Krieg in der Ukraine - Mehr Pazifismus wagen!

Ist eine Verlängerung des Kampfes der Ukrainer gegen die russischen Invasoren, etwa auch durch deutsche Waffenlieferungen, moralisch überhaupt vertretbar? Derzeit bekommt man den Eindruck, der Heldentod sei wieder angesagt. Eine liberale Gesellschaft sollte jedoch keine Menschen opfern – auch nicht für eine gute Sache.

Die Chance, Selenskyj selbstbewusst zu antworten, hat der Bundestag nicht genutzt / dpa
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es kam am vergangenen Donnerstag wie erwartet. Nein, eigentlich kam es noch schlimmer. Denn nachdem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Ansprache an die Abgeordneten des deutschen Bundestages gehalten hatte, passiert – nichts. Man ging zur Tagesordnung über. Ein epochales Versäumnis.

Zumal Selenskyi gegenüber dem deutschen Bundestag deutliche Kritik am Handeln der Bundesregierung geübt hatte, garniert mit mehr oder minder subtilen Vorwürfen. Grund genug also für eine Debatte. Und die Gelegenheit, Selenskyj selbstbewusst zu antworten. Man hat sie nicht genutzt.

Berauscht von dem Narrativ des heldenhaften ukrainischen Kampfes weicht man lieber der zentralen Frage aus, ob eine Verlängerung dieses Kampfes, auch durch deutsche Waffenlieferungen, moralisch überhaupt vertretbar ist. Die stellte am Donnerstagabend in der Sendung „Maybrit Illner“ immerhin Moderator Theo Koll dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk: „Gibt es für Ihr Land eine Grenze an zivilen Opfern, die Sie bereit sind, in Kauf zu nehmen?“ Melnyk reagierte empört. Die Frage sei zynisch, Putin und Russland seien verantwortlich für die Toten.

Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik

Das stimmt natürlich. Doch Melnyk macht es sich zu einfach. Eine Regierung, die ihre Bürger in einen Verteidigungskrieg schickt, ist auch verantwortlich für Tod, Leid, Schmerz und Zerstörung. Vielleicht fühlt sich dieses Elend subjektiv besser an, schließlich ist ja für die gerechte Sache, es bleibt aber Elend. Auch Menschen, die für eine gerechte Sache sterben, sind tot. Und wer sich nicht von Politphrasen aus der Mottenkiste à la „Heldentum“ und „Freiheitskampf“ den Kopf vernebeln lässt, sollte nachfragen, ob dieses Elend gerechtfertigt ist.

Einer der wenigen, die das hierzulande klar formuliert haben, ist – Ehre, wem Ehre gebührt – Richard David Precht. In einem Gespräch mit dem Stern wies er darauf hin, dass die westlichen Waffenlieferungen diesen Krieg letztlich nur verlängern und Tod und Elend mit sich bringen. Die Empörung und das Wissen um die Aggression Russlands würden uns nicht davon befreien, „realpolitisch alles dafür zu tun, um das Allerschlimmste zu verhüten“.

Im Grunde handelt es sich hier um den alten Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Hält man starr und dogmatisch daran fest, große Ideale zu verteidigen, Unabhängigkeit und Demokratie etwa, und nimmt dafür tausende Tote, Zerstörung und eine extrem gefährliche Eskalation in Kauf? Oder besinnt man sich auf seine Verantwortung, das Leben und das Wohl seiner Bürger zu schützen?

Eine liberale Gesellschaft opfert keine Menschen

Man kann das Problem auch utilitaristisch angehen und sich fragen, wie man das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl erzeugt. Die Antwort ist relativ einfach. Umgangssprachlich formuliert lautet sie: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Selbst die hehrsten Ziele rechtfertigen nicht tausende von Toten, Vernichtung und Zerstörung. Der Kampf bis zur letzten Patrone, er ist menschenverachtend – egal für welche Sache.

Davon kann auch das fragwürdige Pathos nicht ablenken, das Selenskyj am Donnerstag im Bundestag zu verbreiteten suchte – und beinahe täglich in seinen Videobotschaften. Die Ukrainer sterben auch für uns? Für die Demokratie? Für die Freiheit? Das stimmt leider nicht mal der Sache nach. Wichtiger ist jedoch der normative Punkt: Der Kern liberaler Gesellschaften ist das Individuum, nicht das Kollektiv. Das Leben des Einzelnen ist ihnen daher heilig. Eine liberale Gesellschaft opfert keine Menschen – auch für eine gute Sache nicht. Denn so gut kann eine Sache gar nicht sein, dass sie ein Menschenleben aufwiegt.

Das haben im Übereifer der aufgeblasenen Gefühle aber auch hierzulande viele vergessen. Dabei gilt: Für Demokratie und Freiheit zu krepieren, ist kein bisschen besser als für Mütterchen Russland zu verrecken. Am Ende stehen Tote. Sterben für edle Ideale? Für uns? Lassen wir den Kitsch! All diese jungen Männer, Russen wie Ukrainer, sterben für sich allein: schmerzvoll, elendig und einsam. Und jeder sollte besser leben, auf Partys gehen, Wodka saufen oder meinetwegen am Computer zocken – alles besser, als im Schlamm des Donbass zu verbluten.

Der Heldentod ist wieder angesagt

Doch wenn man die hiesigen Medien verfolgt, bekommt man mitunter den Eindruck, der Heldentod sei wieder angesagt. Es darf wieder gestorben werden. Der Tod auf dem Schlachtfeld, er ist wieder modern. Diesmal nicht für Volk und Vaterland, das auch, vor allem aber für Europa, Freiheit und Demokratie. Schließlich geht es doch um unsere westlichen Werte – wie war noch der Spruch von Max Liebermann?

Und wie schon in den großen Kriegen der letzten Jahrhunderte sind es wieder einmal die Schreibtischhelden in ihren Redaktionstuben, die sich hierzulande in Taumel schreiben, vom gerechten Krieg fabulieren und dem Kampf für die große Sache. Was ein ärgerliches Déjà-vu.

Wer dazu beiträgt, den Krieg am Laufen zu halten, indem er ihn mit dem Weihrauch hoher Ideale umnebelt oder mit Waffen zum Durchhalten munitioniert, trägt nur dazu bei, dass das Leid, das Elend und das Sterben weitergehen. Wenn der Bundestag am Donnerstag wirklich Mut gehabt hätte, hätte er die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen gefordert – von beiden Seiten. Wir sollten wieder mehr Pazifismus wagen!

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