Geopolitik - Weißrussland, Russland und Deutschland: Im teuflischen Dreieck

Ohne Russland wird die Europäische Union den Konflikt mit Belarus nicht beilegen können. Dabei stehen Deutschland und Europa vor zwei Problemen: Es ist nicht klar, wie eng das Verhältnis zwischen dem Kreml und Lukaschenko noch ist. Und: Die EU hat immer weniger Einflussmöglichkeiten auf die russische Seite. Wirtschaftlich wird sie kaum mehr gebraucht, politisch nicht ernst genommen.

Bestrer Freunde? Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin / dpa
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Autoreninfo

Andreas Steininger ist ausgebildeter Jurist und Ingenieur. Nach mehrjähriger Tätigkeit in Aserbaidschan und Russland wurde er als Professor für Wirtschaftsrecht an die Hochschule in Wismar berufen. Zusammen mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement gründete er 2009 das Ostinstitut Wismar (www.ostinstitut.de), das Wirtschaftsjuristen für deutsche Unternehmen in Russland ausbildet.

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Die zukünftige Außenministerin ist nicht zu beneiden: Was soll man machen mit einem Weißrussland, welches von einem von Paranoia und Machtbessenheit getriebenen Despoten geführt wird, der nicht mehr rational handelt und im Zweifel nicht einmal vor einer militärischen Auseinandersetzung zurückschrecken würde, um die eigene Machtposition zu halten? Schlimmer noch: Was soll man machen mit einem Russland, ohne das kein wichtiges Problem in der Welt und in Europa gelöst werden kann, dem man aber gleichzeitig selbst völlig egal ist? Ein Russland, das sich mittlerweile zumindest von Deutschland weg orientiert hat? Soll man sich anbiedern oder harte Kante zeigen? Und dann ist da auch noch Polen, das sich durch seine Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit immer mehr von europäischen Werten entfernt, aber gleichzeitig derzeit das einzige Bollwerk gegenüber dem Egomanen aus Weißrussland zu sein scheint. Ein Mitglied der Europäischen Union also, das man einerseits kritisieren, andererseits nun stärken muss gegenüber seinen östlichen Nachbarn, um Lukaschenko Einhalt gebieten zu können.

Rückblende: Mit der EU-Verordnung 2021/1030 des Rates vom 24. Juni 2021 erlässt die Europäische Union Sanktionen gegen Weißrussland vor dem Hintergrund der gefälschten Wahlen und dem Umgang mit Regimekritikern. Es handelt sich um gezielte Wirtschaftssanktionen gegen den Export von Kommunikationstechnik, Waren mit doppeltem Verwendungszweck (also zivil und militärisch) sowie Tabakerzeugnissen nach Weißrussland; darüber hinaus werden Personen aus dem Machtzirkel Weißrusslands direkt sanktioniert.

Auch wenn das weißrussische Volk 2020 teilweise aufbegehrte, war dies nicht genug, um Lukaschenko zu stürzen. Wie so oft wurden zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Weißrussland, aber auch in Russland, mit der Wirkung auf das gesamte Land überschätzt, zumindest aber falsch eingeschätzt. Nur zu gerne gibt man sich hierzulande der Illusion hin, eine demokratische Woge würde über Weißrussland und Russland hinwegrollen und alle Probleme mit den Despoten unter sich begraben. Aber wie so häufig – insbesondere in den westlichen Medien – ist dann eher der Wunsch Vater des Gedankens, und man überschätzt die Tragweite der Bewegung.

Doppelmoral des Westens

Dieses grundsätzliche Problem der fehlerhaften Einschätzung der östlichen europäischen Nachbarn betrifft auch Russland, gut zu beobachten an der Causa Nawalny, die in Russland viel weniger Widerhall findet als im Westen. Je nachdem, welcher Statistik man glauben darf, stehen höchstens 14% der russischen Bevölkerung hinter dem im Gefängnis sitzenden russischen Regimekritiker.

Viele Russen, gerade der älteren Generation, haben die Zeit der Wirren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch in den Knochen und bevorzugen prinzipiell einen autoritären Staat. Im Großen und Ganzen scheint die Mehrheit mit Putins Politik zufrieden. Gleichzeitig wirft man dem Westen Doppelmoral vor: Warum so fragt man sich, werden Staaten wie Saudi-Arabien und China, in denen es bei der Frage der Menschenrechte durchaus nicht besser stehe, vom Westen weniger kritisiert und mehr respektiert? Warum handelt der Westen mit diesen Staaten ohne jede Einschränkung, gegenüber Russland aber gibt es Sanktionen? Die Krim-Frage und die Ostukraine werden häufig als innere Angelegenheit Russlands angesehen. Hinzu kommen eine jahrelange mehr oder weniger subtile antiwestliche Propaganda und das Gefühl, sowieso nichts richtig machen zu können. Und schließlich ist da immer noch das Gefühl der Demütigung durch den Westen (berechtigt oder unberechtigt) in den schwachen Zeiten Russlands der 90er- und 2000er-Jahre, etwa durch die NATO-Osterweiterung.

Was Weißrussland anbelangt, hat Russland kein Interesse an einem Sturz Lukaschenkos, der aufgrund seiner Schwäche vollständig auf Moskau angewiesen ist. Eine Swetlana Tichanowskaja würde einen Westkurs einschlagen, das will in Russland zumindest in den Führungseliten nun wirklich niemand.

Der wunde Punkt der EU

Eine Zeitlang schien sich der weißrussische Präsident mit der Situation der Sanktionen abgefunden zu haben. Nun aber sinnt er auf Rache und „beschießt“ die Europäische Union und insbesondere Deutschland mit dem, was am meisten weh tut: mit Flüchtlingen, im Bewusstsein, dass die Flüchtlingsproblematik in Deutschland seit 2015 ein sensibles Thema darstellt. Sollte sich die Vermutung bewahrheiten, dass Lukaschenko absichtlich Reisen aus Krisenländern über Minsk nach Polen und weiter in die EU organisiert, so käme sogar eine Strafbarkeit nach deutschem Recht in Betracht.

Dass Lukaschenko ausgerechnet Flüchtlinge zum Versuch der Destabilisierung nutzt, zeigt, dass er sich gut in die europäischen und deutschen Befindlichkeiten hineinzudenken vermag. Auch der Zeitpunkt ist in gewisser Weise perfide: Das wichtigste Land in Europa ist zurzeit nur bedingt handlungsfähig aufgrund des Regierungswechsels, die EU ist durch den Austritt Großbritanniens und den Streit mit Ungarn und Polen im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit und durch ihre generelle Uneinigkeit maximal geschwächt. Lukaschenko hat leichtes Spiel, dies auszunutzen.

Wie brisant die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass die Kanzlerin sowohl am 10. als auch am 11. November wegen der Lage an der polnisch-weißrussischen Grenze mit Putin telefoniert hat. Das zeigt auch, dass man Lukaschenko im Westen lediglich für einen Vasall Putins hält. In Berlin sieht man in Putin denjenigen, der auf Lukaschenko einwirken könnte. Diese Betrachtungsweise ist zwar berechtigt, aber nicht ganz vollständig: Sicher ist Lukaschenko von Putin abhängig, nicht nur im Hinblick auf Energielieferungen, sondern auch im Hinblick auf militärische Unterstützung. Nur zu gut in Erinnerung sind die Bilder, auf denen Lukaschenko nach den Protesten in Weißrussland 2020 beinahe kriecherisch neben Putin an dessen Urlaubsort Sotchi auf dem Sessel saß und um Hilfe bat.

Andererseits darf man auch nicht vergessen, dass seit dem Fall der Sowjetunion nicht nur die Ukraine, sondern auch Weißrussland sich als eigenes Land fortentwickelt hat und sich nicht mehr so ohne weiteres vereinnahmen lassen will. Zwar existiert seit den 90er-Jahren der weißrussisch-russische Staatenbund. Jedoch hat Lukaschenko noch 2019 eine Vereinbarung zur verstärkten Integration Russlands und Weißrusslands aufgeschoben. Nunmehr, unter dem Druck der Ereignisse, hat der weißrussische Präsident im November 2021 ein gemeinsames weißrussisch-russisches Dekret über die Verzahnung der militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit doch noch unterschrieben, was darauf hindeutet, dass er in Schwierigkeiten steckt und im Zweifel die Hilfe Russlands braucht. Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Putin und Lukaschenko angespannt. Man dürfte im Kreml nicht vergessen haben, dass sich Lukaschenko jahrelang gegen eine Annäherung der beiden Länder gestemmt hat, um sich als Bewahrer der weißrussischen Eigenständigkeit zu inszenieren. Insofern könnte der Kreml durchaus ein Interesse daran haben, Lukaschenko fallen zu lassen.

Für Russland das kleinere Übel

Auf der anderen Seite scheint für die russische Administration ein Lukaschenko annehmbarer zu sein als eine Tichanowskaja, die mit ihrer nach Westen orientierten Politik Weißrussland ganz von Russland lösen würde. Tichanowskaja würde das erwähnte Dekret vom November 2021 voraussichtlich zunichtemachen. Auch fürchtet man in Moskau womöglich, dass eine Revolution in Weißrussland auf Russland überspringen könnte. Auf jeden Fall scheint Lukaschenko das kleinere Übel.

Ferner ist Russland selbst von Sanktionen betroffen und empfindet schon deswegen Solidarität mit Weißrussland. Man sieht sich als Bollwerk gegenüber dem Westen und der westlichen Kultur. Alle moralischen Appelle und mittlerweile auch wirtschaftliche Sanktionen scheinen in Russland kaum mehr jemanden zu interessieren. Tatsächlich hatte Deutschland lange Jahre eine gewisse privilegierte Stellung in der russischen Politik und der russischen Wirtschaft; diese Privilegierung ist vollständig eingebüßt. Es ist der russischen Regierung und zunehmend auch den Vertretern der russischen Wirtschaft und sonstigen Organisationen völlig egal, was man in Deutschland sagt oder denkt. Auf der anderen Seite wirken auch die in deutschen Talkshows vorgetragenen Meinungen russlandkritischer deutscher Politiker, die annehmen, man müsse Russland irgendwie zur Räson bringen, bisweilen lebensfremd. Auf jeden Fall sind sie von Unkenntnis der Denkweise innerhalb der russischen Regierung und Russlands geprägt.

Sanktionen sind leicht zu verschmerzen

Welche Handlungsoptionen für die deutsche Politik bleiben dann aber? Es ist zweifelhaft, ob man mit Sanktionen gegenüber Weißrussland, geschweige denn gegenüber Russland, noch irgendetwas bewirken kann. Nach vorläufigen Schätzungen kamen 2020 fast zwei Drittel der in Weißrussland benötigten Industriegüter aus Russland und China, lediglich noch 5,2 % aus Deutschland; wenn man die anderen europäischen Länder noch hinzunimmt, kommt man auf etwa 15,4 % (Bericht der GTAI von Mai 2021). Hier dürften Sanktionen zu verschmerzen sein. Etwas anderes gilt für den Kaliexport aus Weißrussland, da 2020 ein großer Teil der Kaliproduktion Weißrusslands, die vor allem für die Landwirtschaft benötigt wird, nach Polen und Belgien geflossen ist. Ein Importstopp könnte tatsächlich die weißrussische Wirtschaft empfindlich treffen, aber ebenso die Europäische Union beziehungsweise die Länder, die auf das Kali angewiesen sind. Nach der Eskalation der vergangenen Tage ist allerdings nicht anzunehmen, dass wirtschaftliche Nachteile dazu führen würden, dass Lukaschenko seine Politik ändert.

Sinnvoller erscheint da aus Sicht der Europäischen Union, den Strom von Flüchtlingen aus den Herkunftsländern über die Türkei oder Drittstaaten einzudämmen, indem man auf diese Druck ausübt. Hoffnungsvoll stimmt auch, dass Präsident Putin im zweiten Telefonat mit Kanzlerin Merkel offensichtlich signalisiert hat, nicht nur zwischen Deutschland und Weißrussland vermitteln, sondern sich vielmehr aktiv an der Beilegung des Konfliktes beteiligen zu wollen, wobei bislang noch offen ist, wie dies genau geschehen soll.

Selbst wenn es gelingt, den Konflikt temporär mit der Hilfe Russlands beizulegen, so kommt man im Ergebnis immer wieder auf die Ausgangsfrage zurück, wie das Verhältnis weniger zu Weißrussland, aber vor allem zu Russland in Zukunft zu gestalten ist. Die wirtschaftlichen Handlungsoptionen schwinden, da Russland immer mehr versucht, durch Lokalisierungspolitik und Beschaffung wesentlicher Produkte aus China und anderen Drittstaaten vom Westen unabhängig zu werden. Auch die gemeinsamen deutsch-russischen Gesprächsplattformen und Foren haben es immer schwerer, sich Gehör zu verschaffen oder überhaupt noch zu existieren; so hat etwa der Petersburger Dialog seine Treffen zeitweise eingestellt.

In Russland blickt man auf Deutschland mittlerweile mitleidig bis verächtlich. Gerüchteweise hieß es zuletzt, auch der russische Außenminister Lawrow „freue“ sich auf eine deutsche Außenministerin Baerbock, von welcher er vor allem eine härtere Gangart in Bezug auf Menschenrechte und Moral erwartet. Dies würde ein willkommener Anlass für Lawrow sein, mit Vehemenz und Sarkasmus auf die deutsche Geschichte und die Bedeutungslosigkeit Deutschlands zu verweisen. Druckmittel oder auch nur einen Plan hat die deutsche Regierung auch nicht wirklich. Eine Kostprobe, wie so eine Begegnung ablaufen kann, hat bereits der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, im vergangenen Februar erhalten, als er vor laufenden Kameras von Lawrow düpiert wurde. Gleich, wer deutsche Außenministerin oder Außenminister wird, sie oder er wäre gut beraten, mit einem anderen, unerwarteten Konzept vorzugehen und nicht in diese Falle zu tappen.

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