Krisenreport Europa - Frankreich: Wenig Debatte, viele Sorgen

Der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens schlagen auf Europa zurück. Inflation, Energieknappheit und Währungsschwäche sind nur einige Folgen, mit denen die EU-Staaten zu kämpfen haben. Doch wie ist die Stimmung in der Bevölkerung, und mit welchen Schwierigkeiten haben die einzelnen Länder konkret zu kämpfen? „Cicero” hat seine europäischen Korrespondenten gefragt, was sie derzeit in Europas Hauptstädten beobachten. Eine Sommerserie über einen kriselnden Kontinent. Teil 2: Frankreich.

Paris / dpa, Hermann
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Die Parade zum Nationalfeiertag am 14. Juli ist dieses Jahr besonders groß und martialisch ausgefallen. Mit voller Absicht. Frankreich befinde sich in einem hybriden Krieg, erklärte Präsident Macron in seiner Ansprache. „Wir wollen den Krieg in der Ukraine stoppen, ohne selbst Krieg zu führen.“ Aber, so der Präsident weiter: „Wir haben eine Armee, die jederzeit bereit ist.“

Damit ist nicht nur für Emmanuel Macron alles gesagt, das sieht auch die übergroße Mehrheit seine Landsleute so. Mehr Diskussion ist da nicht, weder in den Medien noch an den Tischen in Bars und Cafés. Eine Debatte wie in Deutschland darüber, ob die Sanktionen gegen Russland ausreichend sind, ob sie hinreichend wirken oder ob sie womöglich der eigenen Wirtschaft mehr Schaden zufügen als der russischen, Fehlanzeige.

Frankreich unterstützt die Ukraine mit Waffen, liefert Cesar-Raketen und Geld, unilateral und im Verbund von EU und Nato. Frankreich schickt außerdem Soldaten nach Rumänien in die Nähe der Kampfzone. Denn Frankreich ist einerseits überzeugt, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf, wie andererseits auch davon, dass es am Ende Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland wird geben müssen. Davon abgesehen haben die Menschen andere Probleme. Das liegt auch daran, dass sie ähnlich selbstreferentiell denken wie in den USA.

Das bedeutet: Spätestens am 14. Juli beginnt der Sommer, und das Land verabschiedet sich kollektiv in die Ferien. Und das ist in diesem Jahr 2022 ausgesprochen kompliziert. Die Megabrände an der Mündung der Gironde, einem sehr großen, sehr gefragten Urlaubsgebiet zwischen Bordeaux und Arcachon, haben in den letzten beiden Wochen rund 21.000 Hektar Wald vernichtet. 36.000 Menschen mussten allein hier zeitweilig evakuiert werden. Campingplätze und Feriensiedlungen sind den Flammen zum Opfer gefallen.

Die Energiekrise scheint im Denken mancher Franzosen keine Rolle zu spielen

Derzeit sind die Brände unter Kontrolle, aber Wind und Hitze fachen sie immer wieder neu an, sorgen dafür, dass die Gefahr eben noch nicht endgültig behoben ist. An Urlaub jedenfalls ist hier nicht zu denken. Überhaupt zeigt sich la canicule, die Hitzewelle, dieses Jahr von der garstigen Seite. Temperaturen von über 40 Grad im Schatten und Waldbrände noch in der Bretagne verursachen Klimasorgen, nicht nur in den traditionell betroffenen Regionen des Südens.

 

 

Folge sind ja auch nicht allein geplatzte Urlaubspläne. Die Bauern befürchten ob der Hitze und der gleichzeitigen Trockenheit zu Recht erhebliche Einbußen bei Qualität und Menge der Ernte. Und das macht auch die Konsumenten nervös. Gegen übergroße Hitze gibt es Klimaanlagen, aber gegen schlechtes Essen hilft wenig. Klingt zynisch, hat aber einen ausgesprochen realen Kern: Soeben wurde Geschäftsleuten die übliche Praxis untersagt, die Klimaanlage auf volle Kraft zu stellen und gleichzeitig die Türen zur Straße weit aufzureißen, um die Passanten von der wohltuend frischen Brise in die Läden spülen zu lassen.

Die Energiekrise scheint im Denken mancher Franzosen keine Rolle zu spielen. Denn Energie wird staatlicherseits extrem subventioniert. Macron hat den Strompreis der EDF gedeckelt und auch die halbstaatliche Total-Energie angewiesen, den Benzinpreis um 15 Cent pro Liter (demnächst 30) zu senken. Das gilt für alle Autofahrer, egal ob im Porsche oder im Citroen C1. Den Ausgleich zahlt der Staat. In der Realität ist das natürlich nicht die Notenbank, sondern der Steuerzahler. Und die Kosten werden die Menschen am Ende selbstredend wieder einholen.

Auf dem Land gibt es dagegen kaum ein anderes und kaum ein angstbesetzteres Thema als Energie. Die Menschen, die zwingend auf das Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen, fürchten aber nicht allein steigende Preise an der Zapfsäule, sondern in erster Linie die kommende Heizperiode. Denn selbst moderne französische Wohnungen sind nicht auf Wintertemperaturen eingerichtet. Sie sind, um es freundlich zu formulieren, mangelhaft isoliert, oft noch einfach verglast, und sie werden größtenteils mit Stromradiatoren beheizt. Das wird teuer, sehr teuer. Der Mangel an Debatte ist eben nicht gleichbedeutend mit geringeren Problemen und Sorgen.

Schon heute sind Stromengpässe im kommenden Winter absehbar

Auch mit der Energieversorgung ist das so eine Sache. Frankreich lebte bislang in der felsenfesten Überzeugung, über jede beliebige Menge Energie zu verfügen und dabei vollkommen autark zu sein. Derzeit erklären sogenannte Experten in allen Medien, weil die Gefahr drohe, dass Russland den Gashahn zudrehen könnte, müsse man solidarisch mit Deutschland sein und sich bemühen, Strom zu sparen.

Die Wahrheit ist: Frankreich ist erstens vollständig abhängig vom Uranimport und verbraucht zweitens deutlich mehr Energie, als es produziert. Abgesehen davon, dass schon heute Erneuerbare erheblich preisgünstiger Strom erzeugen, das Land also relativ (zu) teuren Strom verbraucht. Das Hauptproblem besteht aber darin, dass über die Hälfte der 56 AKWs im Land abgeschaltet sind, sein müssen, sei es aus Wartungs- und Sicherheitsgründen, sei es, weil ein Resultat der Hitzewelle ist, dass nicht ausreichend Kühlwasser vorhanden ist.

 

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Frankreich kann Deutschland, sollte dort die Energie tatsächlich knapp werden, derzeit gar nicht helfen, was Anfang der Woche das Energieministerium auch einräumte. Frankreich bezieht im Gegenteil Energie von den europäischen Nachbarn, auch aus Deutschland. Und das wird auch im kommenden Winter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders werden. Im Gegenteil, schon heute sind Stromengpässe im kommenden Winter absehbar, weil nicht klar ist, wann die Reparaturarbeiten an den 29 abgeschalteten AKWs abgeschlossen sein werden. Die Sorgen der Menschen sind mehr als berechtigt.

Das gilt erst recht, wenn es um pouvoir d’achat geht, die Kaufkraft. Auch in Frankreich das zentrale Thema aller Bürger. Gemeinsam ist den Franzosen – ob politisch liberal, rechts oder links – die Vorstellung, für die individuelle Kaufkraft sei der Staat zuständig. Wenn im Portemonnaie nicht genügend Geld für Miete, Urlaub und Restaurant ist, dann ist der Präsident daran schuld. Denn es ist seine originäre Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es den Menschen gut geht.

Macron bekämpft Rezessionssorgen mit der Notenpresse

Und so hat Macron das Land in den vergangenen Monaten mit Geld geflutet. Wie alle seine Vorgänger, hat auch Macron Unmut und Rezessionssorgen bekämpft, indem er die Notenpresse anwarf, um Sonderzahlungen an die Bürger zu leisten, ob nun für Covidfolgen oder steigende Energie- und Lebenshaltungskosten. Jüngst wurde eine zusätzliche Rentenerhöhung um vier Prozent beschlossen. Desgleichen für die Sozialhilfe. Wie das zu refinanzieren ist, wird man später sehen. Auch da gleicht Macron seinen Vorgängern.

Die sogenannte Macron-Prämie wurde verlängert und verdoppelt. Sie verpflichtet die Arbeitgeber zu einer jährlichen Einmalzahlung an zuletzt 15 Millionen Beschäftigte von bis zu 3000 Euro (demnächst dann 6000). Über diesen Beschluss herrschte im Parlament über alle Fraktionen hinweg weitestgehend Einigkeit. Ein staatsmonopolistisch organisiertes Land kann so verfahren. Nur an den Kosten ändert sich dadurch herzlich wenig.

Ein Zusammenhang zwischen steigenden Preisen und sinkender Kaufkraft und dem russischen Krieg gegen die Ukraine und den westlichen Sanktionen wird dagegen nur wenig diskutiert. Noch. Kaufkraft wird als nationales, innerfranzösisches Thema betrachtet und diskutiert. Erst ganz langsam lassen sich Stimmen vernehmen, die die Sanktionen gegen Russland mit den napoleonischen gegen England vergleichen. Aus (konservativer) französischer Sicht hatten die zu guter Letzt die Industrialisierung Englands begünstigt und somit Frankreich geschadet.

Noch schaut der Teil der Franzosen, der sich nicht bereits in den Sommerurlaub verabschiedet hat, mit einiger Faszination und viel Befremden auf die letzte Sitzungswoche im Nationalparlament und die bislang völlig unbekannte Situation, dass sich dort zur Beschlussfassung wechselnde Mehrheiten auf der Grundlage von Kompromissen bilden müssen. Diskussionen über die Wirtschaftslage im Allgemeinen und Sanktionen und deren Folgen im Speziellen werden dann auf die Zeit nach la rentrée, der allgemeinen Rückkehr aus den Ferien Anfang September, vertagt.

 

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