Französische Präsidentschaftswahlen - „ Es geht um unsere Zivilisation “

Die französischen Präsidentschaftswahlen im April 2022 entscheiden sich aller Voraussicht nach auf der Rechten. Kandidaten wie Éric Zemmour dominieren mit dem Thema Immigration den politischen Diskurs. Warum? Eine Erkundung in der Königsstadt Versailles.

Fabien Roussel, Präsidentschaftskandidat der französischen Kommunisten, auf einem Wahlplakat / action press
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Der Palast ist in Versailles noch da, anders als der König. Frankreich ist seit der Revolution von 1789 eine Republik, mittlerweile schon bei der fünften angelangt. Die aktuelle, 1958 von Charles de Gaulle begründete Verfassung ist stark auf die Autorität des Präsidenten ausgerichtet. Das heißt, auf den Wahlmonarchen, flachsen einige angesichts seiner Machtfülle. Le Président de la République ist oberster Chef der Armee, er leitet die zivile Regierung und bestimmt via Regierung sogar die Tagesordnung der Nationalversammlung. Entsprechend wichtig ist die Präsidentschaftswahl alle fünf Jahre. Alle anderen Urnengänge in Frankreich sind sekundär.

Der richtige König, der mit der Krone, ist nicht mehr da. Nur noch die goldverzierte Schlossfassade schimmert an diesem nassen Januartag durch den Regen. Ludwig XIV. wacht noch auf seiner Reiterstatue über den riesigen Vorplatz, und die Pracht­straßen der Stadt, von der Avenue de Sceaux bis zum Boulevard de la Reine, laufen schnurgerade auf den früheren Machtpol Frankreichs zu, den einstigen Nabel der Welt. Langsam zeigen sich in der Stadt westlich von Paris wieder Touristen – Amerikaner eher als Chinesen, sagt der Wirt der Brasserie Lyautey. Wie von einem Magneten angezogen, pilgern sie an diesem Morgen Richtung Palast, vorbei am Kutschenmuseum und an der Reitakademie, die heute vom Pferdetrainer Bartabas betrieben wird. Die Reisenden werden den Spiegelsaal besuchen, die königliche Oper und die Wasserspiele in der herrlichen Parkanlage zwischen dem Trianon und La Lanterne, wo, den Außenstehenden gut verborgen, Emmanuel I., genannt Macron, seine Wochenendresidenz hat.

Moderate und Radikale

Im schmucken Rathaus von Versailles begrüßt die republikanische Devise „Liberté, Égalité, Fraternité“ dann Bürgermeister François de Mazières. Seit 2008 im Amt, kennt der Absolvent der nationalen Eliteverwaltungsschule ENA die Stadt, ihre 85.000 Einwohner und ihre politischen Abläufe wie kein Zweiter. Er selbst zählt sich zur „divers droite“, zur parteilosen Rechten, der in Versailles seit dem letzten Krieg alle Stadtvorsteher entstammen. Später wechselte der Mann im Rollkragenpulli der Form halber in die Gaullistenpartei der „Républicains“. 2017 trat er nicht minder flexibel ins Lager des neu gewählten Staatschefs Macron über.

Bei den Präsidentschaftswahlen setzt de Mazières wieder auf die Republikaner: Er unterstützt deren Kandidatin Valérie Pécresse, die selber aus Versailles stammt. Dazu ist sie eine sehr gemäßigte Sozialgaullistin, und der Unterschied zwischen ihr und Macron hält sich in Grenzen. Beide zählten letztlich zur rechten Mitte, schätzt de Mazières in seinem Büro mit Blick auf das Schloss: „Seien wir ehrlich, im Grunde genommen nähern wir uns einander an. Ein wenig wie in Deutschland die CDU und die SPD.“

Doch es gibt in Frankreich auch noch eine andere Rechte, die nicht zur Mitte hin tendiert; sie ist radikaler, wie die Populistin Marine Le Pen, und weniger biegsam, wie der Nationalkonservative Éric Zemmour. Versailles schwanke zwischen den Moderaten Macron und Pécresse einerseits und den „Nationalen“ Le Pen und Zemmour andererseits, erklärt Bürgermeister de Mazières. Er, der Moderate, gibt freimütig zu, dass es die Radikalen sind, die den Wahlkampf aufwirbeln und beherrschen. Warum? „Die Leute haben ihre Bezugspunkte verloren, familiär, moralisch, politisch.“ Nicht etwa, weil der König nicht mehr da ist; de Mazières denkt eher an die Spannungen in der Welt und in der französischen Gesellschaft, an Klima und Covid. „Die Einwohner fürchten sich vor der Entwicklung in Versailles, in Frankreich und darüber hinaus.“ Und viele, fügt er an, machten dafür die Immigration verantwortlich.

Befriedete Wohnblocksiedlungen

Das Reizwort ist gefallen – „l’immigration“. De Mazières geht ihm nicht aus dem Weg. Aber er hält es für kein Problem in seiner Stadt oder genauer: für ein kontrollierbares Problem. Auch Versailles hat seine Einwandererviertel, in denen der Anteil der Sozialwohnungen 30 Prozent erreicht. Der Bürgermeister zählt eine Handvoll dieser „cités“ auf, Richard-Mique, Moser, Jussieu … „Auch das ist Versailles“, betont er. „Die Versailler leben nicht in der Vergangenheit, so glorreich sie hier auch ist. Die französischen Medien karikieren uns gerne als nostalgische Anhänger von Louis XIV., als Reaktionäre und Ultrakatholiken. Dabei ist die Stadt soziologisch viel ausgewogener, als man meinen würde.“

Und vor allem, fügt de Mazières an: „Wir kümmern uns um diese Siedlungen, wir lassen sie nicht fallen.“ In Jussieu zieht die Stadt gerade ein großes Renovierungsprojekt durch, bei dem zugleich die Gebäude thermisch isoliert werden. Ein Millionenaufwand. Dank jahrelanger urbanistischer Anstrengungen seien die „quartiers difficiles“, wie man diese peripheren Wohnblocksiedlungen in Frankreich bisweilen nennt, in Versailles aber „ruhig und befriedet“, sagt der Stadtvorsteher mit Genugtuung.

In der Tat: Wer sich in Jussieu umschaut, wähnt sich nicht in einer gefährlichen No-Go-Zone, wie sie auf der übel beleumundeten Ostseite von Paris Legion sind. In diesem Viertel ganz am Stadtrand sind die Straßen sauber, die abgestellten Autos keine Wracks, die Wohnblöcke maximal fünf Stockwerke hoch. Überdies sind sie neuerdings mit bunten, haushohen Wandfresken versehen, auf die de Mazières besonders stolz ist. Keine Kids hängen auf den Straßen oder in Gebäudeeingängen herum, keine Dealer sind in Sicht, und an der Bushaltestelle werden keine Joints geraucht.

„Grand remplacement“

Ein alter Mann führt zwei Kurzbeiner um den Block. Er wohne hier seit dem Bau der Wohnsiedlung im Jahre 1964, erzählt er durch seine Zahnlücken. „Früher waren hier Gemüsegärten mit schönen Fruchtbäumen“, erinnert er sich. „Dann wurden die Arbeiter der Schlossanlage hier einquartiert, Franzosen, Portugiesen, Polen.“ Und heute? „Heute ziehen nur noch Hindus und Araber ein. Einer nach dem anderen. Wenn einer kommt, geht ein anderer“, erzählt der Rentner. „Ein Europäer, meine ich.“

Dem Mann ist es vielleicht nicht bewusst, aber er gibt gerade ein Beispiel jener Theorie zum Besten, die gegenwärtig ganz Frankreich umtreibt: die des „grand remplacement“, der großen Ablösung der europäischen Zivilisation durch die islamische. Die Theorie stammt von dem Schriftsteller Renaud Camus; sie wird heute der extremen Rechten zugerechnet und vertreten von Le Pen und von Zemmour, dem Shootingstar oder (je nach politischem Standpunkt) Störenfried der aktuellen Präsidentschaftskampagne.

Die Frage ist: Stimmt diese Theorie? Mal abgesehen davon, dass die Hindus keine Moslems sind: In Jussieu hat sie einiges für sich. Wie in allen Cités. Frankreich hat die Zugewanderten vor einem halben Jahrhundert selbst in diese Plattenbauten am Rand der kleinen und großen Städte des Landes gesteckt. Später kam die Familiennachführung dazu, ersichtlich daran, dass heute unter den zugewanderten Ausländern mehr Frauen sind als Männer.

Der offizielle Diskurs von der „sozialen Durchmischung“ in diesen Siedlungen bleibt ein Diskurs. Die Realität ist anders: Die „cités“ werden Parallelorte, Ghettos. Von ungefähr kommt das nicht: Die sprachunkundigen Ankömmlinge können so neben ihresgleichen wohnen. Und die übrigen Franzosen bleiben in ihren Vierteln ohne ­Halal-Metzgereien und salafistische Moscheen. Apropos: Wo sind in Versailles eigentlich die Moscheen? Bürgermeister de Mazières muss nun nicht mehr aufzählen: Es gebe in der Stadt, sagt er, einen Gebetsraum für die muslimischen Einwohner. Zu finden ist er unter der Eisenbahnbrücke der Rue Jean Mermoz, hinter einer beigen Hausfassade, von außen nicht zu erkennen. In Versailles, der katholischen Königsstadt voller Kirchen, leben die Muslime diskret. 

Zemmours Prioritäten

Wie zahlreich sie sind, weiß übrigens niemand: Das laizistische Frankreich führt keine religiösen Statistiken. Aber ein Polizist bestätigt im Rathaus: Straßenrodeos gibt es in Versailles kaum, Krawalle auch nicht, noch weniger die berüchtigten rechtsfreien Räume für Feuerwehr, Polizei oder Pizza­Lieferanten. Gewiss, 2020 gab es in Versailles 566 Wohnungseinbrüche, dazu 1945 Gewaltakte. Von wem verübt? Nein, ethnische Statistiken werden in Frankreich auch nicht geführt.

Warum also die ganze Aufregung? Warum sprechen in Frankreich alle über Zemmour, und warum spricht der hauptsächlich über Immigration, Islamismus und Kriminalität? Im Dezember zählte der Kandidat im Livesender BFM auf, was seine Prioritäten als gewählter Staatspräsident wären: „Ganz einfach, ich werde noch vor der Sommerpause eine mehrteilige Volksabstimmung ansetzen“, sagte er, um dann deren Themen aufzulisten: „Ich will den Immigrationsstrom stoppen, das Wohnsitzprinzip [das jedem hier Geborenen die französische Staatsbürgerschaft verleiht, die Red.] abschaffen, die Familiennachführung unterbinden, das Asylrecht nur noch außerhalb Frankreichs verleihen, ausländische Delinquenten ausweisen und kriminellen Doppelstaatlern den französischen Pass wegnehmen.“

Gespräch mit Zemmour-Anhängern

Radikal klingt dies auch, weil Zemmour den Eindruck vermittelt, dass er seine Ideen wirklich umsetzen will. Und ob in den Städten oder auf dem Land – der polemische Publizist kommt an. Auch im eleganten, gebildeten, christlich-konservativen Versailles. Wir bitten Zemmours Team um einen lokalen Kontakt und erhalten bald eine Einladung. Treffpunkt ist in einer charmanten Villa, die nicht mehr ganz taufrisch ist, grün umrankt. Willkommen zum Kaffeekränzchen mit vier weißen Herren im besten Alter. Jean, Raphaël, Fabien und François, alle in Anzug und Krawatte, sind Initiatoren eines lokalen Komitees zur Unterstützung Zemmours.

Neben der Sitzgruppe steht ein Cembalo, auf dem Sofatisch liegen Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Auf Deutsch, wohlgemerkt – in Versailles ist Bildung keine Floskel. Das Gespräch beginnt mit der Frage, ob Debussy ein Anti-Wagner gewesen sei, und kommt in Fahrt, als wir Macron en passant auf der rechten Mitte verorten. „Macron steht nicht rechts“, unterbricht Jean, von Beruf Buchhalter. „Er steht nirgends.“

In medias res also. Und Zemmour, ist er nicht rechtsextrem? „Nein, das sagen nur die Medien hier“, dementiert Fabien und schüttelt den Kopf. „Es gibt in Frankreich durchaus Rechtsextremisten, etwa Alain Soral von Égalité et Réconciliation“, erklärt der Kunstexperte und -liebhaber, parteiloses Mitglied des Versailler Gemeinderats. „Aber Zemmour ist nicht extrem, er ist auch nicht reaktionär, sondern Patriot und Souveränist.“ Um ein Beispiel zu nennen: Der Entscheid des Schweizer Stimmvolks, Minarette zu verbieten, liege ganz auf Zemmours Kurs. „Und die Schweizer sind ja auch nicht alle Rassisten“, meint Fabien. Zemmour stamme aus Algerien und von jüdischen Eltern ab, er sei kein Fremdenfeind, er verlange nur, dass sich alle Zuwanderer assimilieren, also die Sitten und Bräuche ihres neuen Landes akzeptieren. „Wer sich assimiliert, ist willkommen.“ Und dass Zemmour keine Trennlinie zwischen Islam und Islamismus zieht? Ja, bekennt Fabien, man könne nicht für einen Islam sein, der die westliche Kultur durch das islamische Recht der Scharia ablösen wolle. „Und der klar eine Ideologie der Eroberung verkörpert.“

„Affäre Gims“

Raphaël, der Jüngste im Kreis, Ex-Republikaner und Neo-Zemmourist, erwähnt die „Affäre Gims“. Der kongolesische Sänger ist ein Superstar in Frankreich, mischt Rap mit Mainstream-Pop. Und er twitterte nach Neujahr, man solle doch bitte aufhören, ihm „frohe Weihnachten“ oder „gutes Neues Jahr“ zu wünschen – das gebe es in seiner Kultur nicht. Damit entfachte er in den sozialen Medien einen Entrüstungssturm, musste zurückrudern. Raphaël findet diesen Zwischenfall umso bezeichnender, als Gims in Kinshasa als Christ aufgewachsen war und erst nach seiner Ankunft in Frankreich zum Islam übertrat.

Der Ingenieur in den Dreißigern holt aus: „Die Affäre Gims geht in Frankreich deshalb nicht durch, weil sie das französische Modell infrage stellt. Mein Land ist nicht multikulturell. Wer hier lebt, hat den Wunsch, hier zu leben – zusammenzuleben, mit gemeinsamen Regeln. In Frankreich sind alle gleich, sie leben angetrieben vom Wunsch, Franzosen zu sein. Ohne diese gemeinsame Basis fällt das Land auseinander.“ Jetzt ergreift auch François, ein weißhaariger Event-Unternehmer mit würdiger Aura, das Wort. „Es geht um unsere Zivilisation“, sagt er feierlich. „Es geht um Frankreich, es geht um die Freiheit. Und es geht darum, mit 40 Jahren Augenverschließen Schluss zu machen. Alle Präsidenten seit de Gaulle, ob Sozialisten oder Konservative, haben vor der Immigration die Augen verschlossen.“

Was weniger bekannt ist: Gims ist ein guter Freund der Republikanerin Valérie Pécresse. Fabien kennt sie gut; eine seiner Töchter ging mit ihrer Tochter zur Schule. Der alteingesessene Versailler hält nicht viel von der aktuellen Präsidentschaftskandidatin. Sie lüge und sei wankelmütig wie ihre Parteifreunde Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac. Heute, da der Wind von rechts wehe, verlange die Vorsteherin des Pariser Regionalrats plötzlich Einwanderungsquoten, doch ihre Ausländerpolitik bestehe nur aus Worten, nicht aus Taten.

Islamisierung in Versailles?

„Und deshalb ist Zemmour auch kein Rechtsextremist!“, sagt Fabien noch mal. Der lasche Opportunismus der Großparteien erkläre, warum ihr der Autor so vieler Geschichtsbücher mit seiner konsequenten Haltung als gehässig, gar aggressiv gelte: „Wer sich gegen einen dominierenden, seit Jahrzehnten verharmlosenden Diskurs auflehnt, stört notgedrungen die gute Ordnung, eckt eben an.“ Vor allem anderen gelte das für die Immigration, der Frankreich seit den sechziger und siebziger Jahren Tür und Tor geöffnet habe, ohne die Konsequenzen abzusehen.

Doch wo machen sich die Konsequenzen in Versailles bemerkbar? Männer in knöchellangen Dschellabas sieht man nicht einmal in Jussieu. Jean räumt ein, es gebe in Versailles sehr viele assimilierte Maghrebiner. Farid etwa, der Leiter des kleinen Supermarkts Franprix, habe ihm kürzlich verschiedene Schweinefleisch-Menus gepriesen. Kein Wort von religiösen Vorschriften. Aber in der dritten Generation der Banlieue-Kids gehe der Trend in die andere Richtung, hat Jean festgestellt: „Sie wollen Neujahr eben nach islamischem Kalender feiern. Sie assimilieren sich nur oberflächlich.“

Welcher Trend obsiegt in Versailles – Assimilierung oder Islamisierung? Probe aufs Exempel im städtischen Infomagazin. Zwischen September und November wurden demnach in der Stadt westlich von Paris 57 Geburten registriert; 17 Babys haben einen afrikanisch klingenden Namen. Bei den Jungen aus Immigrantenfamilien gibt es anders als früher keine europäischen Vornamen mehr. Von den Mädchen heißen deren drei Liliane, Iris oder Emilia.

Feldstudie in den „cités“

Die vier Zemmouristen sind sich einig, dass die Lage in Versailles noch unter Kontrolle sei – weil sie auch kontrolliert werde. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Die westliche Lebensweise steht in der Königsstadt nicht unter Druck. Anderswo vielleicht schon. Vor gut einem Jahr hat eine Umfrage des Instituts Ifop gezeigt, dass 57 Prozent der 15- bis 24-jährigen Muslime in Frankreich der Meinung sind, das islamische Gesetz stehe über der republikanischen Rechtsordnung. Noch bemerkenswerter: Die Zahl nimmt zu; fünf Jahre zuvor, im Jahr 2016, hatten „nur“ 47 Prozent der jungen Muslime Frankreichs die Scharia als vorrangig bezeichnet. Assimilierung geht anders.

Die staatliche Bildungsakademie organisierte 2021 in Versailles eine viel beachtete Konferenz am Nationalen Professur-Institut (Inspe). Dabei erzählte der Politologe Bernard Rougier von den Feldstudien, die er für sein Buch „Die vom Islamismus eroberten Territorien“ betrieben hat. Rougier hatte maghrebinische Studenten in die „cités“ geschickt, wo sie sich umhören sollten. Sie rapportierten, dass Salafisten das Kommando über Wohnblöcke und ganze Siedlungen übernähmen. Wie sie Bekleidungsvorschriften für Frauen einführen, Männern im Sportverein das Duschen nur noch in Unterhosen erlauben; wie sie in den Schulkantinen religiös korrekte Menus durchsetzen und in Schwimmbädern getrenntgeschlechtlichen Unterricht. Wie sie Schüler dazu anhalten, den Geschichtslehrer zu unterbrechen, wenn er den Holocaust thematisieren will. Sie tadeln Eltern, wenn deren Tochter in der „cité“ Lippenstift aufträgt. Sie verteilen Kredite an Not leidende Familien, unter der Hand sogar die Sozialwohnungen; aber sie greifen nicht ein, wenn die Jungs Mülleimer in Brand stecken, um die anrückende Feuerwehr mit Pflastersteinen zu bewerfen.

All das passiert nicht in Versailles, sondern in 150 über ganz Frankreich verstreuten „cités“, den schlimmsten, jenen, die laut dem Inlandsgeheimdienst DGSI salafistisch unterwandert sind.

Islamistischer Terror

Jean, Raphaël, Fabien und François zucken nur die Schultern: nichts Neues an der Banlieue-Front. Die mörderischen Anschläge auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo (zwölf Tote), auf das Konzertlokal Bataclan (131 Tote) oder die Strandpromenade von Nizza (86 Tote) vor einem Halbdutzend Jahren sprechen sie nicht von sich aus an. Nicht einmal die Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty Ende 2010 in Conflans-Sainte-­Honorine, gut 20 Kilometer von Versailles entfernt, wird thematisiert. Solche Tragödien stehen für sich. Sie haben Frankreich zu stark traumatisiert, um politisch ausgeschlachtet zu werden.

Aber alle wissen: Was in Conflans passierte, hätte auch in Versailles passieren können. Der tschetschenische Attentäter, als Flüchtlingskind nach Frankreich gekommen, lebte in einem Ort westlich von Versailles. Zu seinem ins Internet gestellten Foto von Patys Kopf textete er: „Von Abdullah, Diener Allahs, für Macron, den Anführer der Ungläubigen: Ich habe einen deiner Höllenhunde exekutiert, der es gewagt hat, [den Propheten] Muhammad zu erniedrigen.“

Nach der Ermordung Patys wurde ein 18-jähriger Sänger namens Maka zu mehreren Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil er in einem Song gerappt hatte: „Zerschneiden wie Samuel Paty, ohne Empathie.“ Die Nationalversammlung in Paris verabschiedete als Reaktion auf den Paty-Mord ein Gesetz gegen den „Separatismus“, wie es Macron nannte, um das Wort „Islamismus“ nicht verwenden zu müssen. Der Erlass schafft unter anderem einen Straftatbestand der „Beeinträchtigung der Lehrtätigkeit durch Drohungen in den sozialen Medien“. Er war noch nicht in Kraft, da wurde im beschaulichen Rambouillet, 25 Kilometer südwestlich von Versailles, eine Polizistin zu Allahu-Akbar-Rufen erstochen. Da sich der Täter, ein depressiver 37-jähriger Tunesier, offenbar über das Internet radikalisiert hatte, erfanden Macrons Juristen ein neues Delikt, den „Besuch extremistischer Webseiten“.

Pamphlet pensionierter Generäle

Der Staatspräsident ließ dazu eine Charta ausarbeiten, die er dem islamischen Zentralrat CFCM zur Unterschrift vorlegte. Das Dokument verlangt die Einhaltung von Prinzipien wie der Gleichstellung von Mann und Frau sowie der Ablehnung von Homophobie, Antisemitismus und Gewalt. Doch einige CFCM-­Mitglieder, darunter zwei türkische Organisationen, verweigern die Unterschrift. Macron kündigte ferner an, die in Frankreich predigenden Imame, heute meist aus Algerien, Marokko oder der Türkei stammend, müssten ab 2024 in Frankreich ausgebildet werden. Die Umsetzung macht allerdings keine Fortschritte.

Auf all das kommen die Versailler Zemmouristen nicht zu sprechen. Aber im politischen Grundrauschen machen sich die Terror­anschläge durchaus bemerkbar. Der Damm der politischen Zurückhaltung brach im vorigen Frühjahr, als eine Gruppe pensionierter Generäle ein Pamphlet gegen die „Banlieue-Horden“ verbreitete und eine Art Militärputsch zur Wiederherstellung der staatlichen Autorität empfahl. Die Autoren erwiesen sich als Sympathisanten von Le Pen. Überraschenderweise befürworteten aber laut Umfrage 58 Prozent der Franzosen den Inhalt der Brandschrift.

„Bruch in der öffentlichen Meinung“

Die liberale Zeitung Le Monde hat konstatiert, dass der Paty-Mord offensichtlich „einen Bruch in der öffentlichen Meinung“ bewirkt habe. Das glaubt auch das vierköpfige Zemmour-Komitee in Versailles. Die etablierten Kandidaten Macron und Pécresse führten zwar die Meinungsumfragen an, sagt der enttäuschte Republikaner Raphaël. „Doch wie ich in der Stadt überall höre, wird die Basis der Republikaner heute stramm rechts wählen.“ Nicht unbedingt für Le Pen – von ihr trennen die Gaullisten historische Abgründe, die bis auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehen. Für die gaullistische Résistance bleiben die Nazi-­Kollaborateure um Marschall Pétain, von denen viele Lepenisten geworden sind, Erzfeinde.

Doch hat nicht auch Zemmour für Pétain Partei ergriffen, als er sagte, der Nazi-Kollaborateur habe französische Juden gerettet? Fabien springt auf: Zemmour sei keineswegs Pétainist, er habe mit seiner Feststellung im Jahr 2014 über der offiziellen Geschichtsschreibung nur den Deckel heben wollen; nicht zufällig werde das Thema von seinen Gegnern erst jetzt ausgeschlachtet. Das stimmt womöglich – aber ein schwerer Fehler war Zemmours Spruch dennoch. Der Publizist hat in den Umfragen nach seinem fulminanten Aufstieg Ende 2021 einige Punkte verloren und liegt nun hinter Macron, Pécresse und Le Pen. Thematisch beherrscht er die Debatte jedoch weiter, darin sind sich Freund und Feind einig.

Wo ist die Linke?

Aber wo ist bei alledem eigentlich die französische Linke? In den Umfragen auf nationaler Ebene dümpeln ihre Kandidaten am unteren Rand. Weder der „Unbeugsame“ Jean-Luc Mélenchon noch der Grüne Yannick Jadot noch die Sozialdemokratin Anne Hidalgo kommen auf 10 Prozent. Sie stehen einander gegenseitig auf den Füßen, zumal nun auch die populäre Ex-Justizministerin Christiane Taubira mitmischen will.

Das ist aber nicht der einzige Grund dafür, warum die Linkskandidaten im April nur eine Statistenrolle spielen werden. Zu den zentralen Themen Immigration, nationale Identität oder Sicherheit haben sie schlicht nichts zu sagen. Nur Mélenchon plädiert für die „Kreolisierung“, die ethnische Durchmischung der französischen Gesellschaft. Das ist insofern mutig, als er weiß, dass er damit garantiert keine Mehrheit finden wird. Die Sozialisten und Grünen zaudern und lavieren, seit #Metoo tief gespalten wegen der Frauenfrage: Anders als die Migranten-Fraktion lehnen die Feministinnen die männlich dominierte Gesellschaftsvision des Islam vehement ab. Die Kritik daran verbergen sie hinter ihrem Einstehen für den religionsneutralen „Laizismus“ französischer Prägung. Die Rechtskandidatinnen wie Le Pen oder Pécresse scheuen sich derweil nicht zu erklären, der Islam könne für die westlichen Frauen nur Unfreiheit bedeuten.

Frankreich wird anders wählen als Deutschland

Der sozialistische Ex-Innenminister Bernard Caze­neuve, ein Realo, reitet neuerdings wütende Breit­seiten gegen seine Partei, die sich „eher mit Minderheiten befasst, als dass sie die Mehrheit anspricht“. Lieber verteidige sie die „Cancel Culture“ und den „Wokeis­mus“, als dass sie für die Kaufkraft der Arbeiter oder der Mittelklasse kämpfe.

In Versailles scheinen die Sozialisten wie ausgestorben. Um eine Kontaktadresse gebeten, lässt der Parteivertreter des Departe­ments Yve­lines ausrichten, das sei leider nicht möglich: „Die Sektion Versailles des Parti Socialiste ist derzeit inaktiv.“ Es klingt verrückt, aber die einst stolze Partei von François Mitterrand, Michel Rocard und Lionel Jospin ist in der Präsidentschaftswahl 2022 außer Gefecht. Frankreich wird, so darf vermutet werden, diesmal ziemlich anders wählen als Deutschland. Nicht links, nicht grün – und erst recht nicht gut gelaunt. Eher, würde man sagen: aus dem Bauch heraus.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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