Konservative und Populisten - Wie die britischen Tories die Konkurrenz von Rechts besiegt haben

Die rechte Mitte verliert in Europa seit Jahren Wähler an Populisten vom rechten Rand. Wie das verhindert werden kann, zeigen seit Jahren die Konservativen in Großbritannien, dem einzigen großen europäischen Land, in dem rechtsextreme Parteien heute im Parlament keine Mandate haben.

Der britische Premierminister Rishi Sunak
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Wenn es den Parteien der rechten Mitte, die für Jahrzehnte für Ausgleich und behutsame Reform standen, schlecht geht, ist das ein Menetekel für die liberale Demokratie – so die These des Politikwissenschaftlers Thomas Biebricher in seinem jüngsten Buch „Mitte/Rechts“. Tatsächlich verliert die rechte Mitte in Europa seit Jahren Wähler an Populisten vom rechten Rand. An Wahltagen liegen immer öfter extreme Gruppen vorne. 

In Frankreich kam die Kandidatin von Les Républicains, einst die Partei Jacques Chiracs, bei den letzten Präsidentschaftswahlen nicht einmal auf fünf Prozent der Stimmen. In Österreich sagen Umfragen der Freiheitlichen Partei für die nächsten Nationalratswahlen ein besseres Ergebnis voraus als der bürgerlichen ÖVP. Und in Italiens Regierungskoalition ist Forza Italia, die im EU-Parlament wie auch die CDU zur Europäischen Volkspartei gehört, nur noch der Juniorpartner von Lega und den Brüdern Italiens. Auch in Spanien ist der Volkspartei mit Vox ein ernster Konkurrent am rechten Rand des Parteienspektrums erwachsen. 

Ein Mittel gegen die Konkurrenz hat auch in Deutschland noch niemand gefunden. Friedrich Merz versprach zwar, die Wählerschaft der AfD zu halbieren. Inzwischen sehen Umfragen die Alternative für Deutschland bei mehr als 20 Prozent, und der CDU-Vorsitzende merkt ernüchtert an, eine „Zauberformel“ im Kampf gegen die Konkurrenz von rechts gebe es nun einmal nicht. Dabei ist Zauberei nicht nötig, um Rechtspopulisten und politischen Extremisten die Wählerschaft zu entziehen. Wie es geht, zeigen seit Jahren die Konservativen in Großbritannien, dem einzigen großen europäischen Land, in dem rechtsextreme Parteien heute im Parlament keine Mandate haben. 

Sprung von UKIP ins Parlament schien ausgemachte Sache zu sein

Dabei sah es lange Zeit auch an der Themse so aus, als wäre der Sprung einer rechtspopulistischen Partei ins Parlament in Westminster ausgemachte Sache. UKIP, ideologisch am äußersten rechten Rand zuhause, gewann 2014 bei den Europawahlen mehr Stimmen als die etablierte Konkurrenz. Im Sommer 2019 sahen die Times und der Observer in Umfragen Labour und die Tories abgeschlagen hinter der nicht minder radikalen Brexit-Partei. 

Das Mehrheitswahlrecht, das kleinen Parteien keine Chance gibt, schien kein Hindernis für Nigel Farage, einem begnadeter Agitator, der zunächst UKIP und später die Brexit-Partei als Vorsitzender zur jeweils populärsten Partei im Land machte. Seine These: Eliten an den Schalthebeln in Westminster scheren sich nicht darum, wie es den Menschen im Land geht. Als Demagoge sieht er das Volk verraten und den Staat ausverkauft von einem Establishment, das die Macht zum eigenen Vorteil missbraucht. 

Der charismatische Farage bestimmte lange mit seinen Botschaften in Zeitungen und sozialen Medien die Diskussion im Land. Seine Klientel, Wähler, die sich von linken Meinungsmachern und der liberalen Führungsschicht vergessen, verhöhnt und verraten fühlen, sind heute so wütend wie zuvor. Nationaler Bedeutungsverlust, Wirtschaftskrise und der dramatischste Rückgang der Haushaltseinkommen seit 70 Jahren spielen Farage in die Hände. Dennoch sind seine Parteien – inzwischen hat er die Brexit-Partei in Reform UK umbenannt – in den vergangenen vier Jahren zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Viele Menschen wechselten 2019 zu den Konservativen, die frustrierte und radikalisierte Wähler ernst zu nehmen begannen. 

Das war nicht immer so. Noch 2006 hatte der Tory-Vorsitzende David Cameron im Gespräch mit dem Londoner Radiosender LBC erzählt, für ihn sei UKIP ein „Haufen Verrückter und verkappter Rassisten“. Mit solcher Geringschätzung und Verachtung ließen sich verlorene Wähler nicht zurückgewinnen, glaubte Boris Johnson

Tories schlugen den richtigen Ton an

Seit er den Parteivorsitz 2019 übernahm, schlugen die Tories den richtigen Ton an und machen auch unter seinem Nachfolger Rishi Sunak den Anhängern Farages ein attraktives Angebot: keine teuren Experimente beim Klimaschutz, Entideologisierung der Transgenderdebatte, Bekämpfung illegaler Migration und schließlich die Selbstverständlichkeit, dass nationale Interessen abweichen können von den Erwartungen der europäischen Nachbarn. 

Die Themenwahl hatte Erfolg. Auf nur zwei Prozent kam Farages Partei bei den letzten Wahlen, während die Tories den größten Wahlsieg seit den Tagen Margaret Thatchers feierten. 

 

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Den Preis für diesen Erfolg sieht der Kolumnist Jonathan Freedland darin, dass die Konservativen im Ringen um Wählerstimmen selbst zu einer rechtspopulistischen Partei geworden seien. Andere Kritiker beklagen, nach dem Vorbild Donald Trumps und Viktor Orbans hätten sich die britischen Konservativen dem Kampf gegen die Institutionen des Landes verschrieben. Zu diesen Kritikern gehört Andrew Rawnsley von der Sonntagszeitung Observer. Er zählt auf, wie die Tories obersten Richtern drohten, Beamte verunglimpften, die BBC befehdeten, die Rechtsstaatlichkeit diskreditierten und den Rat der Wissenschaft ignorierten. Und schließlich trügen sie die Schuld am Brexit, dem EU-Austritt, den sich einst auch Marine Le Pen für Frankreich wünschte. 

Dabei übersehen Kritiker, dass sowohl David Cameron als auch Theresa May, seine Nachfolgerin in Downing Street 10, seinerzeit für einen Verbleib in der EU warben. Den Wählern die Freiheit einzuräumen, per Referendum über die Zukunft ihres Landes selbst zu entscheiden, kann kaum als Anschlag auf die liberale Demokratie gelten. Zudem behauptet heute kein seriöser Beobachter, dass die Freiheit von Wissenschaft, Rundfunk oder Gerichten durch die Regierung in London tatsächlich eingeschränkt worden wäre. 

Ideologie der Wokeness 

Vielmehr geht es den Konservativen darum, eine angemessene Antwort auf ein Phänomen zu finden, das Matthew Goodwin in seinem Buch „Values, Voice and Virtue“ beschreibt. Goodwin hat eine internationalistische Elite aus Akademikern und Professionals in den Großstädten ausgemacht. Die habe mit radikalen progressiven Ansichten zur Migration, sexuellen Minderheiten und nationaler Identität Kontrolle über politische, ökonomische und kulturelle Institutionen gewonnen und zwinge der Mehrheit nun ihre Ideologie der Wokeness auf. 

Empört und frustriert darüber sind vor allem Personen aus bildungsfernen Gruppen mit geringen beruflichen Möglichkeiten sowie Menschen auf dem Land, denen die multikulturellen Gepflogenheiten der Metropolen fremd sind. Dieser Wähler wende sich ab, erklärt Goodwin, oder mache seinen Protest mit einer Stimme für die Rechtspopulisten deutlich. 

Tories haben ein offenes Ohr für besorgte Bürger

Für diese Erwartungen und politischen Wünsche dieser Klientel hätten die Tories nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Luke March immer wieder ein offenes Ohr gehabt. Das jüngste Beispiel dafür ist das neue Polizeigesetz. Darin droht der Staat radikalen Klimaschützern, die sich auf Hauptverkehrsstraßen festkleben, mit einer unbegrenzten Geldbuße oder Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten. Ins selbe Bild passt die Reduzierung der internationalen Entwicklungshilfe von 0,7 auf 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Das entspricht dem Willen der Bürger, deren Mehrheit auch jetzt noch Ausgaben für Entwicklungshilfe für zu großzügig hält und das Geld lieber im eigenen Land investiert sähe. An zweiter und dritter Stelle unter den Einsparwünschen der Wähler stehen nach Information der Meinungsforscher von Yougov Sozialleistungen und Investitionen in den Umweltschutz. 

Auf den Willen ihrer Wählerklientel konnte sich auch Theresa May beziehen, als sie im Innenministerium nach dem Wahlsieg 2010 ihre Beamten damit beauftragte, illegalen Flüchtlingen im Land das Leben so schwer zu machen, dass die freiwillig wieder abreisten. Laut Jahresbericht des Oxford Migration Observatory will eine Mehrheit der Befragten auch heute weniger Zuwanderer. 

„Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau“

Die Stimmung unter Wählern der Rechten traf Rishi Sunak auf dem jüngsten Parteitag in Birmingham mit seinem Kommentar zur Transgenderdebatte. Niemand solle sich einreden lassen, er könne das Geschlecht frei wählen: „Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau. Das sagt uns der gesunde Menschenverstand.“ Sprecher der Transgender-Community waren empört und nannten die Zeilen „abscheulich“, während die Mehrheit der Wähler laut Yougov dem Premierminister zustimmte. Daraus schließt der Parteienforscher Tim Bale, dass die Tories sich dem „autoritären Populismus“ verschrieben haben.

Der Vorwurf trifft eine Partei, die seit ihrer Gründung vor knapp 200 Jahren die respektable rechte Mitte darstellt. Anders als Konservative auf dem Kontinent stimmten die Tories schon im 19. Jahrhundert für die Ausweitung des Wahlrechts und führten im 20. Jahrhundert Großbritannien in eine Staatenallianz gegen totalitäre Ideologien und diktatorische Regime. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt David Maxwell Fyfe, ein konservativer Abgeordneter im Unterhaus, als Geburtshelfer der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe kam 2013 auf Initiative David Camerons zustande, und als neun Jahre später Rishi Sunak Regierungschef wurde, war seine indische Abstammung niemandem in seiner Partei eine kritische Bemerkung wert. 

Mit Victor Orbans illiberaler Demokratie haben die Tories nichts zu tun

Sunak, ein Brexiteer, ist um den Schulterschluss mit den Partnern auf dem Kontinent bemüht und die Zusammenarbeit in der Europäischen Politischen Union. Damit bleibt die Partei der Tradition Churchills treu: Partnerschaft mit den europäischen Nachbarn, Freundschaft mit den USA und uneingeschränkte Bündnistreue in der Nato. 

Boris Johnson besuchte Kiew schon kurz nach dem russischen Überfall und lieferte in den ersten Kriegsmonaten mehr Waffen an die Ukraine als irgendein anderes europäisches Land, während die extreme Rechte von Marine Le Pen in Frankreich bis zu Italiens Matteo Salvini von der Lega ihre freundschaftlichen Kontakte mit Wladimir Putin nur widerwillig kappte. 

Religiöse Toleranz, Minderheitenrechte, Aufstiegschancen für Migranten und während der Pandemie eine rasche Impfkampagne statt Verschwörungstheorien sind bei den Tories unumstritten. Mit Jaroslaw Kaczynski und Victor Orbans illiberaler Demokratie hat man in der Matthew Parker Street, dem Londoner Hauptquartier der Partei, nichts zu tun. Darin liegt die Stärke der britischen Konservativen: Den politischen Konkurrenzkampf mit Rechtsaußen traut sich die Partei zu, weil sie sich ihrer weltanschaulichen Ausrichtung in der respektablen rechten Mitte so sicher ist.

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