Kernkraftwerk Saporischschja - Wie gefährlich wäre ein Anschlag auf das ukrainische AKW?

Der ukrainische Präsident hat vor einem Anschlag auf das von Russland kontrollierte Atomkraftwerk Saporischschja gewarnt. Wie groß ist die Gefahr? Und was würde ein Strahlenaustritt für Deutschland bedeuten?

Das Kernkraftwerk Saporischschja ist seit März 2022 unter russischer Kontrolle / picture alliance/abaca
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York Herder ist ausgebildeter Journalist und hospitiert derzeit bei Cicero.

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Wolodymyr Selenskyj sagte am Dienstag in seiner allabendlichen Videoansprache, der ukrainische Geheimdienst habe herausgefunden, „dass das russische Militär auf den Dächern mehrerer Reaktorblöcke des Atomkraftwerks Saporischschja Gegenstände platziert hat, die Sprengstoff ähneln“. Daraufhin überschlugen sich die Meldungen – vor allem in deutschen Medien. Erinnerungen an Fukushima und Tschernobyl wurden geweckt. Möglicherweise sei es das Ziel der Russen, so Selenskyj, einen Anschlag zu inszenieren und den ukrainischen Streitkräften die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Derweil behauptete der Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass es zu einer Sabotage des Kernkraftwerks durch die Ukrainer kommen könnte.

Das AKW Saporischschja ist das größte Kernkraftwerk Europas und verfügt über sechs Reaktoren. Nachdem das russische Militär das Kraftwerk Anfang März 2022 unter seine Kontrolle gebracht hatte, lief es noch einige Zeit weiter, bis es im September 2022 vom Netz genommen und heruntergefahren wurde. Dennoch braucht die Anlage weiterhin Strom, um die Brennstäbe kühlen zu können. Was würde passieren, wenn einige der Reaktorblöcke nun tatsächlich beschädigt werden?

Reaktorsicherheitsexperte beruhigt

Eine einfache Sprengung der Außenhülle der Reaktoren stellt laut dem Reaktorsicherheitsexperten Rainer Moormann keine große Gefahr dar. „Wenn man da oben Sprengstoff draufpackt wird nicht viel passieren.“ Doch die russische Seite sei durchaus in der Lage die Reaktorblöcke zu sprengen. „Dann haben sie ein Loch im Containment, aber dann passiert immer noch nicht viel“, so Moormann. Das liege daran, dass die Reaktoren in Saporischschja schon seit zehn Monaten abgeschaltet sind.

„Das größte Risiko liegt in den Brennelementlagerbecken. Da sind sehr große Mengen an radioaktivem Material“, sagt der Experte. Doch da diese nicht mehr so viel Wärme erzeugten, verteile sich die Radioaktivität nicht von selbst. „Wenn man das in die Luft befördern will, damit es sich verteilt und eine große Fläche kontaminiert, muss man sich anstrengen.“ Das könnte beispielsweise durch das Entflammen von Kerosin im Abklingbecken mit gleichzeitiger Zerstörung des Gebäudes möglich sein.

Kühlung müsste zerstört werden

Solange also nur eine Sprengung oder der Beschuss von außen erfolge, sei es unwahrscheinlich, dass das zu einer Katastrophe führt, bei der noch Auswirkungen in weiter Entfernung spürbar sind. Denn „dazu müsste man auch noch die Kühlung und Notkühlung kaputt machen“, sagt der Reaktorsicherheitsexperte.

Doch die Kühlung ist selbst nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms am 6. Juni immer noch intakt. Zwar wurde das zur Kühlung nötige Wasser aus dem Kachowka-Stausee bezogen, doch laut dem deutschen Bundesamt für Strahlenschutz, das die Geschehnisse in der Ukraine genau beobachtet, seien derzeit genug Alternativen verfügbar.

Stromversorgung notfalls mit Diesel

Und auch die Stromversorgung ist aktuell sichergestellt. Laut der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA kann das Atomkraftwerk zurzeit über eine Hauptleitung Strom beziehen. Zudem gibt es noch eine Reserveleitung, die am 1. Juli wieder instand gesetzt wurde. Diese Versorgung ist allerdings nicht sicher, da die Leitungen immer wieder ausfallen. So war die Hauptleitung zuletzt am 4. Juli unterbrochen worden. Sollten beide Versorgungslinien ausfallen, stehen im Kraftwerk Saporischschja 20 sowohl fest installierte als auch mobile Dieselgeneratoren bereit, um den benötigten Strom zu erzeugen. Bei bisherigen Stromausfällen hat die Versorgung durch die Dieselgeneratoren immer funktioniert. Laut der IAEA reicht der Dieselvorrat für 15 Tage.
 

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Die für die Kontrolle zuständige Atomenergiebehörde hat in den vergangenen Tagen und Wochen das Kraftwerk zwar immer wieder kontrolliert und bisher keine Anzeichen auf eine Verminung oder dergleichen gefunden. Allerdings ist ihnen laut Aussage des IAEA-Direktors Rafael Mariano Grossi bisher kein Zutritt zu den Dächern von Reaktor drei und vier, sowie Teilen der Turbinenhallen und der Kühlsysteme gewährt worden. Also genau zu den Bereichen, in denen der ukrainische Präsident Sprengstoff vermutet.

Deutschland würde kaum Strahlung abbekommen

Doch was, wenn es dennoch zu einer Zerstörung kommt? „Sollte es in der Ukraine zu einer Freisetzung von Radioaktivität kommen, wären die Folgen vor Ort möglicherweise erheblich“, sagt die Sprecherin des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) Nicole Meßmer. Das genaue Ausmaß und die Auswirkungen würden aber unter anderem von der Wetterlage und der Menge der freigesetzten radioaktiven Stoffe abhängen. Aber „für Deutschland wären die radiologischen Auswirkungen einer Freisetzung in der Ukraine begrenzt“, so Meßmer weiter. Dazu trägt die Abschaltung des Kraftwerks im September des letzten Jahres einen großen Teil bei, denn „kurzlebige radioaktive Stoffe wie beispielsweise Jod-131 sind inzwischen zerfallen“.

Die Luftmassen aus der Ukraine bewegen sich zudem in der Regel nicht nach Deutschland. Es sei „in der Vergangenheit nur in etwa 17 Prozent der Fälle“ aufgetreten, dass die Luft über der Ukraine direkt nach Deutschland gezogen ist. Hinzu kommt die große Entfernung, sodass die kontaminierte Luft in der Regel ein bis zwei Tage brauchen würde, um Deutschland zu erreichen. Das BfS geht deshalb davon aus, dass nur im schlimmsten Fall, also bei einem „erheblichen Austritt von Radioaktivität und der Verfrachtung der kontaminierten Luft“ nach Deutschland, Maßnahmen wie die Kontrolle von Lebensmitteln und Verkaufsverbote für Lebensmittel, die die Grenzwerte überschreiten, getroffen werden müssten. Das BfS gehe nicht davon aus, „dass weitergehende Maßnahmen (wie Evakuierung, Aufenthalt in Gebäuden oder Einnahme von Jodtabletten) zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland notwendig werden würden.“

Dennoch hat das BfS die Strahlungswerte in der Ukraine und deren Nachbarländern fest im Blick. Aber auch in Deutschland wird regelmäßig die Strahlung gemessen. Diese Messungen zielen in erster Linie auf die Erhebung der natürlichen Strahlung ab, sollte bei einer Messstelle aber der Radioaktivitätspegel einen Schwellenwert überschreiten, würde das automatisch gemeldet werden.
 

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