Corona in Frankreich - Macron legt den Turbo ein

Im Schneckentempo gestartet, holt Frankreich seinen Impfrückstand langsam auf. Emmanuel Macron hat dabei auch die Präsidentschaftswahlen in einem Jahr im Hinterkopf. Es wirkt so, als lasse Frankreich die vielbeneideten deutschen Freunde hinter sich.

Emmanuel Macron macht mehr Tempo bei den Impfungen / dpa
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Die Bilanz der Regierung nach mehr als einem Jahr der Pandemie ist verheerend. Zu wenig Impfstoff und keine Perspektive, dass Deutschland irgendwann wieder aus dem Tiefschlaf erwacht. Täuscht der Eindruck, oder klappt das Krisenmanagement überall anders auf der Welt besser? Diese Frage haben wir unseren Korrespondenten gestellt. In einer Serie werden sie aus dem Alltag in ihrer Wahlheimat berichten. Los geht's mit Frankreich. 

So fühlt es sich also an, auserwählt zu sein. Es sticht leicht, und schon gehört man dazu. Wer über 55 ist, darf sich seit Montag gegen Covid impfen lassen. Der Schreibende rollte den Hemdsärmel gleich bei seiner Apothekerin um die Ecke hoch. Hausärzte, Veterinäre und ausgebildete Feuerwehrleute verpassen ihrerseits einen Piks – meist das Vakzin von AstraZeneca, das nur einen gewöhnlichen Kühlschrank erfordert. Nun will die Regierung sogar Krankenschwestern, Hebammen und Medizinstudenten einsetzen. Im ganzen Land gehen „Vaccinodroms“ auf, riesige Impfzentren wie etwa im Stade de France, dem nationalen Fußballtempel im Norden von Paris.

Die Langsamkeit des Emmanuel Macron 

Diese Massenabfertigung hat Präsident Emmanuel Macron den rechtsrheinischen Freunden abgeschaut. Deutschland galt diesbezüglich bisher als Referenz. Auch in Sachen Demokratie: Dank der föderalen Länderstruktur galt die Bundesrepublik als bedeutend flexibler und wieder einmal besser organisiert als die undisziplinierten Franzosen. Selbige mögen sich zwar insgeheim nach einem zupackenden Bonaparte sehnen, dessen 200.Todestag sich bald jährt. Zugleich träumen die Regionalpolitiker von den Rücksichten, zu denen Kanzlerin Angela Merkel gegenüber den Ländervorstehern gezwungen ist.

Denn Präsident Emmanuel Macron legt im Elysée-Palast wieder einmal die gleiche Allmacht – und Langsamkeit – wie der ganze französische Zentralstaat an den Tag. Heftige Kritik gab es an seinem Fehlentscheid, sein Land erst ab Ostern mit einem dritten Lockdown zu schützen. Als sich Macron noch herauszureden versuchte, sein Wissenschaftsrat habe sich getäuscht und ihm falsche Entscheidungsgrundlagen geliefert, machte er damit alles nur noch schlimmer: In Wahrheit hatten die Experten richtigerweise für April eine dramatische dritte Viruswelle vorausgesagt; Macron hatte nur nicht hören wollen.

„Wind der Kanonenkugel“

Aber jetzt krempelt Monsieur le Président ebenfalls seine Ärmel hoch. Und siehe da, sogar Frankreichs schwerfälliger Staatsapparat – in Paris gerne als „Mammut“ bezeichnet – kommt langsam auf Touren. Nach einem wochenlangen Papierkrieg sind die nötigen Zulassungen und die vorhandenen Dosen verteilt. Impftechnisch ist sogar der in Frankreich sakrosankte Sonntag abgeschafft: Sieben Tage die Woche wird nun „geimpft, geimpft, geimpft“, wie Macron versprochen hat. Am vergangenen Freitag wurde mit 510 267 geimpften Personen ein Tagesrekord aufgestellt. Die Behörden sind dem Impf-Fahrplan sogar um einige Tage voraus. 11 Prozent der 65 Millionen Franzosen haben eine erste Dosis erhalten, bald vier Millionen (6,15 Prozent) eine zweite Dosis. Damit hat Frankreich Deutschland fast eingeholt. Hier wurden zwar schon 16,9 Prozent erstgeimpft, aber eine zweite Dosis haben erst 6,2 Prozent erhalten. 

Dass langsam Bewegung in den Staatsmammut kommt, hat auch einen politischen Grund. Macron hat im Februar und März „den Wind der Kanonenkugel gespürt“, wie man auf Französisch so schön sagt. Die Franzosen waren – und sind zum Teil immer noch – aufgebracht über das Schneckentempo ihres vermeintlich so jungdynamischen Präsidenten. Das ist nicht unerheblich, weil in einem Jahr Präsidentschaftswahlen sind. Und die dürften sich unter anderem an der Covidfront entscheiden. Deshalb stellt sich Macron nun auf die Hinterbeine, und deshalb funktioniert in Frankreich plötzlich auch das zentralistische System, wie sogar die einsamen Föderalisten im Land zugeben müssen.

Leere Versprechungen? 

Doch die Partie ist noch nicht gewonnen – weder an der Impffront noch in den Wahlurnen. Frankreich steckt immer noch mit beiden Füßen im Covidmorast. Die Notfallstationen sind überlastet: Auf 5.000 Betten kommen fast 6.000 Beatmungsfälle. Einzelne Patienten müssen mit Privatjets in weniger belastete Regionen ausgeflogen werden. Dieser Tage übersteigt Frankreich die Schwelle von 100.000 Covidtoten.

Macron verspricht, dass alle erwachsenen Bürger (und Wähler) bis „zum Ende des Sommers“ geimpft sein werden. Im Versuch, die Firmen und die Schulen – derzeit sind gerade Frühlingsferien – offenzuhalten, muss er aber im Gegenzug an der nächtlichen Ausgangssperre festhalten; und weiter als in einem Umkreis von zehn Kilometern dürfen sich die Franzosen nicht bewegen. Restaurants, Kinos und Läden ohne „unwesentliche“ Produkte bleiben seit Monaten geschlossen.

Eine nationale Coviddepression

Das alles drückt den Franzosen aufs Gemüt. Zumal die große Sommerpause auch nicht mehr garantiert scheint. Langsam wachsen die Zweifel, dass diese zweimonatige Zäsur gefährdet sein könnte. Das auf Ende Mai angesetzte Tennisturnier Roland-Garros muss wohl um eine Woche auf Juni verschoben werden; diverse Musikfestivals wie das Metal-„Hellfest“ oder die „Eurockéennes sind abgesagt. Zur Sicherheit buchen die Franzosen ihren Sommerurlaub im eigenen Land – doch auch diese Reservierungen scheinen nicht in Fels gemeißelt.

Zugleich mehren sich die Indizien einer nationalen Coviddepression. Die Fälle von Gewalt in der Ehe nehmen ebenso zu wie die psychiatrischen Einweisungen gerade von jungen Patienten. Nutznießer sind selbsternannte Wunderheiler und pseudospirituelle Gesundbeter: Wie die Ministerin für Bürgerfragen, Marlène Schiappa, jüngst erklärte, sind in Frankreich im Verlauf der Covidkrise rund 500 Sekten und ähnliche Gruppen aus dem Boden geschossen. Besonders besorgniserregend ist, dass Sektentum, Heil-Business und Verschwörungstheorien heute Hand in Hand gehen. Die Regierung hat deshalb eine Verstärkung der nationalen Anti-Sekten-Mission (Miviludes) angekündigt.

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