Frauenrechte in der Türkei - „Frauen haben hier keine Namen“

Mit dem Sieg des Erdogan-Regierungsbündnisses ziehen auch islamistische Parteien ins türkische Parlament ein, die frauenfeindlich auftreten und Kinderehen verharmlosen. Was das für die Frauen im Land bedeutet, erklärt die Frauenrechtlerin Canan Güllü.

Unterstützerinnen des gescheiterten Erdogan-Herausforderers Kemal Kilicdaroglu bei einer Wahlkampfveranstaltung im April / picture alliance
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Unter den OECD-Ländern weist die Türkei die höchste Anzahl an Femiziden aus. Es vergeht kein Tag, an dem nicht eine türkische Frau Opfer eines Mordes wird. Die Täter erhalten meist milde Strafen. Von ihren Partnern bedrohte Frauen können sich nur auf familiären Schutz verlassen. Frauenorganisationen werfen der türkischen Regierung und den Behörden nicht nur Versagen beim Schutz der Frauen und bei der Bestrafung der Täter vor. Sie beschuldigen sie vielmehr, diese Entwicklung mit dem Ausstieg aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen soll, indirekt zu unterstützen.

Die 1962 geborene Canan Güllü, Präsidenten der Föderation der Frauenverbände der Türkei (TKDF –Türkiye Kadin Dernekleri Federasyonu), setzt sich seit vielen Jahrzehnten für die Rechte türkischer Frauen ein. Güllü beobachtet mit großer Sorge den Aufstieg des politischen Islams und die Rücknahme von bisher erkämpften Rechten türkischer Frauen. Von europäischen Staaten fordert sie mehr Solidarität mit türkischen Frauen und ein Ende des Stimmrechts von Auslandstürken bei Wahlen in der Türkei.

Frau Güllü, was bedeutet der erneute Sieg der Erdogan-Partei AKP für die Frauen in der Türkei?

Das erste Jahrhundert der türkischen Republik war für türkische Frauen im Hinblick auf die Erlangung von Menschenrechten ein großer Erfolg, auch wenn ihre Anwendung Lücken aufwies. In den letzten zehn Jahren beobachten wir, dass sie diese Rechte verlieren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung waren diese Wahlen sehr wichtig. Die Bürger und Bürgerinnen des Landes haben diesen Zusammenhang verstanden, allerdings gilt das nicht für die Opposition. Wir reden hier von einer Regierung, die Muftis die Erlaubnis zur Schließung von Ehen übertragen hat. Das stellt nicht nur den Laizismus in Frage, sondern ist auch für die Frauen des Landes eine besorgniserregende Entwicklung.

Mit dem Sieg des Erdogan-Regierungsbündnisses ziehen islamistische Parteien wie die HÜDA-PAR und die Yeni Refah Partisi, die sogar die Kinderehe legitimieren und Frauen aus dem öffentlichen Raum drängen wollen, in das türkische Parlament ein. Kritiker der Regierung befürchten, dass die Türkei eine islamistische Theokratie wird. Glauben Sie, dass dies möglich ist?

Wenn sie die Macht haben und diese entsprechend ihrer eigenen Ideologie gebrauchen möchten, ist das möglich, und es gibt dann keine Hindernisse für sie. Mit der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments ist dies gut möglich. Das Präsidentialsystem, also das Regime eines Mannes, in Kombination mit den islamistischen Bruderschaften und Sekten, hält diese Entwicklung als Wunsch für die Zukunft offen. Auch die zuletzt verkündeten Reformpläne unterstützen diese Sichtweise und zeigen uns, in welche Richtung es geht.

Haben Sie das Oppositionsbündnis unterstützt? Und was hätte sich im Falle eines Sieges der Opposition geändert?

Als NGO unterstützen wir eigentlich keine politische Richtung, zumindest in normalen Zeiten. Wenn wir aber sehen, dass erreichte Frauen- und allgemeine Bürgerrechte rückgängig gemacht werden sollen, unterstützen wir diejenigen, die sich dagegen positionieren. Genau genommen haben wir in der Türkei keine Option. Eine Seite ist gut, die andere schlecht. Und in einem solchen Fall unterstützt man die Seite, die möchte, dass es mehr Gutes gibt. Und genau deshalb haben wir bei diesen Wahlen das Oppositionsbündnis unterstützt, damit es sich für Frauenrechte einsetzt. Zumindest haben sie uns versprochen, dass sie unsere Forderungen unterstützen. Allerdings haben sich nicht wenige gegen die Unterstützung der Opposition entscheiden, weil die Kandidatenlisten wenige Frauen und jüngere Menschen enthielten.

Das Oppositionsbündnis hatte der Bevölkerung versprochen, Flüchtlinge in ihre Ursprungsländer zurückzuschicken. Dies würde auch eine Abschiebung von Frauen bedeuten. Unterstützen Sie geflüchtete Frauen und sprechen sich für ihren Verbleib in der Türkei aus?

Für Menschen, die in der Folge eines Krieges ihr Land verlassen mussten, sind vorübergehende Unterkünfte und Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Nichtsdestoweniger fordern wir, dass Flüchtlinge, in deren Ländern kein Krieg herrscht, vom Staat mit Konsequenz und auf humane Weise in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt werden.

Erdogan regiert die Türkei seit 20 Jahren. Was hat sich in diesen 20 Jahren für Frauen verändert?

Wir sehen eindeutig, dass die Türkei sich davon entfernt, ein modernes Land zu sein. In diesem Prozess wurden Frauen in einem Modell der heiligen Familie eingesperrt. Kindertagesstätten und Kinderbetreuungseinrichtungen wurden geschlossen. Hindernisse für die Bildung von Frauen wurden nicht aus dem Weg geräumt. Die Verheiratung sehr junger Frauen hat zugenommen. Die Pflege der Älteren ist weiterhin ein Problem. Kurzum: Die Frau wird in traditionelle Rollen gedrängt.
 

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Zu welchen Problemen führte der Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die dem Schutz der Frauen vor Gewalt dient?

Die Toleranz gegenüber Gewalt hat zugenommen. Das Vertrauen ist erschüttert. Die Opfer von Gewalt haben oft nicht mehr den Mut, sich gegen die Täter zu wehren.

Die Türkei ist unter den OECD-Ländern das Land mit der höchsten Femizidrate. Wieso gibt es in der Türkei so viele Frauenmorde?

Wir sind leider ganz weit hinten, was die Gleichberechtigung von Frauen anbelangt. Es herrscht eine sehr dominante Männerherrschaft vor. Das Weltwirtschaftsforum hat einen Bericht zur Ungleichheit von Männern und Frauen veröffentlicht. Von 144 portraitierten Ländern nehmen wir Platz 126 ein. Das zeigt eindeutig, wie ungleich die Rechte von Männern und Frauen hier sind.

Kurz vor den Wahlen nahmen frauenfeindliche und Kinderehen, also Pädophilie verharmlosende Aussagen der Regierungsparteien und ihrer Bündnispartner zu. Auch die türkische Religionsbehörde Diyanet, an die zum Beispiel die DITIB-Moscheen in Deutschland gebunden sind, gab Aussagen von sich, die Kinderehen legitimieren. In der Regierungszeit von Erdogan sollen frühere Tabus gebrochen und Frauen immer mehr zum Gegenstand herabgewürdigt worden sein. Stimmen Sie als Interessenvertretung türkischer Frauen diesen Aussagen zu?

Unsere Regierung äußert sich immer wieder positiv zum politischen Islam. Zudem sind sie in engem Austausch und Kooperation mit islamischen Bruderschaften und islamischen Sekten, auch dies ist ein Beweis dafür, dass diese Einschätzungen stimmen.

Canan Güllü vor dem Weißen Haus
in Washington / privat

Hat der Aufstieg des politischen Islams den beruflichen Erfolg von Frauen beeinflusst? Können Sie weiterhin wichtige Positionen bekleiden?

Früher waren wir nicht sichtbar. Jetzt erleben wir, dass wir zwar sichtbar sind, aber keinen Einfluss haben. Ein Beispiel: Bei den vorherigen Wahlen hatten von 600 Sitzen im Parlament nur 120 Frauen. Das ist ein Grund zur Scham. In 30 Großstädten gab es nur zwei Oberbürgermeisterinnen. Im letzten Kabinett gab es nur eine Frau, und das war die Familienministerin. Sprich, die Frauen bekommen nur Rollen und Plätze zugewiesen, in denen sie unsichtbar werden. Zudem ist die Familienministerin eine Politikerin, die wenig Verständnis für die familienspezifischen Probleme in der Türkei hat. Das gleiche Bild wiederholt sich bei regionalen Wahlen. Die Frau hat hier keinen Namen.

In Deutschland haben wir gesehen, dass Erdogan vor allem bei türkischstämmigen Frauen punktet. Wie erklären Sie sich, dass vor allem Frauen Erdogan unterstützen?

Zuerst möchte ich sagen, dass ich dagegen bin, dass Auslandstürken bei Wahlen in der Türkei ihre Stimme abgeben dürfen. Menschen, die hier nicht leben, sollten nicht das Recht haben, die Zukunft der Menschen hier im Land mitbestimmen zu dürfen. Die Auslandstürken beziehen ihr Wissen über die Türkei nur über Social Media oder glauben, dass durch ihre eigene sich erhöhende Kaufkraft infolge der Inflation Wohlstand einkehrt. Diese Menschen treffen für die Türkei falsche Entscheidungen. Die Frauen in Deutschland haben den Eindruck, dass sie durch Erdogan mehr Rechte bekommen, und wählen ihn deswegen. Wir sehen, dass die Kampagnen der in Deutschland sehr aktiven und verbreiteten islamischen Bruderschaften erfolgreich sind. Von der deutschen Politik wünschen wir uns Solidarität mit den Frauen in der Türkei und das Verbot des Wahlrechts für Deutschtürken bei Wahlen in der Türkei.

In Ihren Social-Media-Posts kritisieren Sie die AKP und die Regierung wegen ihrer Frauenpolitik. Wurden Sie bisher bedroht, haben Sie Angst?

Wir haben keine Angst davor, das zu sagen, was wir für richtig halten. Egal um welche Partei es geht. Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit zu sagen. Wir haben noch ein ganzes Leben vor uns. In unserem bisherigen Leben haben wir uns für unsere Werte eingesetzt, und das werden wir auch in Zukunft tun. Die Frauenbewegung bezieht ihre Kraft aus den Erfolgen der Vergangenheit und glaubt daran, dass sich der Einsatz lohnt und zum Sieg führt. Wir wissen, dass es eine noch radikalere Zeit geben wird, dennoch werden wir fortfahren zu kämpfen und uns für Frauenrechte einzusetzen.

Die Türkei erwartet ein in ihrer Geschichte einmaliger Brain Drain. Wie wird die Abwanderung dieser hochqualifizierten, meist jungen Menschen die Türkei dauerhaft verändern?

Menschen möchten nicht in einer wirtschaftlichen Situation leben, in der sie unter ihrer Würde leben müssen. Daher werden europäische Länder den Fachkräften aus der Türkei ihre Türen öffnen und mit dem Brain Drain aus der Türkei hochqualifizierte Fachkräfte gewinnen. Dass die türkische Regierung diese Bevölkerungslücke wiederum gezielt mit ungebildeten, unqualifizierten Flüchtlingen aus Pakistan, Syrien, dem Iran und Afghanistan füllen wird, ist für die Türkei, ihre Zukunft und zukünftige Generationen bedenkenswert.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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