Banalisierung des Krieges - Auf in den Kampf?

Die deutsche Diskussion über den Krieg droht ihn zu trivialisieren. Dazu gehört eine merkwürdige Umkehrung der Begriffe: Bellizisten erklären uns, dass es Frieden und Sicherheit für die Ukraine nur mit Krieg geben kann.

US-Soldaten bei einer Übung in Fort Irwin / picture alliance
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Autoreninfo

Oberst a. D. Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin. Er diente unter anderem im Planungsstab des Verteidi­gungsministers, im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers sowie als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Thiele ist Herausgeber des Buches „Hybrid Warfare“ ( 2021 ). Foto: ispsw

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Eine kleine schwarze Drohne nähert sich mit einem leisen Summen. Sie stoppt, steigt höher und verschwindet in den Wolken. Andere Drohnen gleicher Bauart folgen ihr. Sie sind die Augen einer Infanteriekompanie, die sich anschickt, ein vom Gegner überfallenes Dorf zurückzuerobern. Die Aufklärungsdrohnen sind nicht allein. Am Boden und in der Luft nähern sich unbemannte Waffensysteme, darunter „Oktokopter“ mit Präzisionsmunition unterm Bauch. Roboter-Kampffahrzeuge rollen ins Bild, feuern auf feindliche Stellungen und geben den vorrückenden eigenen Truppen Deckung. Ein Bodenroboter patrouilliert entlang der feindlichen Linien und räumt mit Minenräumungsladungen Minen und Sprengfallen.

Szenen wie diese ereigneten sich vor wenigen Wochen im kalifornischen Fort Irwin, dem Nationalen Trainingszentrum der US-Landstreitkräfte. Deren Verantwortliche wollten herausfinden, wie sie Menschen und Maschinen gemeinsam auf dem Schlachtfeld einsetzen können – ein Vorgeschmack auf die Zukunft der Streitkräfte. Manche der Drohnen und auch einige der minenräumenden Bodenroboter waren bereits zum Test in der Ukraine. Kein Wunder, dass der vormalige ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj mit Verve derart neue Technologien fordert, um die prekäre Lage an der Front zu verbessern. Er weiß: Im transparenten Gefechtsraum macht Innovation den Unterschied. Sie verändert den Krieg. 

Nichts ist der deutschen Diskussion über den Krieg fremder als technologische Disruption. Sicherlich – Krieg ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in aller Munde. Wir hörten von der Zeitenwende. Diese hat die deutsche Politik, Medien, Streitkräfte und Öffentlichkeit weitgehend unbedarft getroffen. Allerdings ist die Welt nicht nur hier in Europa rauer geworden, sondern auch im Nahen Osten, in Nordafrika, in Asien und sonstwo. In diesem globalen Biotop geopolitischer Rivalität und Machtkämpfe gedeihen Autokraten, Strippenzieher der Macht, Großkriminelle, Fundamentalisten, Terroristen und nicht zuletzt auch Dampfplauderer.

 

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Eine merkwürdige Umkehrung von Begriffen und deren Inhalten hat in Deutschland um sich gegriffen. Bellizisten erklären uns, dass es Frieden und Sicherheit für die Ukraine nur mit Krieg geben kann. Immer mehr Krieg, da der bisherige Mitteleinsatz nicht zum erwünschten ukrainischen Durchbruch an der Front geführt hat. Friedensbewegte werden demgegenüber als Kriegstreiber oder Putinversteher klassifiziert, wenn sie auf Verhandlungen und Kriegsende drängen. Deutsche Diplomatie betreibt schlichtweg Arbeitsverweigerung, indem sie jeglichen Spielraum für Frieden oder zumindest Waffenstillstand schlicht wegdefiniert. Derweil verbrennen der Krieg und seine Folgen Menschen, Infrastruktur und andere wertvolle Ressourcen der Kriegsbeteiligten in großem Ausmaß. Im Kontext gestiegener Gas- und Öl-, Saatgut- und Futtermittelpreise etc. leiden zudem andere Staaten und Menschen auch in fernen Regionen der Welt – übrigens auch in Deutschland. 

Unreflektiertes Kriegsspiel mit verkommenen Streitkräften

Brandgefährlich für das Überleben nicht nur der Menschen in der Kriegsregion ist die anhaltende Trivialisierung des Krieges in deutschen politischen und medialen Zirkeln. Ein Willy Brandt, ein Helmut Schmidt, ein Hans-Dietrich Genscher und auch ein Helmut Kohl haben aus eigener leidvoller Erfahrung gewusst, dass Krieg kein Mittel der Politik sein darf. Deswegen haben sie auf eine Kombination von Abschreckung und Entspannung gesetzt. Heutige Bellizisten machen beides nicht. Sie haben die eigenen Streitkräfte verkommen lassen und tun dies weiterhin. Warum sonst sind die Waffen- und Munitionskammern der Bundeswehr weiterhin leer? Warum tritt Innovation weiterhin auf der Stelle? Sie halten zugleich Entspannung für einen unergiebigen, gar gefährlichen Ansatz. 

Und so beginnt ein kaum reflektiertes, kontinuierlich eskalierendes Kriegsspiel ohne jegliche Reset-Funktion. Leitmedien machen sich auf Waffenjagd für die Ukraine. Sie identifizieren Wunschsysteme und treiben deutsche und auch internationale Politiker vor sich her. Claqueure folgen. Deutsche Panzer sollen an die ukrainische Front – selbst solche, die wie der „Marder“ kaum noch zuverlässig fahren können. Mahnrufe zur Logistik verhallen ungehört. Wer soll welches System wo reparieren? Tausend Kilometer entfernt von der Front in der Slowakei? Woher kommen die Ersatzteile und die Munition? Nach dem gleichen Strickmuster folgt der Druck zur Lieferung des Marschflugkörpers „Taurus“. Deutschland soll dem französischen und britischen Beispiel mit der Lieferung der Scalp- bzw. Storm-Shadow-Marschflugkörper folgen. Die beiden Länder verkaufen derweil zwei Drittel ihrer Produktion nach Asien. Und nun setzt der Ruf nach Nato-Truppen für die Ukraine ein?

Keiner dieser Rufe kommt intellektuell auch nur in die Nähe eines Multi-Domänen-Krieges, der heute längst State of the Art der zeitgemäßen Kriegsführung ist. Selbst in der Ukraine! Vor 100 Jahren hat man einen Krieg noch mit Panzern gewinnen können, in jüngerer Vergangenheit auch mit Präzisions-Abstandswaffen. Heute und morgen wird Krieg in einem vernetzten Verbund von zahlreichen Domänen ausgetragen, darunter 
•    Land (Oberfläche und Untergrund); 
•    See (über und unter Wasser); 
•    Luft (niedriger Luftraum bis hin zur Stratosphäre); 
•    Weltraum (niedrige Umlaufbahnen bis hin zum äußeren Weltraum)
•    Cyberspace (Internet-plus sowie unter Einbeziehung künstlicher Intelligenz); 
•    Biosphäre (innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers). 

Streitkräfte bestehen aus vielen komplexen Elementen, die über diese Domänen verbunden sind – alte und disruptiv neue; bemannte und unbemannte; reale und virtuelle; von Menschen und autonom gesteuerte; zentralisierte und dezentralisierte. Ein durchgängiger und interoperabler Informations- und Kommunikationsverbund vom Weltraum bis zum Unterseekabel integriert Kommandobehörden und Truppenteile, Waffensysteme, Sensoren sowie Effektoren. Denn deren Daten sind das neue Öl dieses Gefechtsraums. Der Cyberspace ist die technologische Domäne, in der Streitkräfte ihre kritischen Daten und Dienste bereit halten. 

Laien suchen sich ihre „Wunderwaffen“

Da ist es absurd, wenn sich Laien – wenngleich zumeist als Experten betitelt – einzelne Elemente wie Panzer und Marschflugkörper quasi als „Wunderwaffen“ ausgucken und damit Kriege gewinnen wollen. Kunst kommt von Können. Kriegskunst erfordert Bildung, Erfahrung und Geschick bei der Planung, Führung und Durchführung von Kampfhandlungen in multiplen Domänen der Kriegsführung. Können brilliert in Strategien und Konzepten, die Ziele, Wege und Mittel klug verbinden. Nichts von dem findet sich in der deutschen Debatte. Immerhin, Verteidigungsminister Pistorius reflektiert von der Öffentlichkeit quasi unbemerkt erste Ansätze dazu in seinem Umbau der militärischen Einsatzstrukturen.

Derweil lässt Putin den ukrainischen Gegner an einer hochtransparenten Front in einem konventionellen Abnutzungskrieg unter Beimischung von Drohnen und Mitteln der elektronischen Kampfführung ohne Rücksicht auf eigene Verluste ausbluten. In der Luftverteidigung, im elektromagnetischen Spektrum und im Hyperschall sind seine Waffensysteme Weltklasse. Fachfremde machen sich darüber in den Medien lustig. Fachleute sind hinter den Kulissen eher besorgt. Putins Kriegswirtschaft sitzt die westlichen Sanktionen aus und kann die bisherigen enormen materiellen Verluste kompensieren und den unglaublichen Einsatz von Munition, Bomben, Raketen und Waffensystemen stemmen; seine Personalrekrutierung ersetzt die erschreckend hohen personellen Verluste. 

Putins hybrides Kriegsportfolio ist beachtlich

Zeitgleich nutzt Putin sein beachtliches, in den vergangenen Jahrzehnten beständig weiterentwickeltes hybrides Portfolio für seine Kriegsführung. Er will Zielstaaten und deren Gesellschaften zerrütten, ohne offen als Aggressor aufzutreten – ein Krieg in Grauzonen und über Stellvertreter. Putin wählt hierzu unorthodoxe Strategien und Ansätze, mit denen westliche Demokratien bislang nur unzureichend zurechtkommen. Er sendet uns Migranten über Weißrussland und über das Mittelmeer. Es gelingt ihm damit, Zwietracht zu säen. Er versucht über Bestechung, Erpressung und Desinformationskampagnen unsere Wahlen zu beeinflussen. Er hetzt politische Parteien und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auf. Er spioniert Streitkräfte und kritische Infrastrukturen aus, um sie zu gegebener Zeit zu bekämpfen.

Im Westen zeigt das durchaus Wirkung. Nicht nur dessen Lieferbereitschaft von Waffensystemen und Munition schwächelt in diesen Tagen. Selbst die strategische Tonspur der USA klingt bereits deutlich verhaltener als noch in den ersten beiden Kriegsjahren. Am Anfang hieß es noch: „Die Ukraine darf nicht verlieren.“ Es folgte: „Die Ukraine muss gewinnen.“ Das aktuelle Narrativ lässt aufhorchen: „Wir werden die Ukraine nicht im Stich lassen.“ Klang das nicht ähnlich beim Ende in Afghanistan?

Die Nato ist nicht gut gewappnet

Offensichtlich sind die Nato und ihre Mitgliedstaaten bislang für die Auseinandersetzung mit Russland nicht gut gewappnet – nicht militärisch, nicht in der inneren Sicherheit und im Zivilschutz und auch nicht in Gesellschaft und Medien. Einige Mitglieder würden in das Nato-Mandat kollektiver Verteidigung gerne auch die Ukraine einbeziehen und damit den bisherigen Rahmen des eigenen, strikt defensiven Selbstverständnisses sprengen. Beim Nato-Gipfel in Washington soll im Juli über eine mögliche künftige Mitgliedschaft der Ukraine im Bündnis beraten werden. 

Deutschland wird dort Farbe bekennen müssen. Der bislang naive Umgang mit Herausforderungen dieser Dimension treibt unser Land – gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit – zusehends in einen Konflikt, für den wir nicht seriös vorbereitet sind und dessen Konsequenzen wir nicht wirklich tragen wollen. Diplomatie und Deeskalation sind angesagt. Und bessere Vorkehrungen für die eigene Sicherheit.

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