EU-Impfkampagne - Unter Verdacht

Wegen eines umstrittenen Impfdeals steht Ursula von der Leyen unter Beschuss. Mittlerweile ermittelt die Europäische Staatsanwaltschaft – und das ein Jahr vor den Europawahlen.

Der SMS-Verkehr von Ursula von der Leyen mit dem Pfizer Chef ist bis heute nicht aufgetaucht / Peter Rigaud, laif
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Frédéric Baldan lacht. Es ist kein lautstarkes Gelächter. Nicht so, wie Franz Kafka einst gelacht haben soll, von dem sein Freund Max Brod gerne erzählt hat, er sei beim Vorlesen aus seinem Roman „Der Prozess“ oft in ein derart lautes Gekicher eingefallen, dass er die Lesung für mehrere Minuten habe unterbrechen müssen. Frédéric Baldan lacht eher leise. Sein rundes Gesicht wird dabei jedes Mal weit auseinandergezogen, und seine rechteckige schwarze Brille verrutscht ihm leicht auf der Nase.

Der Anlass von Baldans Gelächter aber, er dürfte wohl ganz ähnlich sein wie einst der von Kafka. Da kommt ein Mann vor das Gesetz, und was er dort erlebt, das ist ein irrer Film: Frédéric Baldan nämlich hat eine Klage eingereicht. Dem 35-jährigen belgischen Lobbyisten mit Schwerpunkt chinesisch-europäische Handelsbeziehungen ist vor einigen Wochen schlicht der Kragen geplatzt. Irgendwann sei es zu viel geworden, sagt er; da habe er gehandelt: Bei einem Untersuchungsrichter in seiner Heimatstadt Lüttich habe er an einem verregneten Apriltag, es muss der Mittwoch vor Ostern gewesen sein, eine Zivilklage eingereicht. Nicht gegen irgendwen, sondern gegen Ursula von der Leyen, die derzeitige Präsidentin der Europäischen Kommission.

Als von der Leyen der Geduldsfaden riss

„Ausgerechnet ich“, sagt Baldan – und muss sich bei diesem Gedanken schon wieder die Brille ein Stück zurechtruckeln: „Ein Lobbyist, der bei den europäischen Institutionen akkreditiert ist, verklagt die höchste Frau in der EU wegen Amtsanmaßung, Vernichtung von Dokumenten sowie Kompetenzüberschreitung und – Korruption.“ Das habe doch auch eine humoristische Seite, gesteht er offen. Doch wenn es um die Inhalte seiner Klage geht, dann ist selbst bei einem wie Baldan schnell Schluss mit lustig. Schließlich geht es um Geheimniskrämerei im Zusammenhang mit Milliarden­summen: „Jeder, der die Gesetze kennt, sieht doch, dass Ursula von der Leyen vor aller Augen die Transparenzregeln der EU verletzt.“ 

 

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Frédéric Baldan ist außer sich. Denn er ist wohl das, was man einen engagierten Bürger nennt. Als er noch jünger war, sagt er, habe er gegen die Korruption von Lokalpolitikern in Lüttich gekämpft. Später habe er Anfragen an die Regierung gestellt: in seiner belgischen Heimat, aber auch bei den EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg. Dabei ging es eigentlich immer um das Gleiche: Korruption und das Recht des Bürgers auf Transparenz. Er kenne die Gesetze, sagt Baldan daher selbstbewusst. Und er wisse: Ohne Zugang zu den wichtigen Informationen, aber auch ohne Zugang zur Justiz sei die europäische Demokratie eigentlich am Ende.

Der belgische Lobbyist Frédéric Baldan in einem Büro in Brüssel / Marcus Simaitis

Das, was Frédéric Baldan heute so wütend macht, liegt streng genommen mehr als zwei Jahre zurück. Es muss an einem Februartag des Jahres 2021 gewesen sein. Mitten in der damaligen Corona-­Krise, in der sich die gesamte Welt im Impf-Marathon gegen das Virus befand, muss Ursula von der Leyen plötzlich der Geduldsfaden gerissen sein. Während sich die Regierungen in Washington und London nämlich bereits unzählige Dosen der rettenden Vakzine gesichert hatten, kommt die EU-Impfstoffbeschaffung nicht in Fahrt. Zwar hat man bereits im Sommer des Vorjahrs einen gemeinsamen Lenkungsausschuss für die Beschaffung der heiß begehrten Vakzine eingerichtet, dessen Erfolgsmeldungen aber bleiben unter den Erwartungen. Immer öfter werden in den Medien jetzt Fragen laut: Wie kann es sein, dass einige der schnell zur Verfügung gestellten neuen Impfstoffe zwar in Europa erforscht und produziert worden sind, aber nun vor allem in den USA und in Großbritannien verimpft werden? Hat man zu wenig Geld für die Beschaffung in die Hand genommen? Oder hat man gar aufs falsche Pferd gesetzt?

Impfstoff-Verhandlungen per SMS

Besonders in der Kritik: die zyprische Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Mit der Pandemie steht die damals 64-Jährige über Nacht unter besonderer Beobachtung. Doch von der Leyens Gesundheitskommissarin scheint der Krise nicht gewachsen zu sein. 1,36 Milliarden Impfdosen hat die EU als zentraler Verhandlungspartner für die 27 Mitgliedstaaten bei Pharmakonzernen wie Astrazeneca, Jansen oder Pfizer/Biontech zu diesem Zeitpunkt bestellen können.

Das belegen noch heute die Zahlen des Europäischen Rechnungshofs. Weitere 1,21 Milliarden sind zugesichert worden (Stand 1. Februar 2021). Heruntergebrochen auf die 450 Millionen EU-Bürger bedeutet das, dass im nicht enden wollenden Lockdown-Winter 2020/2021 immerhin drei Impfdosen pro Bürger bereitstehen und über eine vertragliche Option weitere 2,7 Dosen abgerufen werden können. Doch Produktionsengpässe drosseln immer wieder das Liefertempo.

Pfizer-CEO Albert Bourla schätzte in den Verhandlungen
von der Leyens Fachwissen / Bryan Derballa

Der öffentliche Druck und die in Teilen künstlich befeuerte Angst sind also immens groß. In dieser Situation ergreift Kyriakides’ Chefin irgendwann selbst die Initiative. Laut einem Artikel der New York Times aus dem April 2021 soll Ursula von der Leyen von Februar des fraglichen Jahres an in ständigem Austausch mit Albert Bourla, dem damals 59-jährigen CEO von Pfizer, gestanden haben: per Telefon, vor allem aber auch per SMS. Einen Monat lang sollen sich die beiden Textnachrichten hin- und hergeschickt haben. Das Ergebnis: „Pfizer könnte der Union mehr Dosen anbieten – viel mehr. Und die Europäische Union wäre begeistert, sie zu haben.“

So zumindest schildert es später Matina Stevis-­Gridneff, Brüssel-Korrespondentin der New York Times. Und der Europäische Rechnungshof scheint ihre Schilderungen zu bestätigen. Laut eines Sonderberichts von 2022 soll von der Leyen damals Vorverhandlungen über einen Vertrag mit Pfizer/Biontech geführt haben: „Dies war der einzige Vertrag, bei dem das gemeinsame Verhandlungsteam entgegen dem Beschluss der Kommission über die Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen nicht in diese Verhandlungsphase einbezogen wurde.“ Ein Vertrag übrigens, bei dem der Preis pro Dosis auf einmal um unerklärliche 25 Prozent nach oben geschossen ist – von ursprünglich 15,50 Euro auf 19,50 Euro.

„Ursula von der Leyen hat sich eines Vergehens schuldig gemacht.“

Frédéric Baldan will das jetzt alles genauer wissen. Das ist der eigentliche Grund hinter seiner Strafanzeige gegen die Kommissionspräsidentin. Schon jetzt nämlich sieht er in deren Verhalten eine klare Kompetenzüberschreitung; ein Vergehen, das mittlerweile sowohl ihm als Bürger als auch seiner Regierung in Brüssel teuer zu stehen gekommen ist. Doch noch etwas anderes bereitet dem engagierten belgischen Lobbyisten Sorge: Die SMS, die damals die Grundlage für den Deal mit Pfizer über insgesamt 1,8 Milliarden Impfdosen im Wert von 35 Milliarden Euro – dem laut Rechnungshof umfangreichsten Vertrag über Covid-19-Impfstoffe – waren, sind nicht mehr auffindbar, zumindest sind sie nicht öffentlich zugänglich. „Es gibt da nur zwei Möglichkeiten“, spekuliert Baldan: „Möglichkeit eins: Die Kommissionspräsidentin hat die SMS bewusst gelöscht. Das wäre offensichtlich eine Straftat. Oder Möglichkeit zwei: Sie hält die Kurznachrichten bis heute unter Verschluss. Dann ist das nach belgischem Recht ebenfalls strafbar.“ Immerhin nähme sie dann nämlich den Menschen das zugesicherte Recht, Einblick in die Unterlagen zu bekommen. 

„So oder so“, schließt Baldan in Begleitung seiner Anwältin Diane Protat die komplexen Ausführungen: „Ursula von der Leyen hat sich eines Vergehens schuldig gemacht. Streng genommen ist sie sogar Wiederholungstäterin“, wie Baldan mit Verweis auf die sogenannte „Berateraffäre“ während von der Leyens Zeit als deutsche Verteidigungsministerin hinzufügt. Damals, im August 2019, habe die heutige Kommissionspräsidentin schon einmal Kurznachrichten verschwinden lassen. Auf Anweisung ihres Ministeriums seien damals alle Mobilfunkdaten bei laufenden Untersuchungen gelöscht worden. Frédéric Baldan nennt so was „kriminelle Energie“.

2020 begann das Rennen um die Impfstoffe: In den USA standen sie ab dem 15. Dezember parat / Szdave Sander

Und er ist mit diesem Urteil beileibe nicht der Einzige. Denn unzählige Stellen haben bis dato versucht, Einblicke in den Nachrichtenverkehr zwischen von der Leyen und Pfizer-Chef Bourla zu bekommen. Vergeblich. Dabei liest sich die Liste der Interessenten mittlerweile wie das Teilnehmerfeld einer tragikomischen Donquichotterie: Als Erstes wäre da der deutsche Journalist Alexander Fanta zu nennen. Der hatte bereits im Mai 2021, angeregt durch den damaligen Artikel in der New York Times, einen Antrag auf Einsicht in die fraglichen SMS gestellt. Nachdem aber die Kommission seiner Aufforderung nicht nachgekommen war, schaltete Fanta im Juli desselben Jahres die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reily ein. 

Alle Instanzen verzweifeln an der Kommission

Die leitete vier Monate später zwar eine Untersuchung ein, biss bei der Kommission aber ebenfalls auf Granit. Offensichtlich frustriert gab O’Reily im Juli 2022 auf: Die Kommission habe „ein Jahr nach der Empfehlung des Bürgerbeauftragten immer noch keine Gründe vorgebracht, die sie daran hindern würden, eine umfassende Suche nach den Textnachrichten durchzuführen“, heißt es in einer abschließenden Stellungnahme, mit der zugleich auch ein offener Missstand in der Verwaltung angeprangert wird. 

Ein Missstand, der in Brüssel seit langem Methode zu haben scheint. So zumindest hat es ein Rechercheverbund, bestehend aus Journalisten zahlreicher europäischer Tageszeitungen – darunter auch Alexander Fanta – jüngst festgestellt. Demnach sei die Kommission bereits seit Juli 2015 dazu übergegangen, E-Mails und Chatnachrichten nach kurzer Zeit wieder zu löschen; zudem habe sie auch den im Informationsfreiheitsgesetz zugebilligten Zugriff Außenstehender auf Dokumente seit sieben Jahren bereits eingeschränkt. Eine fragwürdige Praxis, so Fanta. Mit ihr behindere die Kommission nicht nur die öffentliche Kontrolle ihrer Arbeit, sondern breche auch ihre eigenen Transparenzversprechen. Schließlich ist das einstmals im Verwaltungsrecht geltende Aktengeheimnis längst ein Relikt des 19. Jahrhunderts; abgelöst vom Grundsatz der Aktenöffentlichkeit, der in der Praxis jedoch immer wieder ignoriert wird.

2021 heiß begehrt, heute im Überfluss vorhanden: mRNA-Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 / dpa

Doch zurück zu den nicht mehr auffindbaren SMS der Kommissionspräsidentin: Nachdem also auch die Bürgerbeauftragte gescheitert war, war als Nächstes der Europäische Rechnungshof an der Reihe. In seinem Sonderbericht zur Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen durch die EU prangerte er die Missstände in der Kommission für alle Welt offen sichtbar an: „Der Hof ersuchte die Kommission, ihm Informationen über die Vorverhandlungen zu diesem Vertrag (…) zur Verfügung zu stellen. Es wurden jedoch keine Informationen übermittelt“, heißt es über den sogenannten dritten Pfizer-­Deal in einer Tonlage, für die es fast nur noch ein Wort gibt: Verzweiflung.

Klagen von allen Seiten

Denn derweil war auch bei zahlreichen Parlamentariern im Europaparlament das Maß voll: Eine Gruppe vornehmlich Grüner Abgeordneter, darunter die deutsche Parlamentarierin Jutta Paulus, reichte am 22. Oktober 2021 Klage beim Europäischen Gerichtshof ein: „Wir Abgeordnete fordern nichts Geringeres, als die Interessen der Menschen zu vertreten – und dazu gehört selbstverständlich der lückenlose Zugang zu den Verträgen mit den Impfstoffherstellern“, so Paulus, der es dabei nicht nur um die verschwundenen SMS, sondern vor allem um die darüber hinaus ohnehin schon bestehenden Schwärzungen in den bis dato bekannten Vertragsdokumenten geht.

Das Verfahren vor dem EuGH läuft bis heute – und das, ohne dass sich die Kommission je öffentlich dazu geäußert hätte. Selbst als sich schließlich die New York Times am 25. Januar dieses Jahres dazu durchrang, Klage beim EuGH wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1049/2001 sowie gegen Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einzureichen, hüllte sich die Kommission in Schweigen. Auf Anfrage des Cicero hieß es lediglich, man müsse „sensible Geschäftsinformationen“ geheim halten. 

Und dann also Frédéric Baldan: Mit seiner Klage in Lüttich glaubt er nun, die Immunität von der Leyens aufheben zu können, um so endlich Einsicht in die begehrten Unterlagen zu bekommen. Ob das gelingen wird, wird sich noch erweisen. Aktuell wartet der zuständige Ermittlungsrichter in Lüttich noch auf Antwort der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg. Vor dem Gesetz braucht man eben viel Geduld. Wieder muss Baldan lachen.

10 Impfdosen pro EU-Bürger

Für den deutschen Verfassungs- und Europarechtler Volker Boehme-Neßler ist diese Geheimniskrämerei der eigentliche Skandal hinter dem ohnehin umstrittenen Impfdeal der Kommission: „Das Schweigen dokumentiert die Arroganz der Bürokratie“, so der Rechtswissenschaftler von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. „Man gibt sich in der Kommission nicht einmal die Mühe, eine Erklärung zu geben.“ Zwar könnten sensible Geschäftsinformationen das Gebot der Informationsfreiheit tatsächlich einschränken, doch sei dies eine Ausnahme, die eng ausgelegt werden müsse. „Es reicht nicht aus, sich auf sensible Geschäftsinformationen zu berufen, ohne genauer zu erklären, um was für Informationen es sich da handelt. Denn wer definiert dann am Ende, was alles sensibel ist?“

Zu all diesen Fragen aber äußert sich die Kommission nicht. Das mag auch damit zu tun haben, dass seit Oktober des vergangenen Jahres nun auch noch die für Geldwäsche und Korruption zuständige Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt. Der vorläufige Endpunkt hinter einem immer fragwürdiger werdenden Deal. 

Laura Codruta Kövesi ist die Leiterin der Europäischen Staatsanwaltschaft / dpa

Denn der steht längst auch inhaltlich in der Kritik. Niemand benötigt heute noch die Unmengen an Impfdosen, die die EU in den vergangenen Jahren geordert hat. Bis zu 4,62 Milliarden Dosen sollen es laut Europäischem Rechnungshof mittlerweile sein; das macht bis zu zehn Dosen für jeden Bürger – vom Kleinkind in Athen bis zur Urgroßmutter in Stockholm. Verbraucht aber wurden bis dato gerade einmal 976 Millionen Dosen. Und die Nachfrage stagniert seit Monaten. Obwohl die EU für die einstmals lebensrettenden Vakzine doch Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro unterschrieben hat. 

Nur Wahlkampf gegen die Christdemokraten?

Und mit dieser gigantischen Summe ist es nicht genug. Schließlich hatte Brüssel bereits im Mai 2020 weitere 1,4 Milliarden Euro allein schon für die Erforschung der Impfstoffe bereitgestellt. Laut einer jüngst vorgelegten Studie der Harvard Medical School sind so weltweit insgesamt 32 Milliarden Dollar aus öffentlicher Hand in die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen geflossen – und das zu einer Zeit, in der noch keine einzige Dose verimpft war.

Einige Kritiker sind daher längst der Meinung, der Steuerzahler habe dreimal für seine Immunisierung in die Tasche greifen müssen: Das erste Mal für die Forschung, ein zweites Mal zur Finanzierung der aufgeblähten Preise und ein letztes Mal für die Steuerzahlungen, die Pharmariesen wie Pfizer mittels geschickter Steuervermeidungsmodelle – etwa der Abwicklung über Luxemburger Holdings – immer wieder zu umgehen wissen. 

Der Christdemokrat Daniel Caspary indes, Vorsitzender der deutschen Gruppe der EVP, kann mit einer solchen Kritik nicht viel anfangen: „Wir waren damals in einer schwierigen Situation und haben Impfstoffe gebraucht. Es war also gut, dass Ursula von der Leyen das Thema zur Chefsache gemacht hat“, so der CDU-Politiker, der bis heute nichts gegen das damalige Prozedere einzuwenden hat. Die aktuelle Kritik bestünde aus rein politischen Spielchen, meint er gegenüber Cicero: „Linke und Grüne hauen da jetzt drauf, weil die Europawahl naht.“

Lob vom Pfizer-Chef für von der Leyen

Alles also nur ein politisches Spiel? Oder vielleicht auch nur eine politische Abwiegelung? Andreas Radbruch, bis vor kurzem Leiter des Deutschen Rheumaforschungszentrums in Berlin und zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung Präsident der European Federation of Immunological Societies (EFIS), interessiert Politik in diesem Fall wenig. Als Immunologe hat er eher wissenschaftliche Vorbehalte gegenüber von der Leyens Großbestellung. Es sei seiner Meinung nach nämlich Lehrbuchwissen, dass das Immunsystem bei zu vielen Impfungen irgendwann dichtmache. Wenn man das Immunsystem immer wieder mit dem gleichen oder einem sehr ähnlichen Impfstoff konfrontiere, so Radbruch, komme es zu einer negativen Rückkopplung; die Antikörper neutralisieren den Impfstoff. „Wir haben spätestens im November 2021 gewusst, dass es gegen Sars-Cov-2 eine sehr dauerhafte Immunität durch die ersten drei Impfungen geben würde.“

Die Bestellung derart großer Impfstoffmengen sei daher von Anfang an eine politische, mit Sicherheit aber keine wissenschaftliche Entscheidung gewesen: „Als europäischer Immunologen-Verband hatten wir in jenen Monaten eine Task-Force eingerichtet, doch wir sind zu keinem Zeitpunkt von der Politik kontaktiert worden.“

Gut möglich also, dass die promovierte Medizinerin Ursula von der Leyen zunächst geglaubt hat, es besser zu wissen als die europäischen Experten: Laut New York Times jedenfalls soll Pfizer-­Chef Albert Bourla in den Verhandlungen besonders das Fachwissen der Ende der 1980er Jahre approbierten Ärztin aus dem niedersächsischen Ilten gelobt haben: „Sie wusste Details über die Varianten, sie wusste Details über alles. Das hat die Diskussion viel engagierter gemacht“, so Bourla im Gespräch mit den Journalisten der amerikanischen Tageszeitung. Denen gestand er darüber hinaus auch noch etwas anderes: Er habe während der Vorverhandlungen ein „tiefes Vertrauen“, ja sogar eine „Bindung“ zu der Kommissionspräsidentin aufgebaut.

Eine Einladung zur Korruption

Doch was Ursula von der Leyen damals anscheinend nicht gewusst hat, das erklärt heute Immunologe Andreas Radbruch: „Seit Anfang 2021 war bekannt, dass man nach einer überstandenen Infektion eine langanhaltende Immunität hat – ungefähr so gut wie die Immunität gegen Tetanus. Bald danach wurde klar, dass man das auch mit drei oder vier Impfungen schafft.“

Warum man also mit dem dritten Pfizer-Deal, wie es 2022 auch der Europäische Rechnungshof bestätigt, das Impfstoffportfolio der EU zunächst bis 2023 geprägt hat, darüber kann nur spekuliert werden. Im Europäischen Parlament jedenfalls sind mittlerweile auch zahlreiche Abgeordnete unzufrieden mit der Geheimniskrämerei: „Die EU-Kommission führt uns an der Nase herum. Wir können unsere Kontrollfunktion nicht erfüllen“, sagt etwa der Liberale Andreas Glück, stellvertretender Vorsitzender eines Covid-­Sonderausschusses im EU-Parlament. Seiner Meinung nach sei es zwar richtig gewesen, dass man den Impfstoff gemeinsam für alle Länder beschafft habe, in Zukunft aber müsse das transparenter werden.

Denn längst zeigt der laxe Umgang mit der Offenlegung unangenehme Nebenwirkungen. So kam jüngst eine Untersuchung der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit der Erasmus Universität Rotterdam und der Universität Rom zu dem besorgniserregenden Ergebnis, dass die drastische Lockerung von Vorschriften während der Corona-Krise zu einer Zunahme der Korruption im öffentlichen Beschaffungswesen geführt habe. Zu diesem Anstieg trügen die Unklarheit der Regeln sowie der allgemeine Einfluss politischer Akteure auf die öffentliche Verwaltung bei. Besonders im Visier: die Europäische Kommission. Die nämlich hatte im April 2020 empfohlen, die Beschaffungsbemühungen für eine koordinierte europäische Pandemiebekämpfung durch beschleunigte Verfahren, Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung und den Verzicht auf wettbewerbliche Ausschreibungen in dringenden Situationen zu erleichtern.

Transparenz predigen und Schweigen praktizieren

Zumindest auf nationaler Ebene sind die Folgen solcher Regelherabsetzung bereits sichtbar. Besorgniserregend, so schreibt es das Forscherteam um die deutsche Verwaltungswissenschaftlerin Eva Thomann, sei nämlich nicht nur, dass es eine deutliche Zunahme an Korruption in Bereichen des öffentlichen Gesundheitsschutzes gebe, sondern dass aktuelle Daten darauf hindeuteten, dass sich die Korruptionsraten in Deutschland und Italien langfristig angeglichen haben und offenbar auch nach der Pandemie auf einem bedenklichen Niveau verbleiben.

Transparenz ist also kein leichtfertig zu verspielender Ballast. Doch scheint sie mit der Pandemie immer weiter unter Druck geraten zu sein: „Wir können nach der Krise sehen, wie sich viele Institutionen immer mehr verschließen“, sagt etwa der belgische Antikorruptionsspezialist Christophe Van Gheluwe: „Auf der einen Seite fordern Bürger heute mehr Zugang zu Informationen; auf der anderen Seite aber haben wir Behörden, die diese Informationen nicht bereitstellen. Für mich besteht darin ein großes Risiko für die Demokratie“, so Van Gheluwe Mitte Juni bei einer Anhörung von EU-Parlamentariern in Paris. Die französische Europaabgeordnete Michèle Rivasi beschreibt es noch eindrücklicher: „Je mehr die Institutionen selbst von Transparenz sprechen, desto weniger ist diese Transparenz gegeben.“

Und das anhaltende Gezänk um die Pfizer-Verträge scheint Rivasi recht zu geben. Denn mittlerweile ist der Kampf um die Impfstoffe in eine neue Runde gegangen: Auf Druck zahlreicher Mitgliedstaaten, die keine sinnvolle Verwendung mehr in den aktuell vorhandenen Dosen sehen und angesichts der massenhaften Vernichtung von bereits gelieferten Impfstoffen von einer Verschwendung der Gesundheitsgelder sprechen, hat die EU die umstrittenen Verträge noch einmal nachverhandelt.

Die Bürger können über die Kosten nur spekulieren

Demnach sollen von den 900 Millionen Anfangsdosen, die ursprünglich bis Ende dieses Jahres zugesagt waren, nur noch 450 Millionen Dosen geliefert werden. Dosen, die kein Mensch mehr braucht. Die Lieferung weiterer 210 Millionen Dosen soll laut einem Bericht der Financial Times bis Ende 2026 gestreckt werden. Und für jede nicht mehr gelieferte – und vermutlich auch nicht produzierte Impfdosis – zahlt die EU fortan nur noch den halben Preis. Wie hoch der genau ist, bleibt ein Geheimnis. 
In den USA jedenfalls haben erste Impfstoffhersteller bereits eine massive Preiserhöhung angekündigt. Gerüchten zufolge will Pfizer den Preis von 20 Dollar je Dosis auf 110 Dollar erhöhen. 

Dennoch haben 24 EU-Mitgliedstaaten den Vertragsänderungen zugestimmt. Nur Polen und Ungarn haben ihre Unterschrift verweigert. In Warschau hatte man bereits 2022 damit begonnen, keine Lieferungen mehr anzunehmen oder zu bezahlen. Laut Financial Times soll Polens Gesundheitsminister Adam Niedzielski damals gesagt haben, dass das Abkommen zwar die Pharmaunternehmen begünstige, aber garantiert nicht die EU-Bürger.

Die übrigens können auch den geänderten Vertrag zukünftig nicht einsehen. Während die Europäische Staatsanwaltschaft noch wegen des ersten Vertrags ermittelte, erfolgten auch die Nachverhandlungen hinter verschlossenen Türen. Was die Dosen in dem neuen Vertrag also kosten werden? Die Antwort bleibt bis auf Weiteres ein gut gehütetes Geheimnis. 

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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