Israel und die Corona-Pandemie - Die Regierung hat den Kampf gegen Omikron aufgegeben

Israel war das erste Land, das eine umfassende Impfkampagne startete. Doch den anfänglichen Erfolgen ist Ernüchterung gefolgt. Trotz Rekordinzidenzen durch die Omikron-Variante wollen die Israelis von Corona nichts mehr wissen und leben wieder ihr Leben. Auch die Regierung hat sich insgeheim von der Pandemie-Bekämpfung verabschiedet.

Nur wenige tragen in der Öffentlichkeit noch Masken: Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem / dpa
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Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

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Den Israelis ergeht es gegenwärtig wie einem notorischen Musterschüler. Lange hat er eifrig alles richtig gemacht und ist mit den besten Zensuren belohnt worden. Man konnte den Klassenprimus nicht ausstehen. Er indessen begann an die eigene Genialität zu glauben. Als der Schlaumeier aber schließlich scheiterte, mochten die Klassenkameraden ihre Schadenfreude nicht verhehlen.  

Anfang 2020 erfuhr der damalige Premierminister Benjamin Netanjahu von der aufkommenden Corona-Pandemie. Sogleich erkannte der naturwissenschaftlich Ausgebildete, vor allem aber als „politisches Tier“, welche Chance sich ihm bot: „In meinem Statistikseminar lernte ich, was exponentielles Wachstum bedeutet.“ „Bibi“ hatte es über Jahrzehnte nicht vergessen. Er konnte sich im Gegensatz zu den meisten seiner Amtskollegen, die Politische Wissenschaften oder ähnlich nutzlosen Tand studiert hatten, die Entwicklung ausrechnen. Ohne Gegenmaßnahmen würden die Infektionszahlen ungehindert in die Höhe schnellen.

Der israelische Premier fackelte nicht lange. Er setzte einen Lockdown durch und nutzte im Gegensatz zu anderen die Zeit, um sich das beste Impfmittel zu besorgen, jenes von Biontech-Pfizer. Das war nicht einfach. Mehr als dreißig Mal nervte er Pfizer-CEO Albert Bourla in New York, um das neue Vakzin zu erhalten. Dass Bourla Sohn einer jüdischen Mutter ist, half da wenig. Also zahlte Bibi den geforderten Preis: Er verzichtete auf die Herstellerhaftung und verpflichtete sich, Pfizer sämtliche Patienten-Impfdaten aus Israel zu überlassen. Insgesamt fast sieben Millionen Datensätze. Ein bislang ungekanntes Datenreservoir. Dessen Überlassung wäre in Deutschland und der EU aus Gründen des Datenschutzes unmöglich gewesen. Hier schwelgt man lieber im Prinzipiellen. Vergisst den Grundsatz: „Not kennt kein Gebot.“ Dies sei angeblich undemokratisch. Netanjahu dagegen berief sich auf die Werteabwägung des Talmud: „Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt.“ 

In Rekordzeit geimpft

So kam Netanjahu dank seiner Prioritäten und seiner Schnelligkeit weltweit am raschesten zu den begehrten Impfstoffen. In Rekordzeit wurden 70 Prozent der 9,5 Millionen Israelis zwei Mal, also, wie man damals dachte, „vollständig“ immunisiert. Die anderen 30 Prozent wollten nicht: hauptsächlich religiöse Juden und Araber. Doch nachdem eine Reihe nicht geimpfter Rabbiner Opfer des Virus geworden waren, gaben die Strenggläubigen ihren Widerstand auf. Nur Narren sterben gern um des Prinzips willen – und sei es ein religiöses. Obendrein: Impfverbote sind in der Bibel nicht vorgesehen. Nicht einmal im Alten Testament. Bei der arabischen Bevölkerung verhielt es sich ähnlich. Da stellte sich heraus, dass eine dritte, eine Booster-Impfung notwendig war. Im Namen des Herrn und Allahs, dachte man mal wieder, wenn wir auf diese Weise endlich das Virus überwinden. Doch das Virus hält sich nicht an die Wünsche des Menschen und auch nicht die Theorien von Papa Freud, sondern an die Gesetze der Biologie – und mutiert nach Möglichkeit.  

Derweil walteten in Israel die Regeln der Politik, der Psychologie und der nationalen Erfahrung. Eine bunte Koalition von rechten und linken Israelis, Siedlern und deren Feinden, Juden und fundamentalistischen Moslems, allein durch den Wunsch geeinigt, den der Korruption, des Betrugs und der Untreue angeklagten Rekordpremier Netanjahu in die politische Wüste zu schicken, gelang es im x-ten Anlauf endlich, den ihnen verhassten Bibi abzulösen und eine Regierung zu bilden, die im Parlament über eine Stimme Mehrheit verfügt.

Die Israelis kümmerte es nur am Rande. Sie erfreuen sich daran, nach mehr als einem Jahr Corona-Restriktionen endlich uneingeschränkt wieder ihr Leben genießen zu dürfen. Hebräer und ihre arabischen Vettern genossen nach den verhassten Einschränkungen ihre große Freiheit ungehemmt. Die lange verwaisten Clubs quollen über vor Gästen, die Diskos, Restaurants und sonstigen Spaßanstalten ebenso. Zudem bestätigten die Israelis ihren zwischenzeitlich notgedrungen auf Corona-Eis gelegten Ruf als Reiseweltmeister.  

Israelis wollen von Gesichtsmasken nichts mehr wissen

Dann wurde in Südafrika und anderswo die Omikron-Mutante entdeckt. Sie breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Die neue Regierung Bennett sperrte den internationalen Ben-Gurion-Flughafen. Doch es half nebbich wenig. Eine Dame aus Afrika und zwei israelische Ärzte importierten dennoch das Virus. Die Regierung kämpfte dagegen mit einer vierten Impfung zumindest für die über 60-Jährigen an. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, erneut Gesichtsmasken anzulegen und Abstand zu wahren. Kein Israeli dachte daran, der Empfehlung zu folgen. Wozu auch? Mitte November war die Inzidenz auf unter 50 gefallen. Regierung und Virologen warnten, dies sei keine Garantie. Omikron breite sich exponentiell aus.

Doch die Menschen hatten keine Kraft mehr, sich weiterhin einzuschränken. Deutsche Disziplin? Fehlanzeige! Exponentiell? Wer außer Nerds kennt schon die Bedeutung des Wortes? Die Leute verstanden nicht oder wollten nicht begreifen. Stattdessen feierten die Tel Aviver und Haifaer die Lebensparty, als ob es kein Morgen gäbe. Wer Hitler, Arafat, KZs, Kriege und feindliche Raketen überlebt hat, lässt sich auch von einem dahergeflogenen Virus nicht einschüchtern. Auch da, wo das Tragen von Masken verbindlich vorgeschrieben ist, etwa in Geschäften, Restaurants, Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, kümmerte man sich nicht um Schutzregeln. Zunächst legte kein Israeli den OP-Schutz an. FFP2-Masken nutzt ohnehin niemand.

Die Haltung wandelt sich allmählich. Denn unterdessen hat die Inzidenz den Wert 2000 erreicht. Da beginnen viele nachzudenken. Doch das Sinnen zeitigt nur begrenzte Ergebnisse. Unterdessen legt etwa ein Viertel der Bürger eine Maske an. Nur, wie?! Männer nutzen sie zumeist als Bartschoner, Frauen als Gesichtstuch. Infantilität hält bei vielen Einzug. Sie benutzten die Maske als Fetisch. 50.000 täglich neu Infizierte würden in Deutschland etwa 400.000 entsprechen und Panik hervorrufen. In Israel wurden Maskenträger zuletzt verlacht, jetzt werden sie beschimpft. 

Die Regierung hat den Kampf gegen Omrikon aufgegeben. „Wir werden die Wirtschaft nicht durch das Virus lahmlegen und auch keine Wahlgeschenke verteilen“, bestimmt Finanzminister Avigdor Lieberman. An eine Impfpflicht denkt man nicht. Sie wäre hier zwecklos. Experten sagen eine weitere sprunghafte Zunahme der Infektionen voraus. Das Verhalten der Menschen ändert sich jedoch kaum.

Indessen boomt die Wirtschaft. Das BIP nahm im vergangenen Jahr um mehr als 5 Prozent zu. Allenthalben wird gebaut. Und das Virus? „Auf Dauer hat der Ewige uns immer geholfen. Es gab Tiefs. Aber am Ende hatte er immer mit seinem Volk Erbarmen“, wissen die Frommen. Die Nichtreligiösen teilen diesen Glauben. Die Israelis bleiben zuversichtlich und leichtsinnig – auch während der Omrikon-Seuche.

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