EU-Kommissionspräsidentin - Von der Leyen wäre nicht verkehrt

Die Hinterzimmer-Nominierung Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin der EU hat zu Empörung geführt. Dies hat der europäischen Demokratie geschadet. Dennoch spricht einiges für die jetzige Verteidigungsministerin

Auch wenn sie auf EU-Ebene bis jetzt wenig Erfahrung hat, ist Ursula von der Leyen eine überzeugte Europäerin / picture alliance
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Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Er unterrichtet politischen Journalismus.

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Der Zorn im Europäischen Parlament und in vielen Mitgliedsstaaten ist groß und verständlich: Nach wochen- und nächtelangem Gezerre haben die Staats- und Regierungschefs eine Kandidatin für das wichtigste Amt der Europäischen Union aus dem Hut gezaubert, die niemand außerhalb ihres intransparenten Kreises auf dem Zettel hatte. Und die bei der Europawahl auf keinem Wahlzettel stand. Das widerspricht fundamental dem Bestreben der Abgeordneten, dem Parlament als Vertretung der europäischen Bürger mehr Macht gegenüber dem Rat zu verschaffen und die Staatengemeinschaft dadurch bürgernäher und demokratischer zu machen. So wie es ihnen 2014 erstmals gelungen war, als sie Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidaten der konservativen, christdemokratischen EVP für den Kommissionsvorsitz durchsetzen.

Dass es diesmal nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs wieder anders kommen soll und weder EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber noch der zweitplatzierte Sozialdemokrat Frans Timmermans an die Spitze der Kommission rücken sollen, bedeutet daher einen gravierenden Rückschritt. Falls das Parlament Urusla von der Leyen nicht noch verhindert. Die Abgeordneten müssen sie mit absoluter Mehrheit wählen. Ohne ihre Zustimmung kann sie nicht Juncker-Nachfolgerin werden. Allerdings kann das Parlament auch keinen anderen Bewerber oder eine alternative Bewerberin erzwingen. Denn das Vorschlagsrecht liegt nach den EU-Verträgen eindeutig beim Rat.

Es ist kompliziert

Bürger und Parlamente haben in der langen Geschichte der Demokratie immer wieder Macht gegen Herrschende erkämpft, manchmal in Revolutionen. Das ist in Europa nicht anders. Aber es ist komplizierter. Denn die EU ist kein Staat, wird es vielleicht niemals werden, sondern eine überstaatliche Organisation, mit nichts in der Welt vergleichbar. Die Kommission ist keine Regierung, sondern eine mächtige Behörde und „Hüterin“ der EU-Verträge. Und die Staats- und Regierungschefs sind ebenfalls demokratisch gewählt – in ihren jeweiligen Staaten.

Der Machtkampf zwischen ihnen und dem Parlament hat Parallelen zu Deutschland. Auch die Bundesrepublik entstand 1949 aus einem Zusammenschluss der wieder- oder neuenstandenen Länder in den drei Westzonen; seit 1990 gehören die ostdeutschen Bundesländer dazu. Die Macht ist austariert zwischen den Gliedsstaaten und dem Bund. Der Bundesrat muss den meisten Gesetzen zustimmen, auch wenn er nicht bundesweit gewählt wird. Niemand würde ihm seine demokratische Berechtigung absprechen. Anders als in der EU hat er bei der Wahl des Kanzlers oder der Kanzlerin allerdings nichts mitzureden.

Der Ausgang des Konflikts um eine Wahl oder Nichtwahl von der Leyens zur Präsidentin der Kommission wird viel darüber aussagen, ob die EU weiter auf dem Weg hin zu einer echten parlamentarischen Demokratie ist, einem Europa der Bürger. Oder ob der Rat als Vertretung der national Regierenden die Oberhand behält. Das wäre nicht gut. Aber es wäre auch keine Katastrophe.

Stärkung für die Demokratie 

Falls das Europäische Parlament von der Leyen in 14 Tagen trotz aller Widerstände bestätigt, wären sicherlich viele Bürger enttäuscht und verärgert. Sie haben sich so zahlreich wie lange nicht an der Europawahl beteiligt. Auch weil es galt, den Angriff der Rechtsnationalisten auf die EU abzuwehren. Was vorerst gelungen ist. Und es würde die Mehrzahl der Abgeordneten schwer frustrieren. Trotzdem könnte ein Erfolg von der Leyens und des Rats paradoxerweise die europäische Demokratie im Endeffekt stärken: Die CDU-Politikerin muss auf die Abgeordneten zugehen, wenn sie eine Chance haben will.

Die haben dadurch, quer durch die Fraktionen, die Chance, als Preis für ihre Wahl auch inhaltlich eine Menge durchzusetzen. Von der Leyen wird ihnen wie der Rat zusichern müssen, dass beim nächsten Mal in fünf Jahren der oder die nächste Kommissionspräsident auf jeden Fall nach ihren Bedingungen ausgewählt wird. In einem transparenten parlamentarischen Verfahren. Nicht mehr hinter verschlossenen Türen im Rat. Möglicherweise gibt es dann auch transnationale Wahllisten, die dem Spitzenkandidatenverfahren erst die richtige Legitimation verschaffen würde.

Gegen von der Leyen gibt es auch als Person eine Menge berechtigte Einwände. Ihre Bilanz nach sechs Jahren als Verteidigungsministerin ist ziemlich negativ. Eine Reihe von Skandalen haften an ihr, allen voran die Berateraffäre, die nicht ausgestanden ist. Allerdings muss man zugestehen, dass sie einen Haufen Probleme – vor allem die finanziell und materiell mangelhafte Ausstattung der Bundeswehr – von ihren männlichen Vorgängern geerbt hat. Mit manchen Bemerkungen wie etwa der, dass die Bundeswehr mit Blick auf rechtsradikale Umtriebe in der Truppe ein „Haltungsproblem“ habe, hat sie Soldaten und Generäle gegen sich aufgebracht. Das spricht jedoch eher für sie. Dennoch hat sie von ihren großspurigen Ankündigungen, die Bundeswehr neu aufzustellen, zu wenig umgesetzt. Was indes auch an den Widerständen in deren Reihen, der Mammutverwaltung der Hardthöhe und der Rüstungsindustrie liegt.

Entschiedene Vertreterin Europas

Als Frauen- und Familienministerin hat sie sich erhebliche Verdienste erworben, zum Beispiel indem sie gegen Merkel – ihre Förderin – und ihre CDU eine gesetzliche Frauenquote in den Aufsichtsräten der Dax-Unternehmen erzwang. Für sie spricht zudem, dass mit ihr erstmals eine Frau an die Spitze der EU kommen und dort sicherlich weiter für die Interessen der Frauen und ihre Gleichstellung kämpfen würde.

Eine entschiedene Vertreterin Europas ist sie ohne Zweifel, auch wenn sie europapolisch – außer in ihre Rolle als Verteidigungsministerin – nicht sonderlich ausgewiesen ist. Sie hat vor nicht langer Zeit sogar von „Vereinigten Staaten von Europa“ gesprochen – zum Ärger in ihrer Partei. Und sie tritt schon lange für eine stärkere Verantwortung Europas in der Weltpolitik ein. Abzuwarten wäre, ob sie darunter nur militärisches Engagement und eine stärkere sicherheitspolitische Zusammenarbeit versteht, oder auch Europa als Friedensmacht.

In der Flüchtlingspolitik hat sie klar den Kurs von Merkel unterstützt. Allerdings wird auch sie da nicht viel bewegen können, solange sich vor allem Ungarn und Polen gegen eine Verteilung der Geflüchteten stellen und eine gemeinsame Asylpolitik in weiter Ferne bleibt. Im Konflikt mit den rechtsnationalen Regierungen in Budapest und Warschau und ihrem Verbündeten Matteo Salvini in Italien ist von ihr dieselbe entschlossene Haltung zu erwarten wie von Juncker und dessen Vize Timmermans, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Merkel zwischenzeitlich als Bewerber ausgeguckt hatten, nachdem Weber am Widerstand des französischen Präsidenten gescheitert war. Und der nach wie vor Favorit der Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken im Parlament ist.  

Gerechte Strafe

Alles in allem würde von der Leyen, trotz aller angebrachten Kritik an ihrer überraschenden Nominierung, eine starke, gute Kommissionspräsidentin, wenn sie denn gewählt wird. Sie wird es wie Juncker mit Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Xi Jingping aufnehmen. Und für eine weitere Demokratisierung Europas kämpfen.

Wie der Machtkampf ausgehen wird, ist schwer zu sagen. Dass die alte Groko von Christ- und Sozialdemokraten im EU-Parlament keine Mehrheit mehr hat, macht die Sache nicht leichter. Aber es verschafft dem linken und liberalen Lager Chancen, Einfluss auf die Agenda der Kommission für die kommenden fünf Jahre zu nehmen. Das kann nur gut sein. Vielleicht wird am Ende sogar eine Grüne oder ein Grüner Kommissar für Umwelt- und Klimaschutz. Eins der, wenn nicht das wichtigste Thema auch für Europa.

Das bedenklichste an der Nominierung von der Leyen ist freilich: Victor Orbán und Matteo Salvini können sich rühmen, dass sie Timmermans verhindert haben. Nicht weil sie wie Macron und andere Regierungschefs gegen das Spitzenkandidatenprinzip sind. Sondern weil er die Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn vorgangetrieben hat und es gegen Italien genauso tun würde. Und weil sie generell gegen ein starkes, geeintes Europa sind. Von der Leyen ist die gerechte Strafe für sie.

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