Geheimdienstleaks - Prigoschin: Verräter oder Zyniker?

Jewgeni Prigoschin, Chef der Wagner-Söldnertruppe, gilt als Bluthund des Kremls im Ukrainekrieg. Laut US-Geheimdienstleaks soll er der Ukraine Informationen über russische Stellungen angeboten haben, so wurde im Mai berichtet. Ein Verrat Prigoschins oder gezielte Desinformation?

Gegen die „Flachwichser“ im Kreml: Wagner-Chef Prigoschin neigt zu Verbal-Tourette / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Jewgeni Prigoschin ist eine der Schreckensfiguren im russisch-ukrainischen Krieg. Er hat keine Bedenken, die von ihm finanzierte Söldnertruppe „durch den Fleischwolf zu drehen“, die Exekution eines Deserteurs mit einem Vorschlaghammer ließ er filmen und das Video ins Internet stellen, er posierte vor einem Soldatenfriedhof mit Dutzenden frisch angelegter Gräber und tönte, dass seine Leute, die Wagner-Truppe, bereit seien, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.  

Der Glatzkopf, der mit Aufträgen für die Ausrichtung von Staatsbanketten sowie die Versorgung der russischen Armee mit Lebensmitteln zum Multimillionär geworden ist, gilt als Putins Mann fürs Grobe. Der Name seiner Truppe soll auf die Begeisterung eines ihrer brutalen Anführer für den martialischen Walkürenritt aus dem „Ring des Nibelungen“ zurückgehen, Richard Wagners düsterem Opernzyklus über Mord und Totschlag in der germanischen Götterwelt. Putin hat ihm erlaubt, in Straflagern Schwerverbrecher für seine Truppe anzuwerben; wer sechs Monate an der ukrainischen Front überlebe, bekomme seine Strafe erlassen. 

Ausgerechnet dieser Prigoschin, den manche Kremlbeobachter als Vertrauten Putins bezeichnen, soll nun Verrat begangen haben. Laut geleakten amerikanischen Geheimdienstdokumenten, aus denen kürzlich die Washington Post zitierte, hat er im Januar dem ukrainischen Militärgeheimdienst HUR Informationen über Stellungen der russischen Armee angeboten, falls die Ukrainer sich aus der heftig umkämpften Stadt Bachmut im Donbass zurückzögen. Kiew aber habe dieses Angebot abgelehnt.  

Der Vorschlag hätte eine Falle für die ukrainischen Truppen sein können

Hintergrund dieses Angebots war demnach der Wunsch Prigoschins, sich dem Kreml als Eroberer Bachmuts präsentieren zu können. Die Schlacht um die strategisch eher drittrangige Bezirksstadt, die im Herbst eingesetzt hat, ist zur Prestigesache in dem Krieg geworden. Die Russen machten nur geringe Geländegewinne, es gab auf beiden Seiten hohe Verluste, nach Kiewer Angaben waren sie bei den Angreifern fünfmal höher als bei den Verteidigern.  

Auf russischer Seite kämpften Einheiten der regulären Streitkräfte und der Wagner-Truppe nebeneinander, doch offenbar unkoordiniert. Prigoschin warf Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow in wütenden Videoclips voller Schimpfwörter und Flüche vor, seine Leute nicht ausreichend mit Munition und Lebensmitteln zu versorgen. Er forderte nicht nur die Ablösung dieser „Versager“ und „Hunde“, sondern auch, diese wegen Unfähigkeit vor ein Militärtribunal zu stellen. 

 

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Dem Bericht der Washington Post zufolge schlug Prigoschin den Ukrainern vor, Bachmut aufzugeben und stattdessen einen Vorstoß auf die annektierte Halbinsel Krim einzuleiten. In Kiew aber habe man ihm nicht getraut, die ukrainische Armeeführung hat längst die stark befestigten Verteidigungsanlagen der Russen im Gebiet nördlich der Krim aufgeklärt. Der Vorschlag hätte also eine Falle für die ukrainischen Truppen sein können. Auch Experten der US-Geheimdienste seien zu diesem Ergebnis gekommen. 

Erwartungsgemäß dementierte Prigoschin den Bericht, laut dem er Spitzenleute des HUR in einem der afrikanischen Länder getroffen haben soll, in denen die Wagner-Truppe die Ausbeutung von Rohstoffvorkommen für den Kreml kontrolliert. Er sei im fraglichen Zeitraum nicht in Afrika gewesen. In seinem üblichen Knastjargon – er hatte in jungen Jahren neun Jahre wegen eines Raubüberfalls im Straflager verbracht – nannte er die Urheber dieser „Lügen“: Sie säßen an der Rubljowka. So heißt die große Ausfallstraße aus dem Zentrum Moskaus nach Westen, die durch das Villenviertel der Superreichen in einem der Vororte führt. Er meinte damit die Kremlelite und die Armeeführung.

Der Kreml dementiert die Berichte

Für diese Version spricht, dass er immer aggressiver und vulgärer die Führung in Moskau angreift – seine Einlassungen sind gespickt mit Kraftausdrücken wie „gawnó“ (Scheiße) und „jóbanny“ (gefickt). Die „verschnarchten und korrupten Moskowiter“ seien an den Misserfolgen an der Front schuld, sie hätten Milliarden, die der Kreml für die Modernisierung der Streitkräfte avisiert habe, schlicht veruntreut. In einem Video sprach er von einem „Flachwichser“ in der Zentrale, der sich scheue, in der Ukraine richtig durchzugreifen. Als Blogger dies als unverschämten Angriff auf Putin darstellten, beeilte er sich zu versichern, dass er den Generalstabschef Gerassimow gemeint habe.  

Kremlsprecher Dmitri Peskow wollte zu den jüngsten Anschuldigungen Prigoschins nichts sagen, den Bericht der Washington Post nannte er eine „Zeitungsente“. Der kurze Kommentar Peskows wurde in Moskau als indirekte Verteidigung Prigoschins verstanden, weil der Kreml diesen noch brauche. Die politische Elite hat den Söldnerführer nie als einen der ihren betrachtet, er gilt einerseits als Bluthund Putins, der als Chef einer angeblich unabhängigen Privatfirma nicht nur Drecksarbeiten im Ausland übernehme, sondern jederzeit gegen Abweichler losgelassen werden könnte, andererseits als eine Art Pausenclown, der als Beleg dafür herhalten müsse, dass jeder seine Meinung sagen könne, der überdies Identifikationsfigur für Scharfmacher sei, die auf diese Weise einhegt würden, weil er selbst an der langen Leine des Kremls bleibe.  

Nicht auszuschließen ist auch eine dritte Variante: Es könnte sich um gezielt gestreute Falschnachrichten der Ukrainer handeln, die darauf abzielen, die längst offenbar gewordenen Konflikte in der russischen Führung zu vertiefen. Die Amerikaner haben nach dieser Version mitgespielt, indem sie angebliche Geheimdienstanalysen über den Verrat Prigoschins fabriziert und gezielt an eine Internetplattform durchgestochen hätten; die Washington Post habe angebissen und so für ein internationales Echo gesorgt. 

Fest steht nur: Die Kämpfe um Bachmut halten an, die Wagner-Truppe ist an den Flanken von den Ukrainern zurückgedrängt worden. Das fast völlig zerstörte Zentrum wird laut dem Tagesbericht des britischen Verteidigungsministeriums zwar von russischen Einheiten gehalten, doch drohe diesen nun die Einkesselung. Prigoschin ging sogar so weit, zu erklären, Bachmut sei der Beginn der seit langem angekündigten Frühjahrsoffensive Kiews, es werde für die Russen „schrecklich enden“, weil Moskau ihm die notwendige Unterstützung verweigert habe. 

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