Proteste im Iran - „Sie wollen keine Reformen, sie wollen einen kompletten Regime-Wechsel“

Das Parlament in Straßburg will die iranischen Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste setzen lassen. Im Interview spricht die Politikwissenschaftlerin und Exil-Iranerin Sara Bazoobandi über einen zu diplomatischen Westen, die Proteste in ihrer Heimat und ihre eigenen Ängste.

Eine junge Iranerin demonstriert in Teheran gegen das islamistische Regime / picture alliance
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Autoreninfo

Lena Middendorf studierte Politik- und Kommunikations- wissenschaften an der Uni Greifswald. Nach Hospitanzen bei der Hamburger Morgenpost und der Süddeutschen Zeitung absolviert sie derzeit ein Praktikum bei Cicero.

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Sara Bazoobandi ist Politikwissenschaftlerin am GIGA Institut in Hamburg. Der Forschungsschwerpunkt der Exil-Iranerin liegt auf dem Mittleren Osten und Iran.

Frau Bazoobandi, haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen im Westen nachhaltiger für den Iran interessieren?

Die Aufmerksamkeit für die politische Lage Irans ist in den letzten Monaten global gestiegen. Zum einen aufgrund der intensiveren Berichterstattung, zum anderen aufgrund der medialen Arbeit von politischen Aktivisten. Stellungnahmen von deutschen Politikern und Regierungsmitgliedern via Social Media tragen ebenfalls dazu bei. Diese Aufmerksamkeit ist essentiell, da hierdurch Interesse und Solidarität der Bürger hierzulande gefördert wird.

Social-Media-Aktivismus spielt eine fundamentale Rolle in der Berichterstattung. Die Protestierenden im Iran riskieren ihr Leben, um uns Informationen zu liefern. Zusätzlich gibt es keine ausländischen Korrespondenten vor Ort. Wie kann da überhaupt realistisch berichtet werden?

Die investigative Auslandsberichterstattung aus Nachbarländern hilft, einen dennoch möglichst realistischen Eindruck zu gewähren. Den Mut der Iraner, die Informationen ins Ausland liefern, gebraucht das Regime für weitere Repressionen. Das Regime begrenzt nicht nur den Internetzugang vor Ort, sondern nutzt verschiedene Überwachungstechnologien, um Protestierende zu verfolgen. Deshalb berichten auch kaum Journalisten vor Ort.

Wie hat sich durch die intensivere Berichterstattung über Iran auch die Wahrnehmung des Landes verändert?

Westliche Politiker haben sich endlich gegen das iranische Regime positioniert, und erkennen an, dass das Regime nicht die Menschen im Iran repräsentiert. Dank der Berichterstattung wird in der EU erstmalig darüber diskutiert, die Revolutionsgarde auf die Terrorliste zu setzen. Die frühere Berichterstattung konzentrierte sich lediglich auf das Atomabkommen, aber nicht auf Irans Menschenrechtsverletzungen. Die Begrenzung des öffentlichen Diskurses auf das Atomabkommen, besonders im Westen, gehörte zur Strategie des Regimes, um so von den eigentlichen politischen Problemen abzulenken.

Das würde bedeuten, dass das iranische Regime die westliche mediale Öffentlichkeit kontrolliert?

Die westlichen Medien werden schon sehr lange durch die iranische Regierung beeinflusst. Die iranische Regierung hat sich ein Netzwerk aus Intellektuellen, Journalisten und Wissenschaftlern geschaffen, um den öffentlichen Diskurs zu manipulieren und zu verändern. Die iranische Regierung hat finanziell sowie intellektuell sehr viel in dieses Netzwerk investiert. Seit viele westliche, unabhängige Journalisten intensiver über die politische Lage im Iran berichten, verfolgt das Regime eine andere Strategie.

Die da wäre?

Die aktuelle Strategie ist die „transnationale Unterdrückung“. Das Regime bedroht zielgerichtet iranische Aktivisten im Ausland, da sie ihr Narrativ gefährden. Es wurden bereits iranische Journalisten und Aktivisten in der Diaspora gekidnappt. Die Machthaber sind mit dem neuen Narrativ unzufrieden, weil es für sie bequem war, einen falschen Eindruck von der iranischen Gesellschaft zu vermitteln. Die alleinige Fokussierung auf den Atomdeal war für sie komfortabel.

Sie positionieren sich als Wissenschaftlerin öffentlich gegen das Regime. Wie gehen Sie selbst als Iranerin in der Diaspora mit den möglichen Folgen einer Bedrohung um?

Ich fühle mich sehr unsicher, ich habe auch Angst. Da ich die Folgen nicht einschätzen kann, muss ich mich manchmal selbst zensieren. Doch der persönliche Vergleich mit den mutigen Demonstrierenden im Iran gibt mir Mut: Wenn ich meine Situation mit dem Mut der Iraner und Iranerinnen vergleiche, die ihr Leben riskieren, dann spüre ich die Verpflichtung, öffentlich über die Menschenrechtsverletzungen im Iran zu sprechen. Und man muss sich bewusst sein: Wir Iraner und Iranerinnen in der Diaspora sind nicht diejenigen, die lügen, sondern es ist das Regime. Wir wollen Wahrheit und Gerechtigkeit für Iran. Wir sind nicht auf der falschen Seite, deshalb sollten wir weitermachen.

Wie unterscheidet sich der aktuelle Protest von vergangenen, beispielsweise der grünen Bewegung 2009 oder von den Protesten im Jahr 2019?

Im Vergleich zu den früheren Protesten dauert diese Bewegung schon sehr lange an und ist übers ganze Land verteilt. Diese Diversität zeigt sich an den unterschiedlichen Minderheiten, Ethnien, Generationen und Arbeitergruppen, die gemeinsam gegen das unterdrückende Regime protestieren. 2019 ging es hauptsächlich um die Ölpreise, aber dieses Mal geht es um alles, was in diesem Land falsch läuft. Die Menschen wissen ganz genau, was sie wollen. Sie wollen keine Reformen, sie wollen einen kompletten Regime-Wechsel.

Wie könnte ein solcher Regime-Wechsel aussehen?

Wir Iraner haben alle einen Traum für das Land: Das ist ein liberaler Staat, in dem die Repräsentation und Rechte von Minderheiten gesichert ist. Für die iranischen Protestierenden ist es wichtig, diesen Wechsel friedlich und mit demokratischen Mitteln umzusetzen. Sie möchten demokratisch über ihre nächste Regierung bestimmen und ihre Repräsentanten eigenständig wählen. Einfach gesagt, wünscht sich die iranische Bevölkerung ein normales Leben. So, wie es auch im Westen möglich ist.

Gibt es aktuelle Daten, wie viele Iraner die Islamische Republik ablehnen?

Im Iran darf keine unabhängige Meinungsumfrage Daten erheben. Die Regierung führt ihre eigenen Umfragen durch und die Ergebnisse sind immer geheim. Daher ist es schwer, eine konkrete Zahl zu nennen. Es gibt jedoch einige Akademiker im Ausland, die solche Untersuchungen durchführen. GAMAAN ist eine unabhängige Forschungsgruppe mit zuverlässigen Quellen. Laut ihrer Umfrage aus dem Jahr 2021 halten 88 Prozent der iranischen Bevölkerung ein demokratisches politisches System für „ziemlich gut“ oder „sehr gut“ und 67 Prozent der Bevölkerung halten ein theokratisches System für „ziemlich schlecht“ oder „sehr schlecht". 28 Prozent bewerten eine religiöse Regierung als „gut“ und 76 Prozent der Bevölkerung sind gegen die Herrschaft der Armee. 72 Prozent sind zudem dagegen, dass das Staatsoberhaupt eine (schiitische) religiöse Autorität ist.
 

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Das iranische Mullah-Regime existiert seit der Islamischen Revolution 1979. Was bedeutet dieser langanhaltende Kampf für die Iraner?

Seit der konstitutionellen Revolution von 1905 kämpfen die Menschen im Iran für ein politisches System, das ihre Menschenrechte und ihre Würde schützt und bewahrt. Zum „normalen Leben“ gehört der Schutz der universellen Menschenrechte und eine Politik, die dies unterstützt, dazu. Die derzeitige aggressive Außenpolitik Irans resultiert in schwerwiegenden Sanktionen, die das Volk und nicht die Machtelite trifft. Die Menschen wollen, dass diese Art von Politik geändert wird.

Haben Sie Hoffnung, dass das Regime bald gestützt wird?

Ja, natürlich habe ich Hoffnung – wie alle Iraner. Gäbe es keine Hoffnung, gäbe es auch keine Proteste. Wegen der brutalen staatlichen Repressionen liegt aber noch ein langer Weg vor uns. Die gegenwärtigen Demonstrationen zeigen den starken Unmut der iranischen Bevölkerung und die gewaltvolle Antwort des Regimes beweist die tiefsitzende Kluft zwischen dem Regime und seiner Bevölkerung.

Sind Sie denn aktuell zufrieden mit der westlichen Außenpolitik?

Die westliche Appeasement-Politik gegenüber dem iranischen Regime, die seit 44 Jahren anhält, hat tiefgreifende Menschenrechtsverletzungen bewusst ignoriert. Bisher gab es kein Umdenken der diplomatischen Beziehungen zum Iran. Es ging jahrzehntelang nur um den Atomdeal und nicht um den Schutz der iranischen Bevölkerung – obwohl die westlichen Werte auf dem universellen Schutz der Menschenrechte basieren. Wenn Menschenrechte in Europa wichtig sind, dann sollten sie es auch im Iran sein. Diese Heuchelei und Scheinheiligkeit von Europa gegenüber Iran führte zu keiner positiven Veränderung. Erst seit den aktuellen Protesten sehe ich die nötige Solidarität mit der iranischen Bevölkerung.

Sara Bazoobandi / privat

Wieso hält Europa auf Basis seiner universellen Menschenrechte die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum diktatorischen Iran aufrecht? Manche iranische Aktivisten fordern ja die westlichen Staaten auf, die Botschafter des Iran auszuweisen.

Viele haben Angst, dass die Kommunikation zu Iran vollkommen abbricht, wenn wir die Botschafter aus Teheran zurückrufen. Doch die Kernfrage ist: Was haben wir denn bis jetzt überhaupt erreicht, um die politische Situation im Iran positiv zu verändern? Und was würden wir mit einer neuen politischen Strategie bewirken? Ich glaube, dass Europa gegenüber dem iranischen Regime eine klare Linie ziehen muss.

Wie sähe eine solche klare Linie aus?

Europa muss zu seinen Werten stehen und dem Regime zu verstehen geben, dass es keine weitere Beschwichtigung gegenüber Irans aggressiver Politik gibt. Die Hauptforderung der Iraner ist die Beendigung ihres Regimes. Wenn die europäischen Politiker der Meinung sind, dass ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen dabei nicht hilft, dann sollten sie zeigen, wie sie anderweitig ihre diplomatischen Kanäle für die iranische Forderung nutzen können. Schweigen und Beschwichtigung sind nicht das, was die Demonstranten von Europa erwarten.

Was würde es bedeuten, alle wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zum Iran abzubrechen?

Ich denke, das lässt sich vielleicht nicht schnell in unserem politischen Weltsystem umsetzen. Ich denke auch nicht, dass europäische Politiker für diese Umsetzung bereit sind. Das liegt vor allem daran, dass sie nicht davon überzeugt sind, dass ein politischer Systemwechsel im Iran möglich ist. Deshalb wollen sie das derzeitige Regime auch nicht verärgern. Ich behaupte, dass der Regime-Wechsel nicht schnell oder einfach sein wird, aber europäische Politiker könnten einen friedlichen Regime-Wechsel fördern, indem sie die Opposition in der Diaspora unterstützen. Das wäre ein starkes Signal an Teheran.

Wie könnte ein solches Signal genau aussehen?

Die europäischen Politiker sollen signalisieren, dass Europa genauso wie die iranische Bevölkerung dieses System klar ablehnt. Ein weiteres, wichtiges Signal ist die Unterstützung westlicher Länder bei der friedlichen Transformation Irans.

Meinen Sie, dass Signale allein ausreichen werden?

Ich denke schon, zumal es auch das zurzeit einzig politisch Umsetzbare ist, was die internationale Gemeinschaft tun kann. Die iranischen Demonstranten wollen weder Reformen noch eine militärische Machtübernahme durch die islamische Revolutionsgarde. Der Westen sollte das anerkennen und alles in seiner Macht Stehende tun, um dem iranischen Volk zu helfen. Denn die Iraner streben eine friedliche Transformation mit friedlichen Mitteln an. Das muss natürlich nicht heißen, dass hierauf die Antwort des Regimes genauso friedlich ist.

Sprechen Sie aktuell von einer Revolution im Iran?

Ein Kollege von mir sagte: „Wir sind in einem revolutionären Prozess.“ Und ich stimme dem zu. Eine Revolution besitzt eine Dringlichkeit und ein Ablaufdatum. Wenn die iranische Bevölkerung es nicht schafft, das Regime innerhalb kürzester Zeit auszulöschen, war ihr Vorhaben nur ein gescheiteter Fehlversuch. Hingegen benötigt ein revolutionärer Prozess Zeit und die Vereinigung unterschiedlicher Kräfte und Interessengruppen. Diese Vereinigung macht diesen revolutionären Prozess erst möglich. Die Aktivisten im Iran und im Ausland sind durch das System ernsthaft gefährdet. Die internationale Gemeinschaft muss sie unterstützen und alle möglichen Maßnahmen ergreifen, um die Iraner zu schützen.

Das Gespräch führte Lena Middendorf.

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