Kapitulation der Politik - Vorkriegszeit

Der britische Verteidigungsminister Grant Shapps sieht Europa „in einer Vorkriegszeit“. Unabhängig davon, ob Shapps das als Warnung oder als Feststellung verstanden haben will: Die Äußerung zeigt, auf was für einer gefährlichen Bahn sich inzwischen Viele gedanklich bewegen.

Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor ist umgeben von dunklen Wolken / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Aus der Geschichte zu lernen, ist fast unmöglich. Doch wenn sie überhaupt etwas lehrt, dann, dass geistloses und bramarbasierendes Geschwätz vom Krieg und der eigenen Wehrhaftigkeit ziemlich sicher in die Katastrophe mündet. Denn wenn man nur lange genug über Krieg spricht, setzt sich in den Köpfen irgendwann der Gedanke fest, dass er unvermeidbar ist. Dann braucht es nur noch einen nichtigen Anlass, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Siehe 1918.

Insofern muss die Äußerung des britischen Verteidigungsministers Grant Shapps alarmieren, Europa befinde sich aktuell „in einer Vorkriegszeit“. Der Satz wird auch nicht dadurch relativiert, dass man seinen Kontext beachtet. In einem Gastbeitrag für den britischen Telegraph schrieb Shapps wörtlich: „We have moved from a post-war to a pre-war world.“

Weiter: „Russland bedroht unsere Nachbarn. China ist zunehmend aggressiv. Der Iran nutzt seine Stellvertreter, um regionales Unheil vom Nahen Osten bis zur Meerenge am Jemen anzurichten“, so der Secretary of State for Defence. „Und Nordkorea rasselt kontinuierlich mit dem nuklearen Säbel. Diese bösartigen Mächte verbünden sich zunehmend, und unsere Demokratie steht in ihrem Fadenkreuz.“

Was möchte uns Shapps mitteilen?

Historisch gesehen hat Shapps natürlich recht. Es ist eine Binsenweisheit: Die Ordnung des Kalten Krieges ist zerbrochen. Die bipolare Machtverteilung ist einer multipolaren gewichen. Die beiden ehemaligen Supermächte USA und Russland haben aus ganz unterschiedlichen Gründen ihre Vormachtstellung verloren. Und neue Akteure wie China oder verschiedene Mittelmächte mit Machtambitionen machen die Sicherheitslage unübersichtlich. Das kann man so in jedem Schulbuch nachlesen.

Wenn der britische Verteidigungsminister also betont, dass wir uns in einer Vorkriegszeit befinden, will er uns also vermutlich nicht mit geschichtsphilosophischen Betrachtungen beglücken oder der Einsicht, dass die Welt sich seit 1989 in einem Epochenwechsel befindet. Nein, Grant Shapps wollte uns etwas andres mitteilen. Die Frage ist nur: was?

Bei freundlicherer Lesart wollte uns der britische Verteidigungsminister mit seiner geradlinigen Einschätzung lediglich wachrütteln. Ziel seiner Äußerung war es dann, sich selbst zu widerlegen und einen zukünftigen Krieg zu verhindern: eine Art self-destroying prophecy.

 

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Die andere Lesart ist deutlich unbequemer. Demnach will Shapps seine Äußerung wörtlich verstanden wissen und sieht den Westen unweigerlich in einen Krieg mit Russland oder auch China schlittern.

Diese letzte Interpretation von Shapps Aussage wäre fatal. Es wäre die Kapitulation der Politik vor dem angeblich Unvermeidlichen. Doch Aufgabe der Politik ist es, keine Situation entstehen zu lassen, die nur noch eine Lösung erlaubt – insbesondere, wenn diese „Lösung“ Krieg bedeutet.

Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik ist es daher, nicht achselzuckend vom Vorkriegszeitalter zu schwadronieren, so wie man ab Mitte Dezember von der Vorweihnachtszeit spricht, sondern ein Vorkriegszeitalter unter allen Umständen zu vermeiden. Denn ein Vorkriegszeitalter führt in den Krieg.

Gedankliche Gewöhnung an die Katastrophe

Shapps Artikel wäre vollkommen unproblematisch, wenn er darauf aufmerksam gemacht hätte, dass der Westen angesichts der neuen Weltunordnung gut beraten ist, entsprechende Abschreckungspotentiale aufzubauen, auf dass niemand auf dumme Gedanken kommen möge und wir niemals in eine Vorkriegszeit geraten. Gegen solche Überlegungen hätte niemand ernsthaft etwas sagen können.

Doch Shapps wähnt sich schon in einer Vorkriegszeit. Das ist fatal. Denn dieser Gedanke, wenn er sich einmal in der öffentlichen Meinung und bei den Entscheidungsträgern festgesetzt hat, führt leicht zu einem gewissen Fatalismus. Am Ende steht dann das Gefühl, dass ohnehin geschehen wird, was geschehen wird – doch besser jetzt als später. Dann stürzt die Welt wieder einmal in einen Krieg, den eigentlich keiner wollte, aber alle für unvermeidlich hielten.

Verantwortliche Politik trägt daher dazu bei, dass die Menschen sich nicht gedanklich an die Katastrophe gewöhnen und ihr damit den Weg bereiten. Das Entsetzliche muss entsetzlich bleiben und darf nicht zum sprachlich Alltäglichen werden. Sonst wird es morgen Realität.

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