George Friedmans Blick auf deutsche Waffenlieferungen - „Es ist gefährlich, reich und schwach zu sein“

Kann die Bundesrepublik tatsächlich nicht mehr Waffen an die Ukraine liefern, oder will sie sich wegen der Energiekrise nicht mit Russland anlegen? George Friedman, einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten, blickt mit Unmut auf die deutschen Zustände und sagt: Die Nato hätte von Berlin mehr Verantwortungsbewusstsein erwarten müssen.

Soldaten des Wachbataillons der Bundeswehr am Bendlerblock, dem Sitz des Bundesministeriums der Verteidigung / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Die deutsche Außenministerin hat diese Woche angedeutet, dass Deutschland nicht mehr eigene Waffen in die Ukraine schicken könne, weil es selbst nur über unzureichende Vorräte verfügt. Wenn diese Geschichte wahr ist, bedeutet dies, dass Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, nicht über die Möglichkeiten verfügt, schnell mehr Waffen zu produzieren – obwohl es Geld für die Produktion von Waffen für die Ukraine zugesagt hat. Das Geld spielt eine Rolle, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Auch die Kapazität anderer Nato-Länder, der Ukraine Waffen zu liefern, hat Produktionsgrenzen. Obwohl das deutsche Problem fast von Beginn des Krieges in der Ukraine an vorhersehbar war und Deutschland anstelle von Waffen Geld zur Verfügung gestellt hat, gibt es mehrere Überlegungen.

Erstens stehen Europa und Deutschland bekanntlich ein sehr kalter Winter bevor, da die russischen Energieexporte zurückgehen. Es ist möglich, dass das deutsche „Waffendefizit“ ein Zugeständnis an Russland ist, aber das ist höchst unwahrscheinlich: Berlin könnte dies nicht tun, ohne dass es in der Nato, wo man die Waffenkapazitäten der einzelnen Mitgliedstaaten sehr genau kennt und die Produktion verfolgt wird, allgemein bekannt würde. Dies würde den Ukrainern, Polen und Amerikanern zu Ohren kommen. Wir hätten also schon längst davon gehört.

Deutschlands Versäumnis

Wichtiger ist jedoch, was uns dies über die Nato sagt. Die Nato ist angeblich der Garant für die nationalen Souveränitäten in Europa. Deutschland, Europas führende Wirtschaftsmacht, hatte zwar genug Waffen, um die Ukraine ein bisschen zu unterstützen. Aber die harte Wahrheit ist, dass der Krieg in der Ukraine ein relativ unbedeutender, wenn auch tragischer Konflikt im europäischen Gesamtbild ist. Wenn Russland die Ukraine, einschließlich ihrer äußersten westlichen Grenze, einnehmen würde, wäre es theoretisch in der Lage, von dort aus weiter nach Westen vorzustoßen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Polen und möglicherweise Frankreich verfügen über beträchtliche Streitkräfte, aber die Vereinigten Staaten würden aufgrund des Vertrags die Hauptlast tragen. Sollte diese Situation eintreten, würde dies zu einem neuen Kalten Krieg und möglicherweise zu einer weiteren Konfrontation mit den Vereinigten Staaten führen. Das Versäumnis Deutschlands, eine der Größe seiner Wirtschaft entsprechende Rüstungskapazität aufzubauen, ist daher unangemessen und wirft Fragen über die Produktionskapazitäten des übrigen Europas auf.

 

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Dieses Problem ist aus dem europäischen Mythos heraus entstanden, dass Krieg unrealistisch ist und der Hauptzweck Europas darin besteht, ewigen Wohlstand zu schaffen. Das Motto der EU lautet schließlich „Frieden und Wohlstand“. Ersteres wurde als selbstverständlich angesehen, und Letzteres folgte daraus. Europa verstärkte diesen Mythos, indem es mit der Europäischen Union einen Quasi-Staat schuf, der sich ausschließlich auf das wirtschaftliche Wohlergehen konzentrierte und zusätzlich eine europäische Identität schaffen sollte. Militärische Angelegenheiten wurden den einzelnen Staaten überlassen. Da die Vereinigten Staaten Mitglied der Nato sind und als solches die militärische Sicherheit Europas gewährleisten, wurde Washington de facto insgesamt zum Garanten für die europäische Sicherheit.

Das Waffendefizit Deutschlands zeigt dies deutlich. Angesichts seiner Position als größte europäische Volkswirtschaft und als Nato-Mitglied hätte man von Deutschland erwarten können, dass es aus Verantwortungsbewusstsein hinreichend Waffenproduktionsanlagen unterhält oder baut. Es hätte auch die EU insgesamt bei der Schaffung von Waffenproduktionskapazitäten anführen oder das Wachstum eines europäischen Militärs fördern können. Da das jährliche Bruttoinlandsprodukt der EU in etwa dem der USA entspricht, hätten die Europäer das Risiko eines Krieges in der Ukraine mit europäischen Waffen und Streitkräften auffangen können.

Sicherheitspolitische Trittbrettfahrer

Weil ein Krieg in Europa derart weit hergeholt erschien, als die EU wirklich ins Rollen kam, wollte niemand ein solches Unterfangen finanzieren und überließ es der Nato und damit im Wesentlichen den Vereinigten Staaten – eine für die Europäer äußerst kostengünstige Maßnahme. Die Wahrheit ist auch, dass die EU aus Mitgliedern besteht, die sich gegenseitig nicht besonders vertrauen. Die Kommandostruktur eines europäischen Militärs würde heftig umstritten sein, und die wachsende Macht einiger Länder würde sicherlich sehr kontrovers diskutiert werden.

Es ist gefährlich, reich und schwach zu sein. Solche Nationen werden von anderen häufig als schmackhafte Mahlzeit betrachtet. Dementsprechend erscheint Europa den globalen Raubtieren. Die Vereinigten Staaten, die sowohl reich als auch stark sind, müssen Europa verteidigen, weil der Reichtum, die Technologie und das Wissen Europas in den Händen anderer Staaten eine Gefahr für die USA darstellen könnten. Die Europäer beherrschen seit Jahrhunderten die Kunst, Schwäche effektiv zu nutzen.

Ich halte die deutschen Produktionsausfälle nicht für einen Grund zur Sorge. Aber der europäische Glaube, dass der Kontinent keiner Bedrohung ausgesetzt ist oder dass die USA das Risiko und die Kosten für die Verteidigung Europas übernehmen, kann nicht von Dauer sein. Es mag vielleicht besser erscheinen, wenn Europa militärisch schwach bleibt; die Geschichte zeigt, dass ein hochgerüsteter, geteilter Kontinent unvorstellbar gefährlich ist. Aufrüstung und Abrüstung sind also gleichermaßen beunruhigend. Was jetzt kein Thema ist, wird in Europa irgendwann zu einem beängstigenden Szenario führen.

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