Großbritannien - Das gefürchtete Wort vom „Declinism“

Großbritannien strebt nach dem Austritt aus der EU nach alter Größe und hadert gleichzeitig mit verbreiteten Abstiegsängsten. Bericht aus einer Nation zwischen kulturellem Baum und ökonomischer Borke.

Zur Krönung von Charles fühlte sich Großbritannien zuletzt so richtig britisch / dpa
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Jedes Jahr Anfang September pilgern sie in den Londoner Hyde Park. Sie kommen mit bemalten Gesichtern in den Farben des Union Jack, Fahnen und skurrilen Hüten, um dabei zu sein bei der Last Night of the Proms, dem Abschluss und Höhepunkt des jährlichen Musikfestivals, den Promenadenkonzerten der BBC. Dann haken sich 45 000 Menschen unter und singen mit Verve zu den patriotischen Hymnen von Edward Elgar und Thomas Arne.

Auf dem Großbildschirm im Park sind Chor und Solisten zu sehen, die in der Royal Albert Hall einen vergangenen Garten Eden besingen, England lyrisch mit dem himmlischen Jerusalem vergleichen und gemeinsam mit Tausenden Kehlen ein Britannien beschwören, das einst die Wellen der Ozeane beherrschte. Die Kameras zeigen glühende Gesichter, und der Zuschauer erlebt einen entfesselten Volkschor, unter den sich jedes Jahr auch anglophile Touristen von jenseits des Ärmelkanals mischen, deren Wimpel und Flaggen als goldene, grüne oder schwarze Farbtupfer erscheinen im weiß-rot-blauen Fahnenmeer. Es ist ein Fest, bei dem sich Briten gemeinsam mit ihren Freunden und Gästen berauschen an sich selbst. Für einen Abend lang scheint es so einfach, britisch zu sein. 

Tony Blair wollte Großbritannien cool machen

Die Neigung seiner Landsleute zur Nostalgie – ihre sentimentale Begeisterung für die letzte Nacht der Proms ebenso wie ihre Freude an royalem Gepränge – beschreibt der Journalist Doug Anderton in Jonathan Coes Roman „Middle England“ als die „englische Krankheit“, vergleichbar einem Hangover. Während andere im Feiern der Vergangenheit nichts Schlimmes erkennen wollen und von Traditionspflege nationale Sinnstiftung erwarten, warnt der Satiriker Coe.

Der Blick zurück verstelle die Sicht auf die Gegenwart. Tony Blair wollte 1997 nicht Premierminister eines Landes sein, das vielen Menschen in der Welt als großes Freilichtmuseum erschien – mit Burgen und Schlössern, unförmigen schwarzen Taxis, roten Doppeldeckerbussen und Richtern mit wallenden Perücken. Das zur Schau gestellte nationale Erbe hielt er für hinderlich in einem Land, das mit einer boomenden Finanzbranche, Britpop, extravaganten Modedesignern und Spitzenforschung international um die klügsten Köpfe konkurrierte. 

 

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Blair vermied es, sich vor historischen Kulissen fotografieren zu lassen, widmete das Ministerium für Nationales Erbe kurzerhand der Kultur, den Medien sowie dem Sport und startete die Markenkampagne „Cool Britannia“, die dem Inselstaat zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein zeitgemäßes Image verpassen sollte.

Die Angst vorm Abstieg

Die konservativen Verteidiger alter Gewohnheiten und Rituale waren empört. Das erfuhr die Fluglinie British Airways, die sich der Kampagne anschloss, indem sie die vertraute Nationalflagge auf den Heckflossen mit einem originellen Ethnomuster ersetzen wollte. Bei einer Präsentation des neuen Designs verhüllte eine missmutige Lady Thatcher mit ihrem Taschentuch den Blick auf die Modellflieger. Das war deutlich. John Major, Premierminister in den 1990ern, der sich bis heute in die politische Debatte einmischt, wenn ihm das Thema wichtig genug erscheint, sprach für viele Traditionalisten, als er trotzig voraussagte, dass auch in 50 Jahren Britannien noch das Zuhause von Cricket und warmem Bier sein werde, mit grünen Vorstädten und Hundeliebhabern; das Land – ­George Orwell zitierend –, wo alte Jungfern im Frühnebel mit dem Fahrrad zur Heiligen Kommunion radelten.

Die Traditionalisten und Reformer, die sich in der politischen Debatte immer wieder gegenüberstehen, streiten darüber, was als britisch zu gelten hat, was die Nation ausmacht, ihre Werte und Identität. In diesem Ringen treibt beide Seiten dasselbe Anliegen. Es geht um Bedeutung, Status und Ansehen Großbritanniens. Und eine Sorge: Das Land könnte den Anschluss verpassen gegenüber Europa und im Wettbewerb mit den globalen Mächten in Ost und West. Dieses Szenario eines Landes, das im historischen Zyklus von Aufstieg, Stagnation und Verfall die letzte Stufe erreicht hat, ist seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute der Albtraum und gleichzeitig die prägende Psychose britischer Politik. Sie bestimmt die Strategie politischer Entscheider und verfehlt ihre Wirkung auf die Wähler nicht.

Es fühlt sich an, als renne jemand unentwegt davon, so wie der Protagonist eines Horrorfilms einem Geist zu entkommen versucht. Wer sich auf die Suche macht nach dem roten Faden in der politischen Kultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit, der stößt auf einen toxischen Begriff, der seinen Weg gefunden hat in das politische Wörterbuch: Es ist das gefürchtete Wort vom „Declinism“, Niedergang. Peter Hitchens gilt als Barde derer, die seit Jahren den nationalen Abstieg beklagen.

Truss' Ansatz scheiterte schon einmal

Der Chronist britischer Zeitgeschichte und Journalist bei der Tageszeitung Mail on Sunday sorgte vor mehr als 20 Jahren mit seinem Buch „The Abolition of Britain“ für Aufsehen – die Abschaffung Britanniens. Darin seziert er, was seit dem Tod Winston Churchills im Jahr 1965 in seinem Land alles in die falsche Richtung läuft. Vor allem die alte Härte gegenüber Widrigkeiten vermisst er und beklagt eine Weinerlichkeit und schmalzige Sentimentalität bei seinen Landsleuten, die in den Gefühlsausbrüchen beim Tod Prinzessin Dianas erstmals sichtbar wurden.

Das Ankämpfen gegen den vermeintlichen Niedergang leitet auch immer wieder die politischen Entscheidungen in beiden politischen Lagern. Wer an der eigenen Stärke zweifelte, wollte das Land im sicheren Hafen der Europäischen Gemeinschaft sehen. Andere, Hitchens zählt dazu, kamen zum Schluss, dass eine Umkehr und Besinnung auf die eigene Kraft die Rückgewinnung uneingeschränkter nationaler Souveränität erfordere. Das Volk finde zu seiner Stärke, wenn es von der Gängelung durch Eliten in London und in Brüssel befreit werde.

Allister Heath sah das ähnlich. Der Journalist feierte im vergangenen Jahr auf den Seiten der Zeitung Daily Telegraph Liz Truss als Kämpferin gegen die Prediger des Niedergangs. Ihr gebühre Anerkennung, weil sie als Außenseiterin die erfolglose Kaste etablierter Bürokraten herausfordere, die Rezepte orthodoxer Steuer- und Finanzpolitik zerriss und antrat, mit radikaler Fiskalpolitik die Volkswirtschaft zum Erfolg zu zwingen. Heath lag falsch, Truss scheiterte an der Realität, und nach nur 44 Tagen war ihre Regierung Geschichte. Weiter aber geht die Suche konservativer Kreise nach der politischen Heldenfigur, die Großbritannien vom Fluch relativen ökonomischen Niedergangs befreit.

Wie die Briten wieder zu globaler Geltung kommen wollen

Das jüngste Ansinnen der Regierung, bis Ende dieses Jahres 4000 EU-Gesetze zu streichen, ist ebenfalls so zu verstehen: Radikale Abkehr vom Regelwerk der Europäischen Union soll der Nation endlich die Brexit-Dividende garantieren, die Volkswirtschaft auf die Wachstumsspur führen und den schlafenden britischen Riesen wecken. Welches Potenzial in ihm steckt, hatte das Land während der Pandemie gezeigt, als es den ersten Covid-Impfstoff vor anderen westlichen Ländern zuließ.

Gavin Williamson, der ehemalige Bildungsminister, hatte es kommen sehen: „Mich wundert es nicht. Schließlich sind wir ein viel besseres Land als etwa Belgien oder Frankreich oder Amerika.“ Mit dieser Direktheit mag er den einen oder anderen auf dem Kontinent irritiert haben. Aber das Gespenst nationaler Talfahrt ließ sich so mal wieder aus den Köpfen der eigenen Landsleute vertreiben.

Williamsons Formulierungen sind eigenwillig. Mit seinen hochfahrenden Ambitionen für Großbritanniens Status in der Welt steht er allerdings nicht allein. Was das Vereinigte Königreich international erreichen will, findet sich in „Global Britain“. So heißt der außenpolitische Masterplan, der die neuen militärischen Aufgaben und diplomatischen Ziele bestimmt und die Ressourcen beschreibt, die für ehrgeizige weltweite Politik zur Verfügung stehen. Andrew Rosindell sieht darin nichts weniger als die Blaupause für die Rückkehr Großbritanniens zu jener prominenten Rolle, der es während der Jahre seiner EU-Mitgliedschaft entsagen musste. Der konservative Abgeordnete Rosindell spricht für die Traditionalisten im Post-Brexit-England – erzkonservativ, populistisch und mit ausgeprägtem Hang zum überschäumenden Patriotismus.

Mit allen Mitteln gegen den Niedergang

Seit 20 Jahren sitzt Rosindell auf den hinteren Bänken des Unterhauses für einen Wahlkreis im Osten Londons. Es ist kein Zufall, dass er an kalten Tagen seinem Bullterrier eine Weste mit dem Muster der britischen Flagge überzieht. Es scheint, als wolle er Sorgen um den Status Großbritanniens in der Welt, Gerede über Abstieg oder Zweifel an der Zukunft mit dem Union Jack exorzieren. Dutzendfach weht die Landesfahne vor seiner Geschäftsstelle, flattert an Masten im Vorgarten, hängt an Fassaden und von Fensterrahmen, ist über Türen gespannt und in den Büroräumen drapiert. Es ist ein Zeugnis skurrilen Geschmacks oder ein überdrehter Versuch nationaler Selbstvergewisserung.

Ihr geschmücktes Domizil hier im östlichen Londoner Stadtteil Havering haben die Tories „Margaret-­Thatcher-Haus“ getauft. Zwar liegt die Amtszeit der 2013 verstorbenen Eisernen Lady mehr als 30 Jahre zurück. Die Warnungen am Vorabend ihrer Wahl zur Premierministerin 1979 gelten Rosindell und Gleichgesinnten aber bis heute als politisches Vademekum: Die politische Wende sei nötig, appellierte sie an ihre Wähler, „sonst wird unsere große Nation bald bloß noch eine Fußnote sein in den Geschichtsbüchern, eine entfernte Erinnerung einer Insel im Meer, vergessen im Nebel der Zeiten, wie Camelot, bestenfalls erinnert für seine noble Vergangenheit.“ In den folgenden Jahren war sie besessen von der Idee, das Dahinschwinden Großbritanniens aufzuhalten, dem Land eine neue Richtung zu geben. Dafür war ein Fanal nötig, eine Machtdemonstration.

Die Gelegenheit bot sich, als 1982 argentinische Invasionstruppen die britischen Falklandinseln im südlichen Atlantik besetzten und Thatcher ihren Streitkräften die Rückeroberung befahl. Für die Premierministerin galt der schwer errungene militärische Triumph als Tadel an diejenigen, die vom unabwendbaren Verfall britischer Handlungsfähigkeit redeten: „Im Krieg um die Falklandinseln hat diese Nation bewiesen, dass sie nichts von jenen alten Stärken verloren hat, die sie durch ihre Geschichte hindurch auszeichneten. (…) Kompetenz, Mut und Entschlossenheit.“ Dafür gilt sie bis heute denen als Ikone, die Zweifel an nationaler Stärke als Miesmacherei abtun.

Zwischen Weltmacht und Bescheidenheit

Thatcher setzte den Ton für alle, denen das „Great“ im Namen Britanniens wichtig ist. Zu denen zählt auch Boris Johnson, der warnende Experten für Defätisten hält und ihnen ausrichtet: „Wer gegen das Vereinigte Königreich wettet, verliert sein Hemd.“ Die Entscheidung Johnsons, der Ukraine gegen den russischen Angriff ohne Zögern mit militärischer Hilfe beizustehen, erinnerte Kommentatoren nicht zufällig an Winston Churchills Kampf gegen Faschismus und für die Freiheit Europas. 

Großbritannien gilt in der Nato als schlagkräftigster Partner. Die Finanzierung der Streitkräfte lässt sich das Schatzamt etwa 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten. Dennoch hat nostalgische Wehmut längst auch die Diskussion um die Landesverteidigung erreicht. Noch nie ist die Royal Navy so klein gewesen wie heute, beklagt der Verteidigungsausschuss in seinem Jahresbericht.

Wie bescheiden man in London geworden ist, zeigte sich beim Bau der jüngsten Flugzeugträger: Als das Geld knapp wurde, diskutierten die Beamten im Verteidigungsministerium, die Schiffe gemeinsam mit Frankreich zu nutzen, um Betriebskosten zu sparen. Dass weltpolitische Ambitionen und machtpolitische Realität im Missverhältnis stehen, erlebte auch die Besatzung des Flugzeugträgers Queen Elizabeth. Zur Demonstration ihrer globalen Ansprüche ließ die Regierung das Schiff im Südchinesischen Meer kreuzen – umgeben von den 360 Kriegsschiffen der chinesischen Volksbefreiungsarmee.

Chauvinistische Hysterie

Wie sehr sich die geopolitischen Gewichte verschoben haben, daran erinnern Berichte über die Unterdrückung der Menschenrechte in Hongkong. Im Regierungsviertel Whitehall macht sich niemand Hoffnung, bei den Behörden in Peking erfolgreich die Einhaltung der Freiheitsrechte einfordern zu können, zu denen sich die chinesische Seite bei der Rückgabe der Kronkolonie 1997 verpflichtet hatte. Diese prosaische Realität ist besonders schlecht gelitten bei denjenigen, deren verquerer Blick auf die Dinge sich bis heute aus der folkloristischen Aufbereitung vergangener militärischer Erfolge speist.

Als britische Muskelspiele gegenüber der Europäischen Union ihren Höhepunkt erreichten, verstieg sich ein hysterisch aufgedrehter Jacob Rees-Mogg auf dem Parteitag der Konservativen zu einer verblüffenden Erklärung der Brexit-Verhandlungen mit dem EU-Unterhändler Michel Barnier: „Das ist Waterloo! Das ist Agincourt! Das ist Crecy! Dabei sind wir immer die Sieger.“

Versponnene historische Schwärmerei lässt vor allem Traditionalisten wie Rees-Mogg in der konservativen Parlamentsfraktion auf chauvinistischem Terrain irrlichtern. Das erfuhr die spanische Regierung, als sie über den Status der britischen Kronkolonie Gibraltar am Südzipfel der Iberischen Halbinsel verhandeln wollte. Prompt forderte Michael Howard, Mitglied des Oberhauses und ehemaliger Vorsitzender der Konservativen, Premierministern Theresa May auf, Gibraltar ebenso entschlossen zu verteidigen wie 35 Jahre zuvor Thatcher die britische Hoheit über die Falklands.

Ein Zwerg gegenüber den USA

Wenn der Konflikt heiß wird und über Wortgefechte und rhetorische Drohungen hinausgeht, dann richtet sich der Blick von London aus immer fragend in Richtung der amerikanischen Hauptstadt. Aller Rhetorik von einer Rückkehr auf die Weltbühne zum Trotz: Seit Jahren findet sich das britische Militär immer wieder in der Rolle von Hilfstruppen der Vereinigten Staaten. Wie es um das Kräfteverhältnis heute steht, offenbarte sich vor zwei Jahren: „Ohne die Unterstützung der USA können wir den Flughafen von Kabul nicht länger halten“, teilte im August 2021 das britische Verteidigungsministerium mit, als die Zeit für die Evakuierung eigener Staatsbürger und Regierungsmitarbeiter aus der umkämpften afghanischen Hauptstadt knapp wurde.

Überhaupt ist das Verhältnis zu den USA längst ein Symbol für die eigene Verzwergung, für das Schrumpfen auf der internationalen Bühne. Sicher, die Kommentatoren in national gesinnten Londoner Redaktionen wollen das so nicht sehen. Sie beschwören auch in diesen Tagen wieder die Special Relation­ship, das besondere Verhältnis, mit dem wichtigsten Freund und engsten Verbündeten. Die innige Beziehung beider Länder reicht zurück in die dunkelsten Tage des Zweiten Weltkriegs, als sich Winston Churchill mit Amerikas Präsident Franklin D. Roosevelt traf, um den gemeinsamen Kampf gegen Nazideutschland zu planen. 

Schon damals wäre das Ungleichgewicht zu erkennen gewesen. Großbritannien, noch Weltreich mit Hoheit über den indischen Subkontinent, bettelte förmlich um finanzielle und militärische Hilfe. Harold Macmillan, Regierungschef in den 1960er Jahren, versuchte das Bild mit einer Neuinterpretation ins Lot zu bringen, als er für den Umgang mit den USA die Parabel von der Beziehung zwischen den antiken Metropolen Athen und Rom bemühte. Die einen hätten die Macht, so Macmillan, die anderen seien die Hüter der Kultur. 

Gibt es die Special Relationship überhaupt noch?

Die Allianz zwischen George W. Bush und Tony Blair, der gegen den Massenprotest seiner eigenen Wähler gemeinsam mit dem Amerikaner 2003 das Kommando zum Einmarsch in den Irak gab, und zuvor das symbiotische Verhältnis zwischen Ronald Reagan und Margaret Thatcher galten lange als Beleg fortwährender internationaler Bedeutung. In welcher Reihenfolge sich amerikanische Präsidenten nach der Amtsübernahme mit ihren Verbündeten telefonisch ins Benehmen setzen, ist Londoner Nachrichtenportalen hartnäckige Recherche und den Abendnachrichten auch heute noch ausführliche Analyse wert.

Umso bitterer empfand man es in Westminster, als Ende vergangenen Jahres die Semantik aus dem Lot geriet. Gastgeber Joe Biden erinnerte im Dezember seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron beim Besuch im Weißen Haus öffentlich daran, dass Frankreich Amerikas ältester Verbündeter sei. Es half dem Selbstbewusstsein britischer Außenpolitiker ebenso wenig, als die Los Angeles Times davon berichtete, dass Barack Obama mit Angela Merkel ein viel vertrauensvolleres Verhältnis gepflegt haben soll als mit dem britischen Regierungschef David Cameron, der ihn gelegentlich im Tischtennis und Basketball herausforderte.

Boris Johnson wollte sich die Qual des kritischen Vergleichs ersparen und verriet Journalisten, er möge den Begriff von der Special Relationship nicht. Er klinge „schwach und bedürftig“ und – hätte Johnson hinzufügen können – ermuntert zunehmend zu ironischen Fragen über Stand und Entwicklung der ungleichen Freundschaft.

Tödliche Sparmaßnahmen

Großbritanniens Rolle in der Welt ist vermutlich nicht die größte Sorge für die sieben Millionen Patienten, deren Namen derzeit auf der Warteliste für einen Krankenhaustermin stehen. Im Dezember mussten laut Statistik rund 55 000 Menschen in den Notaufnahmen der überlasteten Kliniken mehr als zwölf Stunden Geduld aufbringen, bis ein Arzt sich um sie kümmerte. Und wer mit akutem Herzinfarkt den Notruf kontaktiert, der ist gewöhnlich noch knapp eine Stunde auf sich alleine gestellt, bis ein Krankenwagen vorfährt.

Das seien Covid-Nachwehen, sagen die einen. Aber Mike Adamson, Direktor des britischen Roten Kreuzes, erkannte schon vor der Pandemie in dem maroden staatlichen Gesundheitssystem NHS den Beleg für eine „humanitäre Krise“ auf der Insel. Das sagte er auch öffentlich und traf damit den Nerv derer, die Defätisten und Schwarzmaler für das schlimmste Übel der Nation halten. „Man kann uns doch nicht mit Syrien oder dem Jemen vergleichen“, ätzte die Konservative Sarah Wollaston, die einst dem Gesundheitsausschuss vorsaß. 

Das war 2017. Seither hat sich die Lage verschlechtert. Es fehlt nicht nur an kompetentem Management, sondern auch an Geld. In den Jahren, als Deutschland Haushaltsüberschüsse verbuchte, verordnete die Regierung Cameron ihrem öffentlichen Dienst eine drakonische Sparpolitik, um das aus­ufernde Defizit zu zügeln. Krise und Inflation treffen seit 2022 vor allem die privaten Geldbörsen. Die Statistikbehörde meldet den größten Verlust an Kaufkraft seit der Nachkriegszeit. 

Schottland und Nordirland laufen davon

Die Ironie ist nicht zu übersehen: Gerade die Konservativen, die den Kampf gegen den nationalen Niedergang zu ihrer weltanschaulichen DNA gemacht haben, führen das Land seit 13 Jahren durch eine Dauerkrise. Das Narrativ vom kriselnden England befeuert die Absetzbewegung Schottlands. Die Anführer der Schottischen Nationalpartei (SNP) halten die politische Kaste in London für abgewirtschaftet und wollen ihre Landsleute in einem Referendum über eine eigenständige nationale Zukunft abstimmen lassen. Demoskopen sagen, dass knapp die Hälfte der Wähler den Bruch mit England unterstützt.

Noch Ende der 1990er Jahre – damals boomte die Volkswirtschaft, in London regierte mit Tony Blair ein populärer Premierminister und das Land war fest in der EU verwurzelt – scherzten allenfalls um eine Pointe bemühte Fremdenführer mit ihren Gästen darüber, dass Schottland dereinst seine vor drei Jahrhunderten verloren gegangene staatliche Eigenständigkeit wiedererlangen könne. Die Idee war kurios, mehr nicht. Im Jahr 1998 gestand die Regierung in London den Schotten ihr eigenes Parlament mit Regionalregierung zu, die seit 2007 von der SNP angeführt wird. 

Die nationalen Fliehkräfte wachsen seither spürbar und machen sich auch in anderen Landesteilen bemerkbar. In Nord­irland stehen sich die britischen Loyalisten und Gegner des Vereinigten Königreichs in tiefem Misstrauen gegenüber. Katholiken sehen sich ihrer Chance näher denn je, die Provinz Ulster mit der Republik Irland zu vereinen. Seit den Regionalwahlen im Frühjahr 2022 hält ihre Partei Sinn Féin die meisten Sitze im Provinzparlament in Belfast.

Die britische Identität bröckelt

Ohne Schottland und Irland wäre Wales nur noch ein kleines Anhängsel Englands. Schon jetzt klagen die Waliser, ihre Stimme werde in London überhört oder nicht ernst genommen. Für die Unabhängigkeit ihrer Nation sprechen sich in Umfragen zwischen 40 und 50 Prozent der Wahlberechtigten aus. Das mag auch daran liegen, dass es immer mal an Fingerspitzengefühl im Umgang mit dem westlichen Nachbarn mangelt. Als bei der Fußballweltmeisterschaft die Mannschaften von Wales und England gegeneinander antraten, drückte Prinz William öffentlich England die Daumen, dessen Fußballverband er als Präsident vorsitzt. Dass er mittlerweile als Prinz von Wales Cheerleader der Menschen zwischen Cardiff und Bangor hätte sein sollen, ging offenbar vergessen. 

Das Vereinigte Königreich ist in seinem Bestand gefährdet, wenn Briten lieber Schotten, Waliser, Nordiren und Engländer sein wollen. Aber auch innerhalb der vier Nationen wachsen die Verwerfungen in einer hypermultikulturellen Gesellschaft. In mehreren Städten, darunter Birmingham, Luton und Leicester, sind Briten europäischer Abstammung inzwischen in der Minderheit. Die Nachkommen von Einwanderern aus Afrika, der Karibik und Südasien stellen immer lauter kritische Fragen zur kollektiven Erinnerungskultur und zeigen wenig Sympathie für das nationale britische Erbe.

Inzwischen beben sogar die Sockel, auf denen die Statuen Winston Churchills bisher noch fest ruhten. Die Kuratoren von Chartwell House, ehemals das Wohnhaus und heute die Gedenkstätte des Kriegspremiers, warnen jetzt vor Churchills rassistischen und imperialistischen Ansichten. Die Black-Lives-Matter-Bewegung fordert eine Entkolonialisierung britischen Kulturguts. Traditionalisten wie Kulturminister Oliver Dowden sehen darin einen Angriff auf „einen unserer größten Helden, der die freie Welt zum Sieg über den Faschismus führte“. Boris Johnson kündigte an, die Statue von Churchill vor dem Parlamentsgebäude persönlich gegen Angriffe zu verteidigen. Der Konflikt – so fürchten Traditionalisten – sei eine weitere gefährliche Schwächung der identitätsstiftenden Bande, die das Land bisher zusammengehalten haben.
Für den September hat die BBC wieder zum Abschluss ihrer Promenadenkonzerte in den Hyde Park geladen. Tausende werden kommen und feiern. Einen Abend lang scheint es wieder so einfach, britisch zu sein.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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