Europäische Union - Die EU müsste sich bei einem Ukraine-Beitritt neu erfinden

In Brüssel und in manchen westlichen Mitgliedsstaaten hat sich eine politische Kultur durchgesetzt, die man als postdemokratischen Liberalismus bezeichnen kann. Dem haben in den vergangenen Jahren einige Länder Ostmitteleuropas, allen voran Ungarn und Polen, ihre Version einer „illiberalen“ Demokratie entgegengesetzt. Eine weitere Osterweiterung der EU könnte daher bereits schwelende Konflikte eskalieren lassen. Spricht das gegen einen Beitritt der Ukraine? Nicht per se.

Wie erneuerungsfähig ist die EU? Wolodymyr Selenski spricht im EU-Parlament zu den Abgeordneten / dpa
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Ronald G. Asch hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Freiburg inne

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Anfang Mai schlug der französische Präsident Macron nach seiner Wiederwahl vor, die EU in ihrer jetzigen Form, statt sie ständig zu erweitern, um eine Konföderation von assoziierten Staaten zu ergänzen. Mit diesem Vorschlag wollte Macron vermutlich vor allem eine Aufnahme der Ukraine, wie sie jetzt weithin gefordert wird, vermeiden oder zumindest in eine sehr ferne Zukunft verschieben. In der Tat ist es richtig, dass die EU sich mit der Integration der Ukraine leicht übernehmen könnte, so wie sie sich faktisch schon mit früheren Projekten wie namentlich dem Euro übernommen hat.

Für Macron mag freilich die Überlegung hinzukommen, dass die ukrainische Landwirtschaft eine gefährliche Konkurrenz für die französischen Bauern darstellen würde. Sein Vorschlag stieß jedoch in Ostmitteleuropa sofort auf starke Ablehnung. Es ist daher sehr zweifelhaft, dass er eine Chance hat, auch nur ernsthaft diskutiert zu werden. Das ist bedauerlich, denn eine weitere Osterweiterung der EU würde diese ohne Zweifel vor enorme Probleme stellen.

Uneinigkeit bei Umgang mit sexuellen Minderheiten

Die finanziellen Kosten sind dabei noch nicht einmal ausschlaggebend. Gravierender ist der Umstand, dass auch in zentralen Fragen, in denen es etwa um politische Grundwerte geht, schon vor der Ukrainekrise sich ein zunehmender Dissens zwischen Ostmitteleuropa und den alten Kernländern der EU abzeichnete. Namentlich in Polen und Ungarn war man nicht bereit, das westlich-liberale Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu akzeptieren, von konkreten Konflikten in Fragen wie der Flüchtlingspolitik oder dem Umgang mit sexuellen Minderheiten ganz abgesehen.
 

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Ein Beitritt der Ukraine würde das Gewicht der ostmitteleuropäischen Staaten in der EU natürlich massiv verstärken. Damit wird nicht zuletzt das besonders in Deutschland populäre Projekt, den Nationalstaat als Gehäuse der Politik endgültig abzuschaffen, noch aussichtsloser als ohnehin schon. Denn die bis 1989 unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder sind der EU beigetreten, um ihre Existenz als Nationalstaaten abzusichern, nicht um ihr, wie Deutschland, zu entkommen.

Für die Ukraine würde das noch viel stärker gelten. Ein Volk, das unter so vielen Opfern für sein Überleben als freie Nation gekämpft hat, wird kaum zur Überzeugung gelangen, dass Nationalbewusstsein und Patriotismus per definitionem des Teufels sind. All das wird den Streit darüber, an welchen Werten die EU sich in Zukunft orientieren sollte, eher noch eskalieren lassen, zumal sich hier Politikentwürfe gegenüberstehen, die in sehr unterschiedlichen politischen Kulturen ihre Wurzeln haben.

Zwischen postdemokratischem Liberalismus und illiberaler Demokratie

In Brüssel selbst, aber weniger ausgeprägt auch in manchen westlichen Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene hat sich eine politische Kultur durchgesetzt, die man etwas zugespitzt als postdemokratischen Liberalismus bezeichnen kann, wie etwa jüngst der in Hongkong lehrende Politikwissenschaftler Stefan Auer in seinem gerade publiziertem Buch „European Disunion: Democracy, Sovereignty and the Politics of Emergency“ betont hat: D. h. die Rechte und Privilegien von Minderheiten werden immer besser und strikter abgesichert, aber durch demokratische Wahlen können immer weniger Richtungsentscheidungen beeinflusst werden, da das Wichtigste schon in europäischen Verordnungen mit faktischem Verfassungsrang geregelt oder von den Gerichten vorentschieden ist, wenn nicht die Entscheidungen namentlich in Not- und Krisensituationen sogar gänzlich von Institutionen wie der EZB getroffen werden, die keiner wie immer gearteten Wählerschaft gegenüber rechenschaftspflichtig sind.

Dieser Art von postdemokratischem Liberalismus, der zum Teil in Ländern wie Deutschland auch auf nationaler Ebene seine Entsprechung hat, haben in den vergangenen Jahren einige Länder Ostmitteleuropas – allen voran Ungarn und Polen – ihre Version einer „illiberalen“ Demokratie entgegengesetzt, die versucht, die Rechte der Opposition und die Wirkungsmöglichkeiten von Institutionen, die als oppositionell gelten, einzuschränken. Ein solches System gefährdet den fairen Wettbewerb zwischen den Parteien und begünstigt tendenziell auch die Korruption, daran kann kein Zweifel bestehen.

Andererseits: Wie eine ältere Tradition der Staatsrechtslehre, für die etwa der Name von Ernst Wolfgang Böckenförde steht, auch im Westen gelegentlich betont hat, lebt der „freiheitliche, säkularisierte Staat (…) von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ In Ungarn und Polen, so nochmals Stefan Auer, befürchtet man offenbar, dass diese Voraussetzungen – ein hinreichendes Maß an kultureller Homogenität und ein Minimalvorrat an gemeinsamen Werten – vollständig erodieren könnten. So weit will man es nicht kommen lassen. Das und die Methoden, die angewandt werden, um gesellschaftlichen Pluralismus einzuschränken, kann man natürlich ablehnen, aber auch die Haltung der liberalen EU-Eliten, die ihre Position als alternativlos darstellen, ist in ihrer dogmatischen Zuspitzung problematisch.

Ein stärkeres Gewicht Ostmitteleuropas

Eine weitere Osterweiterung der EU wird Konflikte über solche Fragen eskalieren lassen, zumal schon der Krieg an sich die Stellung Polens und seiner nationalistisch-konservativen Regierung in der EU deutlich gestärkt hat (für Ungarn gilt Ähnliches freilich nicht, da Orban eher mit Putin sympathisiert). Ist das ein durchschlagendes Argument gegen die Aufnahme der Ukraine in die EU in 10 oder 15 Jahren? Nein per se nicht, denn man kann in dem stärkeren Gewicht Ostmitteleuropa auch einen Gewinn sehen, da damit das oft recht übergriffige Verhalten der Eliten, die in Brüssel bislang dominieren, in seine Schranken verwiesen würde.

Sicher ist aber, dass sich die EU, wenn sie die Ukraine aufnimmt, neu erfinden müsste. Die EU würde dann in einer militärischen Konfliktzone, deren endgültige Befriedung extrem schwierig, wenn nicht unmöglich sein wird, direkt an ein Land grenzen, das auch nach einer eventuellen Niederlage seine imperialen Ambitionen so schnell nicht aufgeben wird. Zumal Russland als reiner Nationalstaat ohne diese imperiale Dimension gar nicht wirklich vorstellbar ist; es würde zerfallen.

Züge eines Imperiums

Die EU tut sich jetzt schon mit dem schwelenden Nordirlandkonflikt, in den sie durch den Brexit hineingezogen wurde, sehr schwer, wie soll sie dann mit den Nationalitätenkonflikten im Donbass fertig werden? Und müsste die EU in einer solchen Konstellation dann nicht sogar selbst Züge eines Imperiums annehmen, wie es der französische Finanzminister Le Maire wohl auch im Namen von Präsident Macron vorgeschlagen hat? Gemeint war damit wohl ein Anspruch der EU auch sicherheitspolitisch als globale Macht auftreten zu können, mit eigenen Interessen- und Einflusssphären etwa in Afrika, wo Frankreich von jeher eine solche Politik vertreten hat, aber eben auch in Osteuropa.

Allerdings haben Imperien in der Regel keine Bürger, sondern Untertanen und auch ein eindeutiges Zentrum, das der Peripherie seine Regeln auferlegen kann. Letzteres mag man sich in Paris wünschen, und das eigene Land oder bestenfalls die sechs Gründungsmitglieder der EWG als dieses Zentrum sehen, aber umsetzbar ist eine solche Vision schon in der heutigen EU kaum noch. Dazu kommt aber ein weiterer Punkt: Wenn die EU sich auf eine Dauerkonfrontation mit Russland einlässt, wird das ihre gesamte bisherige politische Kultur in Frage stellen.

In einer entpolitisierten Welt

Die Bürger der EU haben sich in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend daran gewöhnt, in einer entpolitisierten Welt zu leben, in der es keine Probleme mehr gibt, die sich nicht irgendwie durch Dialoge und endlose Gespräch lösen, oder zumindest weitgehend entschärfen lassen, auch hier muss man Stefan Auer zustimmen. Die EU verstand es meist, zentrale Interessen- und Wertkonflikte durch Kompromisse jeder Art zu relativieren und durch ihr komplexes, auf Konsens angelegtes Entscheidungssystem am Ende unkenntlich oder zumindest intransparent werden zu lassen. Es ist im Grunde genommen mit Blick auf die EU sinnlos, die Frage zu stellen, wo der eigentliche Sitz der Souveränität ist, wer in einer Krise oder im Ausnahmezustand die Letztendscheidung hat, dazu ist die Verantwortung auf zu viele Institutionen und Akteure verteilt, deren Rolle im Einzelfall oft nicht durchsichtig ist.

Damit werden Konflikte freilich stark entpolitisiert. Entscheidungen werden eher über oft intransparente Verfahren und durch den wirtschaftlichen Erfolg, für den die EU lange stand und in manchen Ländern und Bereichen immer noch steht, nicht durch klassische demokratische Mehrheitsentscheidungen legitimiert. Mit den wiederholten Krisen der letzten Jahre und erst recht mit der Ukrainekrise ist diese Form von Politik aber an ihre Grenzen gelangt. Plötzlich gilt es auch in Europa wieder klar zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, und es müssen Entscheidungen über Krieg und Frieden oder über außerordentlich schmerzhafte Sanktionen getroffen werden.

Zentralistisch gesinntes EU-Parlament

Für solche Schritte besitzen die EU-Institutionen am Ende nicht die notwendige Legitimität, sie können nur auf nationaler Ebene, wo eine postdemokratische Kultur sich noch nicht vollständig durchgesetzt hat, hinreichend legitimiert werden. Aber ist man in Brüssel bereit, das einzusehen, oder wird man geleitetet von der Kommission und unter der begeisterten Zustimmung des immer zentralistisch gesinnten EU-Parlaments die jetzige Krise eher nutzen, um den Nationalstaaten noch mehr Kompetenzen zu entziehen, wie es in den letzten 12 Jahren die Norm war?

Das wäre ein gefährlicher Schritt, denn Brüssel besitzt, wie schon betont, weder die notwendigen Legitimitätsressourcen noch die Handlungsfähigkeit, um die selbst verursachte Schwächung der Nationalstaaten zu kompensieren, wie sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt hat, auch im Kontext der permanenten Eurokrise. Wenn hier kein Wandel eintritt, und einen solchen Wandel kann man sich eben nur schwer vorstellen, dann freilich wäre die EU gut beraten, der Ukraine keine Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft zu eröffnen. Man würde nur erneut – wie auf so vielen anderen Gebieten – den zweiten Schritt vor dem Ersten tun, in der Hoffnung es würde schon irgendwie gut gehen – wie beim Euro. Und am Ende vor unlösbaren Problemen stehen.

 

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