Chinas Überwachungspolitik - Pekings Vollstrecker

Die Beziehungen zwischen China und der EU sind angespannt wie selten zuvor – das hat auch der Gipfel am Montag wieder gezeigt. Der KP-Funktionär Chen Quanguo ist Architekt einer gnadenlosen Überwachungspolitik – und gehört bald zu den mächtigsten Männern Chinas.

Bald einer der mächtigsten Männer Chinas: Chen Quanguo / Marco Wagner
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Harald Maass ist Journalist und wurde für seine Arbeit im Jahr 2019 mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

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Wenn Parteisekretär Chen auf Inspektionsreise ist, lässt er manchmal mitten in einer Stadt seine Autokolonne stoppen und die Notrufnummer der Polizei anrufen. Chen Quanguo, ein schlanker Mann mit dem typischen schwarzen Scheitel hochrangiger chinesischer Kader, wartet dann in seiner Limousine und stoppt die Sekunden, bis das Polizeikommando eintrifft. Wenn die Sicherheitskräfte zu lange brauchen oder der Einsatz nicht seinen Erwartungen entspricht, zieht Chen die lokalen Kader zur Rechenschaft. „Eine Sekunde früher anzukommen, erhöht die Sicherheit der Massen um ein Stück“, sagte Chen bei einem Besuch in der Metropole Ürümqi, als die Polizei 54 Sekunden bis zum Einsatzort brauchte.

Die Botschaft hinter den unangekündigten Tests ist klar. Chen, der in den vergangenen Jahren Tausende neue Umerziehungslager und Gefängnisse in den vor allem von Minderheiten bewohnten Regionen in Westchina bauen ließ, verlangt von seinen Untergebenen die totale Kontrolle der Gesellschaft. Der 64 Jahre alte Hardliner, derzeit Parteisekretär der rohstoffreichen Wüstenregion Xinjiang, steht wie kein anderer KP-Kader für Pekings harsches Vorgehen gegen ethnische Minderheiten. Die einstigen Unruheprovinzen Xinjiang und Tibet regiert er mit einer autoritären Herrschaft, wie sie China seit Mao Zedong nicht mehr erlebt hat.

Bald einer der mächtigsten Männer Chinas

Im Ausland wird oft übersehen, dass China ein Vielvölkerstaat ist und dass die Vorherrschaft der Han-Mehrheit nicht überall unumstritten ist. Auch deshalb gilt Chen als kommender Star in der Kommunistischen Partei, die sich zunehmend nationalistisch und autoritär präsentiert. Die Staatsmedien feiern ihn als Erfinder der „Nachbarschaftspolizei Servicestationen“, einem Rastersystem aus Tausenden Hightech-Überwachungsstationen. Mit ihnen kontrolliert die Polizei alle Bereiche des Lebens – von den Apps auf dem Smartphone einer Person bis hin zur Anzahl der Kinder, die in einer Familie geboren werden, oder wie oft jemand einkauft.

Wer auffällig wird, muss damit rechnen, im Lager zu landen. In den vergangenen vier Jahren wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischenzeitlich mehr als eine Million Uiguren und Angehörige anderer Volksgruppen in Umerziehungslagern festgehalten. Laut einem Bericht des US-Kongresses ist Chen verantwortlich für die „größte Masseninhaftierung einer Minderheitenbevölkerung weltweit“. 

Kritik an Chens hartem Durchgreifen gibt es in China kaum, im Gegenteil. 2017 beförderte Partei- und Staatschef Xi Jinping, der sich als der neue starke Mann Chinas präsentiert, den im Ausland kaum bekannten Funktionär in das 25-köpfige Politbüro der KP. Es wird erwartet, dass Chen in den nächsten zwei Jahren auch in den Ständigen Ausschuss aufsteigen wird. Der Hardliner, der die meiste Zeit seiner Karriere fernab von Peking in den Provinzen des Hinterlands verbrachte, wird dann zu den sieben mächtigsten Menschen der Volksrepublik gehören. „Alles, was er macht, tut er mit extremer Geschwindigkeit, Dringlichkeit, Ressourcen und Reichweite“, sagt der deutsche Xinjiang-Experte Adrian Zenz von der Victims of Communism Memorial Foundation in Washington.

Chens Leben scheint wie eine Blackbox

Selbst für Chinas Verhältnisse, wo die Partei Lebensläufe von Top-Kadern routinemäßig zensiert, ist über Chens Leben und jahrzehntelangen Aufstieg wenig bekannt. In offiziellen Reden präsentiert er sich stets linientreu, ohne auch nur einen Millimeter von der offiziellen Sprachregelung abzuweichen. In den vier Jahrzehnten seiner Parteikarriere gebe es „keinen ehrgeizigen Slogan, Witz oder persönliche Anekdote, die ihm zuzuschreiben wäre“, berichtet die gewöhnlich gut informierte Hongkonger Zeitung South China Morning Post.

Im Gegensatz zu Staats- und Parteichef Xi und anderen sogenannten „Parteiprinzen“, die aus prominenten KP-Familien stammen, waren Chens Eltern Arbeiter in der Zentralprovinz Henan. 1977 gehörte er zu den ersten Jahrgängen, die nach der Kulturrevolution wieder eine Aufnahmeprüfung für die Universität ablegen durften. Nach Militärausbildung, Wirtschaftsstudium und einer kurzzeitigen Anstellung in einer Autofabrik wurde Chen im Alter von 33 Jahren jüngster Bezirksparteichef der Provinz Henan. Von dort kletterte er in der Partei nach oben und wurde 2010 Gouverneur der Provinz Hebei, die Peking umgibt.

Quanguo machte Tibet zum Gefängnis

Doch selbst da war Chen noch ein eher unauffälliger Parteifunktionär. Ehemalige Untergebene beschreiben ihn als einen Workaholic und „rauen und fordernden Chef“. Über sein Privatleben weiß man fast nichts. Seine Frau soll Berichten zufolge bei der Bankenaufsichtsbehörde gearbeitet und seine Tochter eine Schule in Großbritannien besucht haben.

Erst 2011, als Chen den Posten des Parteisekretärs von Tibet übernahm, begann sich sein wahrer Wert für die KP zu zeigen. In dem zuvor immer wieder von Unruhen und Selbstverbrennungen von Mönchen erschütterten Hochland führte Chen erstmals sein neuartiges Polizei-Rastersystem ein. Innerhalb kurzer Zeit wurden in Lhasa und Umgebung Hunderte Polizeistationen eingerichtet. Viele Tibeter mussten ihre Pässe abgeben; Schulen durften nur noch in chinesischer Sprache unterrichten. Wer sich dagegen auflehnte, bekam Besuch von der Sicherheitspolizei. Tibet wurde zum „größten Gefängnis der Welt“, sagt der im Exil lebende tibetische Filmemacher Dhondup Wangchen.

Ein totaler Überwachungsstaat 

Nachdem Chen sich in Tibet bewährt hatte, schickte Parteichef Xi ihn nach Xinjiang. Das vor allem von muslimischen Uiguren und anderen Minderheiten bewohnte Wüstengebiet, mehr als viermal so groß wie Deutschland, hat für Peking nicht nur wegen der dort lagernden Rohstoffe enorme strategische Bedeutung. Xinjiang ist auch ein zentraler Bestandteil von Xi Jinpings Belt and Road Initiative – einer Art neuer Seidenstraße, mit der Peking seine globale wirtschaftliche und politische Macht ausbauen will.

Chen folgte dem gleichen Regieplan wie in Tibet, nur dass er in Xinjiang noch kompromissloser vorging. Innerhalb von vier Monaten ließ er 4900 Polizeistationen bauen. Zehntausende neuer Polizisten wurden eingestellt und Hunderttausende Überwachungskameras installiert. Allein im Jahr 2017 verdoppelten sich die Ausgaben für Polizei und Sicherheit, wobei einige Bezirke mehr als 10 Prozent ihres Budgets für Sicherheit ausgaben.

Das Ergebnis ist ein digitaler Polizei- und Überwachungsstaat, der die Kontrollen und Zensur in anderen Teilen Chinas weit übertrifft. Jeder Aspekt des Lebens, von der privaten Internetnutzung bis zum Spaziergang in der Nachbarschaft, wird in Xinjiang digital überwacht. Autos müssen mit GPS-Sensoren ausgestattet sein, damit die Behörden ihre Bewegung jederzeit kontrollieren können. In jeder Stadt, jedem Dorf – selbst in kleinsten Gassen – stehen Überwachungskameras, viele mit moderner Gesichtserkennungstechnologie ausgestattet, die den öffentlichen Bereich ausleuchten. Wer tanken will, muss sich mit Ausweis und Gesichtsscan registrieren. Bei der Fahrt mit dem Bus, beim Betreten eines Gebäudes oder beim Besuch eines Restaurants werden die Menschen registriert.

Ins Lager gesteckt wegen WhatsApp

Die Daten fließen zusammen mit den Informationen aus sozialen Netzwerken, zum Einkaufsverhalten und mit persönlichen Gesundheitsinformationen in eine zentrale Plattform, die diese mithilfe künstlicher Intelligenz analysiert und automatisch Berichte an die Sicherheitspolizei schickt. Jede noch so kleine Auffälligkeit gilt als verdächtig. Bei einer verdeckten Recherchereise 2018 berichteten mir muslimische Familien von Angehörigen, die in Umerziehungslager geschickt wurden, weil sie WhatsApp benutzt, zu häufig gebetet oder einfach nur zu oft Benzin getankt hätten. 

China bestreitet die Anschuldigungen und bezeichnet die Lager als Jobtrainingszentren. Im vergangenen Jahr bekannt gewordene interne chinesische Regierungsdokumente belegen jedoch die Vorwürfe. Demnach hatte Xi Jinping persönlich den harten Kurs gegen die muslimischen Minderheiten angeordnet. Man müsse die „Organe der Diktatur“ benutzen und dürfe „absolut keine Gnade“ zeigen, forderte Xi nach Informationen der New York Times. Chen Quanguo befahl, „alle zu verhaften, die verhaftet werden müssen“.

Modell für den Rest Chinas

Der internationale Druck auf China nimmt derweil zu. Anfang Juli verhängte die US-Regierung Sanktionen gegen Chen Quanguo und drei weitere hochrangige chinesische Kader. Chen und seine Familie dürfen offiziell nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen, mögliche Vermögenswerte werden eingefroren. Doch Peking weiß, dass die Sanktionen nur Symbolpolitik sind. 

Während die Welt mit dem Coronavirus beschäftigt ist, verschärfen Chinas Behörden das Vorgehen gegen die Minderheiten. Berichten zufolge sollen uigu­rische Frauen systematisch sterilisiert und zur Abtreibung gezwungen worden sein, um das Wachstum der muslimischen Bevölkerung zu begrenzen. Tausende Männer und Frauen wurden zur Fabrikarbeit in andere Provinzen verschickt und leben dort in gefängnisähnlichen Einrichtungen. Ihre Kinder landen oft in staatlichen Waisenhäusern, wo sie indoktriniert werden, ihre Kultur und ihren Glauben aufzugeben.

Pekings Führer denken bereits in einem größeren Maßstab. „Xinjiang ist ein Testlabor für Chinas digitalen Überwachungsstaat“, sagt der Experte Zenz. Staatliche Medien loben Chens technisch hochgerüstetes Überwachungssystem als Modell für ganz China. Delegationen aus anderen Provinzen reisen nach Ürümqi, um das Polizei-Rastersystem zu studieren. Viele der Überwachungstechnologien aus Xinjiang dürften bald überall im Land zum Einsatz kommen. Chen Quanguo ist der Architekt von Chinas autoritärer Zukunft, und er wird immer mächtiger.

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

 

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