Kommunalwahlen in der Türkei - „Deutschland und die EU dürfen nicht länger wegsehen“

Der Journalist Friedrich Roeingh hat als Wahlbeobachter an der türkischen Kommunalwahl im Osten der Türkei teilgenommen. Im Interview beklagt er eklatante Wahlrechtsverstöße und erklärt, warum Erdogans Macht bröckelt.

Der türkische Präsident Erdogan und seine Frau Emine vor AKP-Anhängern / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Friedrich Roeingh war bis 2023 Chefredakteur bei der Medienholding VRM, die unter anderem die Allgemeine Zeitung in Mainz und den Wiesbadener Kurier herausgibt. 

Herr Roeingh, was hat Sie motiviert, die Kommunalwahlen in der Türkei zu verfolgen?

Ich habe vor 14 Monaten über das verheerende Erdbeben in der Türkei aus Adiyaman berichtet, wo der türkische Staat nicht nur eklatant versagt hat. Es war auch offensichtlich, dass ethnische und religiöse Minderheiten wie alevitisch geprägte Stadtviertel bei der Nothilfe massiv diskriminiert wurden. Kurze Zeit später habe ich an einer politischen Delegationsreise nach Kurdistan teilgenommen. Mit den Wechselwirkungen zwischen der Türkei und Deutschland – besonders seit Erdogan im Amt ist – habe ich mich in meinem Berufsleben lange beschäftigt.

Wie war die Wahlbeobachterdelegation, der Sie angehörten, zusammengesetzt?

Wir waren 125 europäische Wahlbeobachter, die auf Einladung der kurdischen DEM-Partei (Nachfolgepartei der HDP; Anm. d. Red.), teilgenommen haben. Die Partei ist einem Verbotsverfahren ausgesetzt. Auf eigene Kosten haben wir den gesamten Wahltag über Wahllokale in großen Teilen des Südostens der Türkei besucht. Dabei waren weitere Journalisten, aber auch Mitglieder des Pariser Senats. Dass die Parteien selbst den Wahlablauf kontrollieren, hat in der Türkei Tradition. 

Welchen Eindruck hatten Sie?

Ich selbst bin mit einem Team in der Region Bingöl, zwei Stunden nördlich der kurdischen Regionalhauptstadt Diyarbakir, unterwegs gewesen. Wir haben beides gesehen: Wahllokale, in denen die Prozesse ordentlich abgelaufen sind. Wir haben aber auch Wahllokale gesehen, in denen bewaffnete Kräfte der türkischen Gendarmerie und des Militärs unmittelbar in den Wahllokalen – zurückhaltend formuliert – Präsenz gezeigt haben. Wir haben auch beobachten müssen, dass trotz unserer Anwesenheit die Wahlkabinen paar- oder gruppenweise benutzt wurden. Solche Vorkommnisse, die immer dort vorkamen, wo die AKP zuletzt stark war, spotten den Grundsätzen einer freien und geheimen Wahl.

Nur Einzelfälle?

Nein. Bei den insgesamt 125 Wahlbeobachtern hat sich ein Bild ergeben, das ich als erschreckend valide bezeichnen würde. Das Harmloseste war noch, dass einige unserer Delegationen der Schulen verwiesen wurden, in denen gewählt wurde. Einige davon sind dann von den Sicherheitskräften verfolgt worden und mussten ihr Vorhaben quasi abbrechen. Die eklatanteste Erkenntnis aber war, dass die Vorwürfe, die türkische Regierung habe knapp 50.000 ortsfremde Soldaten insbesondere nach Kurdistan entsandt, um dort in bestimmten Bezirken die Wahlergebnisse zugunsten der AKP zu beeinflussen, im Grundsatz belegt werden konnten.

Friedrich Roeingh / VRM; Sascha Kopp

Sie bezeichnen den Osten der Türkei als „Kurdistan“. Eine politische Entscheidung? 

Weil ich Bayern auch als Bayern bezeichne (lacht). Insofern ist das meinerseits eine verweigerte Rücksichtnahme auf den übersteigerten türkischen Nationalismus. Aber präziser wäre natürlich Türkisch-Kurdistan.

Hat sich der in den Medien verbreitete Vorwurf, dass massenhaft ortsfremde Männer in die Wahllokale im Osten der Türkei entsandt wurden, ebenfalls bestätigt?  

Ja. Einige mutige Wahlleitungen haben unseren Beobachtern die Wahlverzeichnisse eröffnet, in denen die massenhafte Anmeldung von ortsfremden jungen Männern belegt ist. Die kurdische DEM-Partei hatte schon vor der Wahl solche Listen den Gerichten vorgelegt, um diese Wahlmanipulation zu unterbinden. Allerdings ohne Ergebnis. Unsere Wahlbeobachter haben auch in Bild und Video festhalten können, wie junge, kurzgeschorene Männer in Zivil mit Bussen zu den Wahllokalen gekarrt wurden. Vereinzelt kam es rund um diese offensichtlichen Wahlmanipulationen auch zu lokalen Tumulten.

Der Europarat kommt nach seiner offiziellen Beobachtung der türkischen Kommunalwahlen zu einer wesentlich positiveren Einschätzung. Wie kann das sein?

Der Europarat ist ja schon halb zurückgerudert, in dem er darauf abhebt, vor allem der Wahlprozess an sich sei ordentlich verlaufen. Behinderungen räumt auch der Menschenrechtsrat ein. Der Rat hat aber gerade einmal elf Delegationen in die Türkei entsandt – davon nur eine nach Kurdistan. Das ist angesichts der jahrelangen Aussetzung kommunaler Selbstverwaltung in den kurdischen Städten durch die Zentralregierung und die gleichgeschalteten Justizbehörden absurd. Ein Bemühen, die vielfältigen Manipulationen der Kommunalwahl in Kurdistan zu dokumentieren, auf die schon Wochen vorher mit den manipulierten Wählerlisten aufmerksam gemacht wurde, war nicht im Ansatz zu erkennen.
 

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Bei Unruhen in zwei Wahllokalen im Osten gab es einen Toten und mehrere Verletzte. Warum?

Nach meiner Einschätzung sind diese tödlichen Vorfälle darauf zurückzuführen, dass die lokalen AKP-Fürsten einen Machtverlust fürchteten und die Stimmung auf beiden Seiten – auch und gerade durch die Manipulation der Wahllisten – mancherorts extrem aufgeheizt war.

Nach der vergangenen Kommunalwahl war die HDP, die Vorgängerpartei der DEM, im Osten und Südosten der Türkei ähnlich erfolgreich. Kurz danach wurden über 80 Bürgermeister und Oberbürgermeister ihres Amtes enthoben, die gewählten Stadträte aufgelöst und von der Zentralregierung Zwangsverwalter eingesetzt. Droht erneut eine solche Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung in den kurdisch geprägten Teilen der Türkei?

Schwer zu beantworten. Zunächst ist festzuhalten, dass die AKP und Erdogan, der diese Kommunalwahl ohne Not auf sich zugeschnitten hat, ein Wahldebakel hinnehmen mussten; eine nachhaltige Klatsche. Dass die kemalistische CHP die AKP landesweit abgehängt hat, ist angesichts der Gleichschaltung aller relevanten Medien in der Türkei bemerkenswert. In Kurdistan selbst gründet sich eine neue Hoffnung darauf, dass das System der Zwangsverwalter als gescheitert gelten muss und die Unzufriedenheit in der Region weiter hat wachsen lassen. Erdogan muss zudem klar sein, dass die Menschen in der Türkei jetzt keine weiteren politischen Spielchen, sondern endlich eine wirksame Bekämpfung der Hyperinflation von aktuell rund 70 Prozent erwarten. Umgekehrt gilt leider: Je stärker Erdogan unter Druck gerät, desto unberechenbarer kann er werden. Dazu tragen die Kommunalwahlergebnisse bei. 

Wie sollten sich Deutschland und die Europäische Union nach diesem Erfolg der Opposition gegenüber dem türkischen Präsidenten und seiner Regierung verhalten?

Sie dürfen nicht länger wegschauen. Das krachende Scheitern der AKP in Istanbul und Ankara zeigt, dass selbst unter unfairsten Bedingungen – womit ich hier vor allem die medialen Bedingungen meine – ein politischer Wechsel in der Türkei möglich ist. Und der Anspruch der EU, sich als ein Europa der Menschenrechte und als ein Europa der Regionen und kulturellen Vielfalt zu verstehen, verbietet auch ein Wegsehen in der Kurdenfrage. Mit der Opposition in Ankara sprechen, nach Kurdistan gehen und zugleich Erdogan konstruktive Angebote als Gegenleistung für die Achtung kommunaler Autonomie zu machen: Das ist das Gebot der Stunde. Da wir in Deutschland eine Art Spiegel der Türkei sind und bleiben werden, sollte sich die Bundesregierung hier ganz besonders engagieren.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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