hat. Auch mit dem Klima-Deal sind die Abgeordneten nicht zufrieden. Das politische Ringen geht weiter - doch immerhin wurde ein Eklat abgewendet.

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