Neuinfektionen in Israel - Der Impf-Weltmeister fällt zurück

In Israel schien die Pandemie vorbei zu sein. Eine hohe Impfbereitschaft führte zuletzt sogar zum Ende der Maskenpflicht. Doch nun steigen die Infektionszahlen wieder an. Droht dem Land jetzt eine weitere Welle?

Die Maßnahmen in Israel gehen zurück, die Infektionen gehen rauf / dpa
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Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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Zehn Tage lang schien die Pandemie in Israel besiegt. Die Masken, über ein Jahr lang allgegenwärtig im öffentlichen Raum, waren gefallen, selbst in überfüllte Busse durften die Menschen wieder steigen, ohne Mund und Nase unter Stoff zu verstecken. Der kurzen Phase der Freiheit folgte am Freitag die Enttäuschung: Erneut ordnete das Gesundheitsministerium den Maskenzwang in geschlossenen Räumen an. Vielerorts auf der Welt horchte man auf: Israel galt dank seiner beispiellos effektiven Impfkampagne seit Anfang des Jahres als Musterland der Pandemiebekämpfung. Früher als in vielen anderen Ländern entließ Israel seine Bürger im Frühjahr aus dem letzten Lockdown, öffnete Cafés und Bars, Konzerthallen und Kinosäle. Manche Experten bescheinigten dem Land die weithin ersehnte Herdenimmunität.

Und nun der Rückschlag: Mehr als hundert Neuinfektionen pro Tag meldete das israelische Gesundheitsministerium zuletzt. Im Vergleich zum Januar mit teils mehr als 10.000 Fällen täglich mag diese Zahl harmlos erscheinen. Doch gegenüber den vergangenen Monaten bedeutet sie einen erheblichen Anstieg. Zuletzt bewegten sich die täglichen Fallzahlen im zweistelligen Bereich; so hoch wie jetzt waren sie zuletzt Ende April.

An Schulen gilt wieder Maskenpflicht

Ein Großteil der Neuinfizierten scheint sich mit der sogenannten Delta-Variante infiziert zu haben, die zuerst in Indien entdeckt wurde und als wesentlich ansteckender gilt als bisher bekannte Mutationen des Virus. Bei etwa der Hälfte der Infizierten handelt es sich um Minderjährige. Die ersten Ausbrüche wurden an Schulen in verschiedenen Städten gemeldet, darunter Binyamina nördlich von Tel Aviv und Modiin im Zentrum des Landes. An Schulen in beiden Städten gilt seitdem wieder Maskenpflicht, sogar in Außenbereichen.

Weitere Schritte könnten bald folgen: Ministerpräsident Naftali Bennett rief heute sein neu besetztes Coronakabinett zu Beratungen ein. Einschränkungen scheint er allerdings vermeiden zu wollen. „Unser Ansatz ist simpel“, verkündete er. „Maximaler Schutz für die Bürger Israels mit minimaler Unterbrechung der Routine und der Wirtschaft in Israel. Masken statt Einschränkungen. Impfungen statt Lockdowns.“

60 Prozent der israelischen Bürger sind vollständig geimpft, ein größerer Bevölkerungsanteil als in jedem anderen Land der Welt. Israels Gesundheitsministerium wirbt nun verstärkt für die Immunisierung von Zwölf- bis 16-Jährigen, die hierzulande seit Anfang Juni zur Impfung zugelassen sind.

Das Virus kam über den Flughafen

Dass die Delta-Variante überhaupt ins Land gekommen ist, schreiben Kritiker angeblich laxen Kontrollen am Ben-Gurion-Flughafen bei Tel Aviv zu. Offiziell müssten sich dort alle Einreisenden auf Covid-19 testen lassen. Die Firma, welche die Regierung mit der Durchführung der Tests beauftragt hat, scheint jedoch überfordert: Tausende sollen am vergangenen Wochenende ungetestet nach Hause geschickt worden sein. Als „gigantischen nationalen Schwachpunkt“ beschrieb Ministerpräsident Bennett den Flughafen. Er hat einen speziellen Covid-19-Beauftragten für den Flughafen ernannt und angeordnet, 250 zusätzliche Polizeibeamte dafür einzusetzen, die Quarantäne Wiedereinreisender aus Ländern mit hohen Infektionsraten zu kontrollieren. Außerdem sollen die Kapazitäten für Coronatests am Flughafen erheblich ausgeweitet werden.

Die Innenministerin Ayelet Shaked, ebenso wie Bennett von der rechten Yemina-Partei, will noch weitergehen: Sie fordert, all jene, die nach ihrer Wiedereinreise aus Risikostaaten ihre Quarantänepflicht verletzten, mit einem einjährigen Reiseverbot zu belegen. Schon jetzt können Quarantänebrecher zu einer Strafzahlung von 5.000 Schekel (knapp 1.300 Euro) verdonnert werden.

Auch Geimpfte haben sich infiziert

Dass dem Land eine neue Corona-Welle und womöglich ein vierter Lockdown bevorstehen könnte, glauben Experten jedoch nicht. Zwar sind etwa die Hälfte der Neuinfektionen bei Menschen aufgetreten, die sich bereits gegen das Virus haben impfen lassen. Doch diese Tatsache allein „sagt nichts aus über die Effektivität der Impfung“, meint der staatliche Coronabeauftragte Nachman Ash. „Wir prüfen nun, ob das an einer Minderung der Effektivität der Impfung nach ein paar Monaten liegt oder daran, dass die Delta-Variante stärker ist als der Impfstoff.“ Das US-Pharmaunternehmen Pfizer, dessen Impfstoff in Israel vorwiegend eingesetzt wird, verkündete am Donnerstag, sein Impfstoff sei „hocheffektiv“ gegen die Delta-Variante.

Andere weisen darauf hin, dass die Krankheit bei geimpften Personen in der Regel wesentlich milder verläuft als bei Ungeimpften. So soll es sich bei 84 Prozent derjenigen Patienten, die derzeit wegen einer Covid-19-Infektion mit schweren Symptomen im Krankenhaus behandelt werden müssen, um ungeimpfte Personen handeln.

Die Menschen sind müde

„Noch gibt es keinen Anstieg bei ernsten Fällen“, schreibt Eran Segal, Experte für Genetik und Künstliche Intelligenz vom Weizmann-Institut, der sich seit Beginn der Pandemie mit seinen Analysten von Covid-19-Statistiken einen Namen gemacht hat. Ein Szenario, in dem es „viele ernste Fälle“ geben könnte, hält er für unwahrscheinlich. „Delta ist seit zwei Monaten in Israel und hat nicht sofort zu einem Anstieg geführt“, schreibt er. Der jüngste Ausbruch könnte die Folge einiger „Superspreading-Events“ sein, ohne zu einem landesweiten, unkontrollierbaren Anstieg von Fällen zu führen. 

Sollten die zuversichtlichen Prognosen sich als falsch erweisen und die Regierung sich zu strengeren Maßnahmen gezwungen sehen, könnte sie vor einem weiteren Problem stehen: Die israelischen Bürger haben sich an die wiedererlangten Freiheiten gewöhnt – und viele wirken äußerst unwillig, sie ohne Weiteres wieder aufzugeben. Der neuerliche Maskenzwang etwa wird bisher von vielen Menschen ignoriert. 


 
 

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