Jüdische Identität und florierende Wirtschaft - Warum deutsche Juden nach Israel gehen 

Rechter, linker, islamistischer Antisemitismus – Juden in Deutschland sehen sich aktuell aus verschiedenen politischen Richtungen bedroht. Nicht der einzige Grund, warum deutsche Juden nach Israel auswandern.

Café in Tel Aviv / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

So erreichen Sie Ilgin Seren Evisen:

Anzeige

Ein jüdisches Sprichwort besagt, die Alija ist eine Heirat. Am Anfang überwiegen Euphorie und Verliebtheit. Das Gefühl der anfänglichen Verliebtheit teilen viele Juden, die Alija nach Israel gemacht haben. Ein Leben ohne Antisemitismus, mit koscheren Restaurants, einer solidarischen und kosmopoliten Gemeinschaft, bestehend aus Juden aus zahlreichen Ländern. Für die jüdischen Israelis gilt ihre neue Heimat als Garant für Sicherheit und als einzige Möglichkeit, ihre jüdische Identität frei, also ohne Angst vor alltäglichem bis lebensbedrohlichem Antisemitismus zu leben. 

Die Geschichte der Alija beginnt schon zu babylonischen Zeiten. Nach der Zerstörung des ersten Tempels wanderten die jüdischen Stämme aus Israel in alle Länder der Welt aus. Mit der Gründung des Staates Israels, 1948, und für viele vom Holocaust verfolgte deutsche und osteuropäische Juden schon in den 30er Jahren, beginnt die massenhafte Rückkehr gläubiger Juden in das Land ihrer Vorfahren. 

Beitrag zur demografischen Stabilität

Die Alija hat in der israelischen Gesellschaft einen großen Stellenwert. Die 1929 gegründete Jewish Agency for Israel etwa agiert weltweit und unterstützt Zehntausende Juden bei ihrer Migration nach Israel. Ein eigens dafür benannter Minister, der Alija-Minister, informiert die Öffentlichkeit über die jährlichen Einwanderungen und preist sie als kulturelle Bereicherung für das Land. 

Neben ihrem Beitrag zur demografischen Stabilität des Landes, das auf eine kontinuierliche Zuwanderung von Juden angewiesen ist, sind die meist gut qualifizierten Einwanderer – darunter viele Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler – Garanten für eine stabile Wirtschaft. Der Staat unterstützt die „Olim“, hebräisch für Teilnehmer der Alija, finanziell und mit Sprachkursen beim Ankommen in ihrer neuen Heimat. 

Die gut organisierte Immigration der Juden ist auch auf das im Jahr 1950 in der Knesset erlassene Rückkehrgesetz zurückzuführen. Demnach hat jeder Jude das Recht, nach Israel zurückzukehren, und wird hierbei bei allen Anträgen und organisatorischen Angelegenheiten durch die Jewish Agency for Israel unterstützt. 

Jecke bleibt Jecke

Nach der quasiindustriellen Vernichtung deutscher und osteuropäischer Juden folgte eine massive Auswanderungswelle deutscher Juden nach Palästina. Über die als „Jecke“ bezeichneten deutschen Juden, denen Eigenschaften wie Perfektion und Fleiß, aber auch eine gewisse Überheblichkeit zugesprochen wurde, spottete die Mehrheit der Juden in Israel. Neben diesen als schrullig empfundenen Eigenschaften brauchten sie länger als andere Juden, um Ivrit – Neuhebräisch – zu  lernen, und sie verloren anders als Juden aus anderen Ländern selten ihren deutschen Akzent. 

„Was ist der Unterschied zwischen einem Jecke und einer Jungfrau? Jecke bleibt Jecke“, lautete ein gängiger jüdischer Witz über deutsche Juden. Neben ihrer Borniertheit in preußischen Tugenden wurde deutschen Juden oft der Vorwurf gemacht, sie seien weniger aus Heimatliebe, sondern aus Angst vor den Schrecken der Nazis nach Deutschland geflohen. „Kommst du aus Zionismus oder aus Deutschland?“, wurden die frisch immigrierten deutschen Juden nicht selten gefragt. 

Auch gleichgeschlechtliche Ehen gelten

Als Jude gilt, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist. 1970 wurde das Rückkehrgesetz ausgeweitet auf Kinder (ein jüdisches Elternteil reicht) und Enkel von Juden. Mittlerweile besteht das Recht auf Rückkehr auch für nichtjüdische Ehepartner von Juden; auch im Falle einer eingetragenen Partnerschaft oder einer gleichgeschlechtlichen Ehe können nichtjüdische Partner von Juden nach Israel einwandern.  

Insbesondere mit Beginn der Corona-Pandemie zog es verstärkt europäische Juden nach Israel. Über 20000 Juden sind allein 2021 nach Israel eingewandert, also 31 Prozent mehr als im Vorjahr. Die vom Ministerium für Alija verkündeten Zahlen zeigen, dass sich neben russischen, französischen und südafrikanischen Juden auch junge deutsche Juden, meist unter 35, zur Alija entschließen. Aus diversen Gründen. 

Ein Anstieg um 40 Prozent

Die Zunahme antisemitischer Stereotype in Form von Verschwörungstheorien, die zur Zeit der Pandemie in den sozialen Medien zirkulierten, ist ein Anlass, wieso jüdische Mitbürger Deutschland verlassen. Alleine 2021 wurden in Deutschland 2738 antisemitische Vorfälle erfasst. Dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) zufolge war dies ein Anstieg um 40 Prozent zum Jahr 2020. 

August 2023: Ein israelischer Tourist, der Hebräisch spricht, wird in Berlin von mehreren Männern verprügelt. Der krankenhausreif geschlagene junge Mann ist sich sicher, dass die Angreifer Araber waren. Doch neben Bedrohungen, Beleidigungen und roher Gewalt gibt es noch andere Formen von Antisemitismus, die auch in linksausgerichteten deutschen Medien anzutreffen sind: die höchst undifferenzierte Kritik an israelischer Innen- und Außenpolitik.
 

Mehr zum Thema Israel:


Das jüngste Beispiel: Fabian Wolff. Der 1989 in Berlin geborene deutsche Journalist machte viele Jahre Karriere als deutsch-jüdischer Autor und schrieb über seine jüdische Identität und den Nah-Ost-Konflikt. Bei seinen Artikeln nahm er eine israelkritische Haltung ein. Berichte über Antisemitismus in orientalischen Einwandererkreisen setzten dem jungen Autor derart zu, dass er nach einem kritischen Beitrag Ahmad Mansours seine journalistische Tätigkeit für die Jüdische Allgemeine einstellte. Wolff allerdings, der von linken deutschen Medien gefeiert wurde, weil er als „Jude“ Israel kritisierte, musste im August öffentlich eingestehen, dass er gar kein Jude ist. 

Antisemitismus in Deutschland ist also kein Phänomen speziell der Radikalen. Nicht nur deutsche Rechte, Israel gegenüber voreingenommene linke deutsche Medien und Islamisten pflegen antisemitische Ressentiments. Die Pandemie hat gezeigt, wie weit verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien sind und wie unkritisch deutsche Leitmedien antisemitische Israelkritik wiedergeben.

Auf technologischen Fortschritt ausgerichtet

Aber auch die israelische Wirtschaft mit ihrer florierenden Startup-Kultur lockt vor allem junge deutsche Juden nach Israel. Die jungen Unternehmen gelten als volkswirtschaftliche Ressource, die dem Land durch einen Gründerboom in den 90er Jahren zu internationalem Ansehen verhalfen und zahlreiche ausländische Investitionen in das Land lockten. Auch der Staat selbst investiert in die Hightech-Industrie, die einen Großteil der Startups ausmacht. Das vom israelischen Staat für die Startup-Branche genehmigte Budget ist eins der weltweit höchsten. 

Israel verfügt im internationalen Vergleich über eine auf technologischen Fortschritt ausgerichtete Wirtschaft, es übertrumpft mit seinem Lebensstandard zudem alle anderen Länder des Nahen Ostens. Die eingewanderten deutschen Juden finden auf einem derart vitalen Arbeitsmarkt schnell Anschluss. 

Im Job Englisch oder Ivrit

Ein deutscher Jude, der ausgewandert ist, ist Sebastian aus Berlin. Aus Angst vor antisemitischen Anfeindungen bei seiner nächsten Deutschland-Reise möchte er anonym bleiben. Als Sohn einer deutsch- und osteuropäisch-jüdischen Familie wuchs er in bescheidenen Verhältnissen bei seiner alleinerziehenden Mutter in der deutschen Hauptstadt auf. „Wegen dem mediterranen Klima und den schönen Frauen“, erklärt er scherzhaft seine Motive für seine Alija. Für ihn steht fest, dass er in Israel ein besseres Leben hat als in Deutschland. 

Im Alltag sprechen deutsche Juden in Israel weitestgehend Deutsch miteinander, im Job Englisch oder Ivrit. Anders als osteuropäische Juden sind deutsche Juden überwiegend säkular und besuchen ihre weiterhin in Deutschland lebenden Familien regelmäßig. „Bis in die 90er Jahren hatten wir sogar eine deutschsprachige Zeitung“, erzählt Sebastian, der seine Auswanderung aus Deutschland nicht bereut hat. Zurück nach Deutschland zu ziehen, kann er sich nicht vorstellen. „Die Auswahl an koscherem Essen, die Vielfalt jüdischen Lebens, die vielen Innovationen – auf diese Solidarität und die Freiheit, Jude sein zu dürfen, will ich nicht verzichten.“  

Marcel hatte für seine Alija vor zwei Jahren andere Gründe als Sebastian. Zwar erlebten einige seiner Freunde antisemitische Überfälle aus islamistischen Kreisen, aber für den Informatiker und Projektleiter waren es andere Motive, die ihn nach Israel führten: „Meine Firma baute eine Filiale in Israel auf und wollte einen Mitarbeiter vor Ort einbinden. Ich meldete mich sofort und sagte zu.“ 

Bis zu seinem Aufenthalt in Israel lebte Marcel in einem multikulturellen Bezirk Berlins. Zum jüdischen Neujahrsfest bekam seine Familie von den türkischen Nachbarn koschere Schokolade geschenkt, sein bester Freund, libanesischer Moslem, blieb auch nach seinem „Outing“ als Jude sein bester Freund. „Am Anfang fiel es ihm schwer, zu glauben, dass ich Jude sei. Bis dahin hielt er mich für einen Christen. Inzwischen stelle ich fest, dass sich seine Einstellungen zu Juden geändert haben“, sagt er. 

Unterstützt vom israelischen Staat

In der zentralisraelischen Kleinstadt Modi`in finden Marcel, seine Ehefrau und die gemeinsamen drei Kinder ein Zuhause. Unterstützt vom israelischen Staat lernen sie Ivrit, die Kinder erhalten in der Schule ein Sonderprogramm, das sie bei ihrem Übergang in das israelische Schulsystem bestmöglich unterstützt. Anders als für viele andere Juden sind es also nicht primär Erfahrungen von Antisemitismus, die Marcel nach Israel migrieren ließen. 

Der engagierte Vater möchte seinen Kindern ein Kennenlernen der israelischen Kultur, eine solidarische sowie kosmopolite Gemeinschaft und eine behütete Kindheit ermöglichen. „Unsere Kinder können hier auch nachts in öffentlichen Parks mit Freunden spazieren. In Berlin wäre das undenkbar gewesen“, so Marcel.

Aber auch die insgesamt optimistische Stimmung, die guten Netzwerke vor Ort und das angenehme Kleinstadtleben begeistern die jüdische Familie aus Berlin für ihr neues Leben in Israel: „Wir begegnen immer wieder Juden aus Deutschland, es gibt nicht so viele von uns. Außerdem haben wir hier einen deutsch-jüdischen Stammtisch und auf Social-Media-Plattformen können wir uns ebenfalls vernetzen. Selbst ein Jecke-Parlament gibt es“ sagt Marcel, nicht ohne Stolz. 

Zurück nach Deutschland will die Familie vorerst nicht, nicht aus Angst vor Ressentiments oder erlebter Diskriminierung. Für Israel spricht für Marcel und seine Familie die individuelle Zufriedenheit, die starke solidarische Gemeinschaft und die gelungene und schnelle Integration in das moderne kosmopolite Land. „Für uns war es die richtige Entscheidung, Alija zu machen, aber wir sind Deutschland und unseren jüdischen sowie nicht-jüdischen Freunden dort sehr verbunden und kommen immer wieder gerne zu Besuch“, sagt er.

Einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Justizreform in Israel finden Sie hier

Anzeige