Die EU und der Krieg in der Ukraine - Warum Klingbeil recht hat

Deutschland muss eine intelligente Führungsrolle in Europa übernehmen. Die Eskalation rund um die russische Exklave Kaliningrad wäre ein guter Moment, die neue Rolle unter Beweis zu stellen.

Eine Frau steht nach einem russischen Artillerieangriff vor ihrem zerstörten Haus in der ostukrainischen Stadt Bachmut
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Präsident Selenskij hat die Zuerkennung des Beitrittskandidatenstatus durch den Europäischen Rat am 23. Juni als historischen Moment bezeichnet und erklärt, dass nun die Zukunft seines Landes innerhalb der EU liege. Trotz aller feierlicher Erklärungen auch seitens der EU: dieser Schritt hat eher symbolische und psychologische Bedeutung. Er bedeutet nicht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen; zuvor liegt es an der Ukraine die Reife für solche Verhandlungen durch Fortschritte bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Korruptionsbekämpfung herzustellen.

Und selbst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen stellt lediglich den Beginn eines jahrelangen Prozesses dar, an dessen Ende keinesfalls gesichert ist, dass die Ukraine Mitglied der EU sein wird. Es wird sich also noch erweisen müssen, ob die Zuerkennung des Status als Beitrittskandidat tatsächlich – wie es Ratspräsident Michel formulierte – einen „entscheidenden Schritt“ für die Aufnahme der Ukraine in die EU markierte. So ist die Türkei seit 1999 Beitrittskandidat, 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen mit ihr aufgenommen; diese sind jedoch heute nach 17 Jahren eingefroren. Selbst im Falle von Polen sind 10 Jahre zwischen Stellung des Beitrittsantrags und Aufnahme in die EU 2004 vergangen.

Kein Stellvertreterkrieg für die EU

Die Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 stellen hohe politische und wirtschaftliche Anforderungen an die Ukraine und es ist noch offen, ob die Ukraine diese erfüllen wird. Aber die EU hat mit der Zuerkennung des Beitrittstaatenstatus an die Ukraine und auch an Moldau ein starkes politisches Signal gesetzt, das in Moskau aufhorchen lassen müsste. Dies gilt, selbst wenn die Ukraine mit der Entscheidung des Europäischen Rates ihr ursprüngliches Ziel nicht erreicht hat.

Präsident Selenskyj hat am 28. Februar, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs, die sofortige Mitgliedschaft seines Landes in der EU im Wege eines neuen Sonderverfahren beantragt. Seine eloquente Begründung, dass sein Land „für ganz Europa, für den Frieden, für den Frieden für alle, für alle Länder in der EU“ kämpfe und mit einer raschen Aufnahme in die EU beweisen könne, dass sie zur Ukraine stehe, haben jedoch nicht verfangen.

Ja, die Ukraine setzt sich gegen einen nicht zu rechtfertigenden Angriffskrieg Russlands zur Wehr, sie will ihre Freiheit verteidigen und verdient deshalb unsere Solidarität und Unterstützung. Gleichzeitig – auch das muss bei allem Verständnis für die moralische Empörung und den emotionalen Überschwang in der EU angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs und der Kriegsgräuel festgestellt werden - ficht die Ukraine anders als vielfach behauptet keinen Stellvertreterkrieg für die EU gegen Russland aus.

 

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EU als Kriegspartei?

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die EU-Staaten mit einer sofortigen Mitgliedschaft der Ukraine quasi automatisch auch Kriegspartei geworden wären: Der EU-Vertrag enthält in seinem Artikel 42 Abs. 7 eine militärische Beistandsklausel, die inhaltlich deutlich über diejenige des Artikels 5 des Nato-Vertrags hinausgeht. Während letztere von den Nato-Mitgliedstaaten lediglich einen als erforderlich erachteten Beistand verlangt, sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung zu leisten.

Insofern ist interessant, dass noch immer der Unterschied zwischen einer EU- und Nato-Mitgliedschaft gemacht wird. Und es überrascht, dass Präsident Putin vor einer Woche keine Einwände gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine erhoben hat; aber diese abwiegelnde Gelassenheit darf nicht zum Nennwert genommen werden. Inzwischen gibt es andere Stimmen aus Moskau, die die Zubilligung des Kandidatenstatus an die Ukraine als gegen Russland gerichteten feindlichen Akt geißeln.

Unabhängig von der Frage, ob es zum jetzigen Zeitpunkt politisch klug war, mit dem symbolischen Schritt der Zuerkennung des Kandidatenstatus Russland zu provozieren, stellt sich aber die Frage nach der Erweiterungsfähigkeit der EU. Es besteht angesichts der schwierigen Wirtschaftskrisen, die die EU zu bewältigen hatte, aufgrund des Brexit, der Corona-Pandemie, der zentrifugalen Tendenzen wie auch vor allem der Nichteinhaltung grundlegender EU-Regeln insbesondere durch Polen und Ungarn eine ausgeprägte Erweiterungsmüdigkeit. Es dürfte Konsens sein, dass eine Erweiterung nur nach massiven Reformen in Betracht kommen kann.

EU muss handlungsfähig bleiben

Dabei geht es zuvörderst darum, den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit, die auch durch das Einstimmigkeitsprinzip stark eingeschränkt ist, zu stärken. Ob diese Reformen aber in den nächsten Jahren durchführbar sein werden, daran sind nach den Erfahrungen mit den bisherigen Erweiterungen der EU erhebliche Zweifel angebracht. Das nationale Hemd ist offenbar noch immer näher als der EU-Rock. Es gibt keine Anzeichen, dass sich dies ändern könnte; im Gegenteil: es steht zu befürchten, dass sich die nationalistischen Tendenzen und damit die Gegensätze innerhalb der Union noch verschärfen könnten.

Es ist deshalb jetzt – auch unabhängig von der Frage einer ukrainischen Mitgliedschaft – notwendig, dass sich die EU-Mitgliedstaaten klar werden, wofür sie stehen und wie sie die Selbstbehauptung in einem durch Großmachtrivalitäten geprägten internationalen Umfeld gewährleisten wollen. Bevor die EU in die Handlungsunfähigkeit und in eine Art Koma abgleitet, könnte es sich als erforderlich erweisen, auf jegliche schnelle Erweiterung zu verzichten und möglicherweise auf die Herausbildung eines Kerneuropas zu setzen, das nicht nur eine engere Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Förderung der Integration vorsieht. Es könnte auch eine Institutionalisierung dieser like-minded-Gruppe mit dem Ziel der Schwächung und der Absetzung von den anderen Mitgliedstaaten der EU in Betracht kommen. Letztlich geht es um die Finalität der EU oder einer Kerngruppe in ihr.

Auf die USA ist kein Verlass mehr

Die EU kann nicht davon ausgehen, dass die USA wie in der Vergangenheit als verlässlicher Partner und Gewährleister europäischer Sicherheit zur Verfügung stehen wird. Dabei geht es nicht allein um die verstärkte Hinwendung der USA nach Asien, was auch mit der Erwartung verbunden ist, dass die Staaten Europas mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen. Auch verheißt die Aussicht, dass die Republikaner in den im November anstehenden Halbzeitwahlen in den USA wieder im Kongress zur bestimmenden Kraft werden könnten oder gar die Möglichkeit, dass 2024 Trump oder einer seiner Adepten wieder die Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte, nichts Gutes.

Der Versuch, angesichts dessen wie in der Vergangenheit auf ein Durchwursteln zu setzen und im übrigen auf bessere Zeiten zu warten, hilft nicht weiter. Vielmehr ist energische Führung auf europäischer Seite gefragt. Der SPD-Parteivorsitzende Klingbeil hat am letzten Dienstag den Anspruch Deutschlands auf eine Führungsrolle formuliert und gleichzeitig betont, dass militärische Kraft und Stärke Grundlage einer kraftvollen Friedenspolitik sind. Er ist dafür von vielen in seiner Partei überraschenderweise kritisiert worden. Dabei hat er doch nur das gesagt, was von Deutschland als einem großen, wirtschaftlich starken Land in Europa erwartet wird, was aber in den letzten Jahren von den Bundesregierungen nicht eingelöst wurde.

Statt beispielsweise gemeinsam mit Frankreich innerhalb der EU die notwendige Führung zur Verwirklichung des im Interesse der Selbstbehauptung Europas liegenden Ziels der Schaffung einer strategischen Autonomie zu übernehmen, hat Deutschland laviert. Auch in der Politik gegenüber dem Krieg in der Ukraine zeigt sich, dass Deutschland sich von der Ukraine und den mittelosteuropäischen Mitgliedern der EU vor sich hertreiben lässt und lediglich versucht, im Mittelfeld irgendwie mitzuschwimmen.

Dialog und Entspannung

Das ist letztlich das Gegenteil von Führung und auch nicht vereinbar mit unseren nationalen Interessen. Auch mit der Betonung der Rolle von militärischer Macht schließt Klingbeil lediglich an die seit 1967 geltende Doppelstrategie der Nato an, derzufolge Dialog und Entspannung nur auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit erfolgen sollen. Hier muss sich Deutschland den Vorwurf gefallen lassen, allzu lange die Bundeswehr sträflich vernachlässigt zu haben.

Jetzt wurde im Zuge der Zeitenwende ein Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. Euro beschlossen. Aber es stellt sich schon jetzt die Frage ob mit diesem „Befreiungsschlag“ die eklatanten Fähigkeits- und Ausrüstungslücken der Bundeswehr beseitigt werden können und die Grundlage für einen nachhaltigen und bedrohungskonformen deutschen Verteidigungsbeitrag gelegt werden kann. Dies ist jedoch entscheidend für die Glaubwürdigkeit und eine Führungsrolle in EU und Nato. Hier gilt es durchgreifend und konsequent nachzuarbeiten. Bisherige Tabuthemen wie die Frage einer Wiederbelebung der seit 2010 ausgesetzten Wehrpflicht dürfen dabei nicht ausgespart werden.

Führung ist gerade auch gefragt, um die Eskalationsrisiken im Verhältnis mit Russland einzudämmen. Litauen hat vor einigen Tagen eine teilweise Blockierung des Transits von russischen Waren nach Kaliningrad angekündigt. Dieser Schritt entbehrt jeglichen politischen Augenmaßes und birgt ein besonderes Risiko, verschärft er doch aufgrund der damit verbundenen, als von Russland demütigend empfundenen Provokation die Konfrontation zwischen Nato und Russland unnötig und ist damit letztlich geeignet, die Nato in einen direkten militärischen Konflikt mit Russland zu ziehen. Die von Litauen für die Teilblockade angeführte rechtliche Begründung, dass damit nur die EU-Sanktionen umgesetzt werden, überzeugt nicht.

Was geschieht hinter den Kulissen?

Ist Deutschland, das die Führung des Nato Kampfverbands in Litauen wahrnimmt, oder die EU vor Verkündung der Teilblockade konsultiert worden? Es ist schon merkwürdig, dass Deutschland sich zu der Transitfrage bisher nicht öffentlich zu Wort gemeldet hat. Es ist nur zu hoffen, dass hinter den Kulissen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Teilblockade rückgängig zu machen. Hier sollte Deutschland, sofern notwendig, ein Machtwort sprechen, stehen wir als größter Truppensteller in Litauen doch in einer besonderen Verantwortung.

Man kann immer nur wieder betonen, dass moralische Empörung, Hochmut, allein legalistische Ansätze, Symbolpolitik und verantwortungsloses Zündeln verfehlt sind. Leider lässt die EU-Politik, die wesentlich von den mittelosteuropäischen und baltischen Staaten getrieben zu sein scheint, den notwendigen realpolitischen Sinn und die Bereitschaft vermissen, den Krieg in der Ukraine von den möglichen Entwicklungen und erwartbaren Ergebnissen her zu denken.

Die Eskalationsgefahren werden ignoriert oder heruntergespielt und sind durch einen Furor überlagert, der nichts mehr mit verantwortungsvoller, auf Konfliktlösung bedachter Politik gemein hat. Angesichts der zahlreichen Opfer unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung aber auch der Folgen des Krieges gerade auch für die Dritte Welt wäre es zynisch, wenn man allein auf einen Sieg auf dem Schlachtfeld setzen würde.

So wie es jetzt aussieht, könnte sich der Krieg als verlustreicher Abnutzungskrieg etablieren und sich noch lange hinziehen. Deshalb muss es heute wie schon in den letzten Wochen gelten, diplomatisch alles zu unternehmen, um ein möglichst rasches Kriegsende zu erreichen. Und ja, dies könnte die Notwendigkeit eines von vielen im Westen so verabscheuten und kategorisch abgelehnten Interessensausgleichs einschließen.

Die Aushandlung einer diplomatischen Lösung kann nicht allein der Ukraine überlassen werden. Vielmehr sind hier vor allem die USA aber auch die Nato besonders gefordert; und Deutschland könnte die treibende Kraft hierfür im Bündnis sein. Die Bemühungen können scheitern; und vielleicht ist dies sogar wahrscheinlich; den Versuch sind sie jedoch angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, allemal wert. Ein Setzen allein und ausschließlich auf Waffenlieferungen – so sehr die Ukraine auch für seine Verteidigung darauf angewiesen ist – wäre kurzsichtig.

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