Kommunalwahlen in der Türkei - „Erdogans Charisma hat nun Risse bekommen“

Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat bei den Kommunalwahlen in den vier großen westtürkischen Städten gewonnen. Im Interview erklärt der Sozialwissenschaftler Yaşar Aydın, welche Folgen dies für Erdogans Politik hat.

Unterstützer des Oppositionspolitikers und Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu in Istanbul / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Dr. Yaşar Aydın ist Sozialwissenschaftler und forscht am CATS - Centrum für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Herr Aydın, in den vier Großstädten Istanbul, Ankara, Izmir und Bursa hat die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, die Wahlen für sich entschieden. Haben Sie mit diesem Ergebnis gerechnet? 

Ich habe erwartet, dass die Wähler Staatspräsident Erdogan einen Denkzettel verpassen, weil er mit seiner sprunghaften Geldpolitik die aktuelle wirtschaftliche Misere verantwortet. Gegenwärtig liegt die Inflation bei 67 Prozent, womit ein enormer Kaufkraftverlust einhergeht. Manche Menschen sind deshalb von Armut bedroht. Dass aber die sozialdemokratische CHP, also die „Republikanische Volkspartei“, an der AKP vorbeizieht, habe ich nicht erwartet. Anders als bei den letzten Wahlen war die Opposition nicht geeint, der Parteichef erst wenige Monate im Amt und die CHP zudem innerparteilich zerstritten.

Waren diese Wahlen fair?

Von „fairen Wahlen“ kann keine Rede sein. Denn auch diesmal hat die Regierungspartei auf staatliche Infrastrukturen zurückgegriffen, also für Kampagnen und die Mobilisierung der Wähler öffentliche Ressourcen für sich beansprucht. Teil dessen war eine Desinformations- und Dämonisierungskampagne gegen die Opposition. Die Kandidaten der Opposition wiederum hatten kaum Zugang zu öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Mehr noch: Dem amtierenden Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu droht ein Strafprozess, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wie ein Damoklesschwert über ihm schweben lässt.
 

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Ist dieser Strafprozess denn noch vorstellbar? Er wird ja Oberbürgermeister der Stadt Istanbul bleiben …

Nach diesem Ergebnis wird es schwieriger, denn ein Strafprozess würde der Popularität von Imamoglu einen weiteren Schub geben. Ganz auszuschließen ist es aber nicht, denn Erdogan ist ein autoritärer Politiker, der mit harten Bandagen kämpft, und alles tut, um an der Macht zu bleiben. Mit dieser Wahlniederlage hat Erdogans Charisma nun Risse bekommen. Es gibt Zweifel an seinen Führungsqualitäten. Der „rising star“ ist Imamoglu, der sich zu einem politischen Anziehungspunkt für Zweifel an Erdogan entwickelt hat und weiter entwickeln wird.

Welche Auswirkungen haben die jüngsten Erfolge der CHP auf die geopolitische Ausrichtung der Türkei?

Keine unmittelbaren, da die Sicherheits-, Außen- und Geopolitik eine Domäne der Exekutive ist, die wiederum auf Staatspräsident Erdogan zentriert ist. Er bestimmt die Richtlinien der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik, gewiss in Konsultation mit einem „inneren Kreis“, bestehend aus Außen- und Verteidigungsminister Hakan Fidan beziehungsweise Yaşar Güler, Geheimdienstchef Ibrahim Kalin und weiteren Sicherheitsberatern aus dem Staatsapparat. Erdogan hat ein Mandat bis 2028, und das türkische Präsidialsystem sieht nicht vor, den Präsidenten oder die Regierung mit einem Misstrauensvotum vorzeitig zu entlassen. Das Wahlergebnis könnte höchstens indirekt die Außenpolitik beeinflussen.

Inwiefern?

Zum Beispiel in der Gaza-Frage. Der Achtungserfolg für die islamistische Neue Wohlfahrtspartei, die nun knapp 6 Prozent der Stimmen auf sich vereint und sich Solidarität mit den Palästinensern auf die Fahnen geschrieben hat, könnte die türkische Außenpolitik zu einer Symbolpolitik und Erdogan zu einer harschen Rhetorik gegen Israel verleiten, was die Beziehungen zum Westen weiter belasten könnte.

Yaşar Aydın / SWP

Was zeichnet Erdogans Außenpolitik bisher aus? 

Grob lassen sich drei außenpolitische Ansätze unterscheiden. Die türkische Außenpolitik war zunächst durch eine Westorientierung, einen Pro-EU-Kurs, den Ausbau der wirtschaftlichen Verflechtungen in der Nahostregion und die Priorisierung von Soft Power gekennzeichnet. Sie zielte auf die Erschließung neuer Absatzmärkte, eine engere wirtschaftliche Integration in der Nachbarschaft und Initiativen zur Friedenssicherung, etwa in der Palästinafrage, im Libanon, im Atomstreit mit dem Iran und mit Armenien. 

Nach Ausbruch der Revolten in Libyen, Ägypten und Syrien schloss sich die Türkei der amerikanischen Strategie des Regimewechsels an, setzte verstärkt auf militärische Mittel, bediente sich einer sunnitisch-islamistischen Rhetorik und unterstützte die Muslimbruderschaft. Spätestens seit 2016 verfolgt die Türkei eine pragmatische Außenpolitik im Sinne des Realismus. Sie hat sich von der Strategie des Regimewechsels in Syrien verabschiedet und sucht die Annäherung an Griechenland, Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und die USA. Die Kontinuitätslinien von Erdogans Außenpolitik sind die strikte Verfolgung nationaler Interessen und das Streben nach strategischer Autonomie.

Kritiker sagen, dass Erdogans Außenpolitik „neo-osmanisch“ sei und sich von panislamischen Ideologien leiten lasse. 

Das ist sehr stark vereinfacht. Was heißt hier „neo-osmanisch“? Erdogans Außenpolitik kann insofern als „neo-osmanisch“ bezeichnet werden, als sie sich auf die post-osmanische Geographie konzentriert, die osmanische Vergangenheit teils verklärt und instrumentalisiert, teils geschickt Solidaritäten und Loyalitäten aus der gemeinsamen osmanischen Vergangenheit schöpft. Erdogans Außenpolitik ist nicht „neo-osmanisch“, wenn man darunter das Streben nach Hegemonie im post-osmanischen Raum versteht. Sie ist auch nicht panislamisch, auch wenn sich Erdogan gelegentlich einer islamischen Rhetorik bedient, an die Solidarität der Muslime appelliert und versucht, die Türkei als Sprecher der „islamischen Welt“ zu positionieren. Erdogan vertritt aber kein „islamisches Ordnungsmodell“ auf internationaler Ebene und strebt auch keine „islamische Union“ an.

Immer mehr Schwellenländer wie die Türkei werden zu Autokratien. Das hat natürlich auch sicherheitspolitische Konsequenzen für den Westen …

Der weltweite Niedergang von Demokratien und der Aufstieg von Autokratien stellt für den Westen eine große Herausforderung dar: Er engt seinen weltpolitischen Handlungsspielraum ein, verringert seine Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten und schwächt auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt, insbesondere der Mitgliedsländer der EU. Die Demokratien werden auch von innen herausgefordert: durch Nationalismus, Populismus und Rechtsextremismus, die die liberale Demokratie und die freie Marktwirtschaft in Frage stellen. Autokratisierung zeigt sich unter anderem in Form zunehmender politisch motivierter Migration in die Europäische Union, an steigenden Asylbewerberzahlen und an einer illegitimen Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder.

Mit einem Wahlsieg der AKP – so die Befürchtung westlicher Beobachter – hätten sich diese Demokratie gefährdenden innenpolitischen Entwicklungen fortgesetzt und die Türkei sich weiter vom Westen abgewendet. Welche Auswirkungen hätte dieses Szenario für Deutschland und die Europäische Union?

Eine radikale Abkehr der Türkei vom Westen hätte verheerende politische, wirtschaftliche und militärische Folgen für die Europäische Union. Die NATO verlöre eine ihrer stärksten Streitkräfte und einen Verbündeten, der ein Gegengewicht zu Russland und dem Iran bildet, einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit in der Region und in Europa leistet und die Energiesicherheit gewährleistet. Europa würde auch einen wichtigen Partner in der Zusammenarbeit bei der Migrationssteuerung und etwa eine Pufferzone für Flüchtlingsströme verlieren.

Ekrem Imamoglu / dpa

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich die sicherheitspolitische Balance in der Schwarzmeerregion zugunsten Russlands verschoben. Welche Rolle kommt der Türkei in diesem Krieg zu? 

Russland kontrolliert mehr Küstengebiete am Schwarzen Meer und hat die Ukraine bis auf wenige Gebiete vom Schwarzen Meer abgeschnitten. Umgekehrt hat die Ukraine der russischen Schwarzmeerflotte großen Schaden zugefügt. Die Kooperation der Türkei mit Russland resultiert aus nationalen Interessen und Spannungen mit dem Westen; sie ist also nicht strategischer Natur. Die Türkei unterstützt die Ukraine militärisch, hat die Annexion der Krim durch Russland nicht anerkannt, die türkischen Meerengen für die Durchfahrt von Kriegsschiffen gesperrt und dafür gesorgt, dass Russland seine Schwarzmeerflotte nicht aufstocken kann. Die Türkei stellt ein Gegengewicht zu Russland dar.

Der Sieg der Opposition geht mit der Hoffnung vieler Türken auf einen nachhaltigen politischen Kurswechsel einher. Welche Faktoren werden nun die außenpolitische Positionierung der Türkei bestimmen?

Die Türkei wird ihre moderate Annäherung an den Westen fortsetzen, wobei die wirtschaftliche Situation ein wichtiger Pull-Faktor ist. Die geopolitische Lage – der Ukraine- und der Gaza-Krieg – stellen die Türkei vor Herausforderungen, die sie allein nicht bewältigen kann, und veranlassen Ankara, sich an die USA zu wenden. Die Türkei will zusammen mit der irakischen Regierung einen Transportkorridor errichten, der vom Persischen Golf über den Irak und die Südosttürkei ans Mittelmeer beziehungsweise über die Balkanroute nach Europa führt. Dazu müsste der Irak zu einem starken Sicherheitsakteur aufgebaut, das Land befriedet und der iranische Einfluss eingedämmt werden. Dazu ist die Türkei allein nicht in der Lage. Auch deshalb ist Ankara auf die wirtschafts- und sicherheitspolitische Kooperation mit Washington angewiesen. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen. 

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